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# taz.de -- Verfassungsreform in Algerien: Neue Verfassung, neue Hoffnung
> Nur ein Viertel der Wahlberechtigten in Algerien hat sich an dem Votum
> über eine neue Verfassung beteiligt. Der Protestbewegung gibt das
> Aufwind.
Bild: Einer von wenigen: Wähler in Algier
Tunis taz | Auch mit dem zweiten Versuch in nur elf Monaten ist Algeriens
Staatsführung gescheitert, sich durch einen umstrittenen Urnengang
Legitimität zu verschaffen. Mit einer Revision der Verfassung wollte das
Regime die Opposition und die Protestbewegung Hirak, die das Land seit
Februar 2019 in Atem hält und im vergangenen April zum Sturz von Abdelaziz
Bouteflika führte, ausbremsen, spalten und mit kosmetischen Reförmchen
abspeisen.
Doch Algeriens Bevölkerung hat nicht mitgespielt. Zwar verkündete die
staatlich kontrollierte Wahlbehörde ANIE am Montag, die von handverlesenen
„Experten“ entworfene neue Verfassung sei bei dem Referendum am Sonntag mit
66,8 Prozent der Stimmen angenommen worden. Nach offiziellen Angaben lag
die Wahlbeteiligung aber bei nur 23,7 Prozent und damit auf einem
historischen Tiefststand. Selbst diese Zahlen könnten geschönt sein, gelten
Urnengänge in Algerien doch als weder frei noch fair und wurden sie in den
letzten 30 Jahren doch systematisch manipuliert.
Die Wahllokale blieben am Sonntag auch deshalb leer, weil die Regierung im
Vorfeld weder die Wahlgesetzgebung reformiert hatte noch die Opposition
oder die Hirak-Bewegung in den Revisionsprozess der Verfassung einbezogen
hatte. Die neue Verfassung stärkt zwar dezent die Rolle des Parlaments und
begrenzt die Amtszeiten des Präsidenten auf maximal zwei Mandate, doch von
adäquater Gewaltenteilung kann keinesfalls gesprochen werden. Schließlich
darf der Staatschef wie zuvor hochrangige Richterposten besetzen und hat
damit weiter starken Einfluss auf die Justiz.
Überraschend kam die niedrige Wahlbeteiligung deshalb nicht. Mehrere
Hirak-nahe Oppositionsparteien, zivilgesellschaftliche Organisationen und
Aktivist*innen hatten zum Boykott des Referendums aufgerufen. Statt langer
Schlangen vor den Wahllokalen gab es Proteste, von Demonstrant*innen
gestürmte Wahlbüros und bissige Satire. In mehreren Städten stellten
Protestler*innen mit Schlitzen für Wahlzettel versehene Abfalltonnen auf
und warfen ihre selbstgemalten Stimmzettel symbolisch in den Müll.
Ernsthafter ging es in der traditionell aufmüpfigen Berber*innen-Region
Kabylei östlich von Algier zu, dem Zentrum der Proteste gegen die
Abstimmung. In 63 von 67 Kommunen der Provinz Tizi Ouzou war der
Wahlprozess schon am Vormittag abgebrochen worden, nachdem Protestler*innen
Wahllokale gestürmt, Urnen entwendet und Wahlzettel auf der Straße verteilt
und angezündet hatten.
Auch in Béjaïa, Bouira, Sétif und Constantine verlief die Wahl alles andere
als ruhig. In mehreren Kommunen Ostalgeriens und der Kabylei lieferten sich
Demonstrant*innen und Sicherheitskräfte gar kurze Zusammenstöße.
## Corona spielt dem Regime in die Hände
Für die Protestbewegung ist das Referendum derweil ein Hoffnungsschimmer,
bekam sie doch durch die Boykottkampagne erstmals seit Monaten wieder
deutlich regeren Zulauf. In den kommenden Wochen darf sie nun auf neuen
Schwung hoffen. Nach Ausbruch der [1][Coronapandemie] hatte der Hirak im
März seine allwöchentlichen [2][Proteste eingestellt] und war dadurch vom
Regime massiv in die Defensive gedrängt worden.
Algeriens Staatsführung war seither deutlich repressiver gegen die Bewegung
vorgegangen und hatte mit Verhaftungen, Verurteilungen und Vorladungen
versucht, Hirak-Unterstützer*innen systematisch zu kriminalisieren und
einzuschüchtern.
Doch die Rechnung des Regimes, der Bewegung mit Repressalien und einer
kosmetischen Reform den Wind aus den Segeln zu nehmen, ging nicht auf. Auch
die vor Symbolik strotzende Entscheidung, die Abstimmung am historisch
bedeutsamen 1. November stattfinden zu lassen, zog nicht. An jenem Datum im
Jahr 1954 war der Unabhängigkeitskrieg gegen die französische
Kolonialherrschaft ausgebrochen. Algeriens Eliten haben in den Augen der
jugendlichen Bevölkerung abgewirtschaftet und 58 Jahre nach Kriegsende
keinerlei Legitimität mehr.
Der im Dezember 2019 in einem von Manipulationsvorwürfen überschatteten
Urnengang neu „gewählte“ Staatspräsident Abdelmajid Tebboune und Armeechef
Saïd Chengriha hatten im Vorfeld der Abstimmung zwar gebetsmühlenartig ein
„neues Algerien“ versprochen und versucht, die Verfassungsänderung als
Zugeständnis an die Hirak-Bewegung und die Opposition zu verkaufen. Doch
der Verlauf des Wahlgangs vom Sonntag zeigt deutlich: Das Regime muss
weitaus mehr anbieten, will es die politische Krise im Land beenden. Ohne
eine echte politische Öffnung wird Algerien nicht zur Ruhe kommen.
2 Nov 2020
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## AUTOREN
Sofian Philip Naceur
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