# taz.de -- Journalist über Protestbewegungen: „Es gelang, Regierungen zu st… | |
> Scheiterten Protestbewegungen der 10er-Jahre und wenn ja, woran? Der | |
> Frage ist Vincent Bevins in seinem Buch „If we Burn“ nachgegangen. | |
Bild: Massenproteste gegen die ägyptische Regierung 2011 auf dem Tahrirplatz i… | |
taz: Herr Bevins, in Ihrem neuen Buch „If We Burn“ schreiben Sie über | |
[1][die Massenproteste], die von 2010 bis 2020 viele Teile der Welt | |
erfassten und tiefgreifenden Wandel einleiteten. Wodurch zeichneten diese | |
sich aus? | |
Vincent Bevins: Das lässt sich am besten mit dem [2][Tahrirplatz in Kairo] | |
erklären. 2011 konnte man dort viele Elemente beobachten, die ich als | |
charakteristisch für diese Dekade betrachte: Horizontal organisierte, | |
führerlose, vermeintlich spontane, digital koordinierte Massenproteste auf | |
öffentlichen Plätzen. Die meisten Organisatoren hätten nie erwartet, dass | |
der Protest tatsächlich eine Regierung aus dem Amt jagen würde. [3][Der | |
Ausbruch kam völlig überraschend] und die einzige Klammer vieler | |
Protestierender war die Opposition zum Diktator. Die Ereignisse in Ägypten | |
inspirierten Bewegungen in anderen Ländern. | |
Hing der Ausbruch von Massenprotesten rund um die Welt auch mit den neuen | |
digitalen Möglichkeiten durch das Internet zusammen? | |
In den Ländern, die ich für mein Buch analysiert habe, gelang es, | |
Regierungen zu destabilisieren und in einigen Fällen sogar zu stürzen. | |
Dafür gab es viele sich überschneidende Erklärungen. Die sozialen Medien | |
sind definitiv eine Erklärung, warum in einigen Ländern revolutionäre | |
Situationen entstanden. Es war einfach, Menschen auf die Straße zu bringen. | |
Menschen, die sich vorher nicht kannten und politisch sehr unterschiedlich | |
waren. Das kann am Anfang hilfreich sein, aber in revolutionären | |
Situationen zu Problemen führen. | |
Sie schreiben, die Resultate „waren anders als die Ziele der Bewegung“. In | |
sieben von zehn von Ihnen untersuchten Ländern habe es große Rückschritte | |
gegeben. Sie führten zu dem Gegenteil dessen, was sie anfänglich | |
einforderten. Wie ist das Scheitern zu erklären? | |
Proteste hat es schon immer gegeben. Aber meist war es so: Menschen | |
demonstrierten, und nichts passierte. Im Jahr 2003 gingen Millionen von | |
Menschen rund um die Welt gegen den Irakkrieg auf die Straße. Die Welt | |
schickte George W. Bush und seinen Verbündeten eine Nachricht, doch die | |
ignorierten sie. Ab 2010 sehen wir aber Erfolge von Protesten, zumindest | |
anfänglich. Es gelang, Regierungen zu stürzen oder zumindest stark zu | |
schwächen. Revolutionäre Situationen brachen aus, ein Machtvakuum entstand. | |
Aber diese Art der Proteste – horizontal, führerlos, wo sich die Teilnehmer | |
nicht kennen und sie in vielen Punkten nicht übereinstimmen – ist nicht | |
dafür gemacht, dieses Vakuum zu füllen. Das taten in vielen Fällen | |
Menschen, die ganz andere Vorstellungen hatten, was mit dem Land geschehen | |
sollte. | |
Viele dieser Proteste wurden von kleinen linken Gruppen organisiert, aber | |
wurden im Laufe der Zeit so groß, dass sich ihr Charakter änderte. | |
Große Teile der antiautoritären Linken rund um die Welt waren bis 2010 fest | |
davon überzeugt, dass Massenrevolten zwangsläufig Fortschritt bringen. Das | |
Volk habe ein Interesse daran, die Eliten loszuwerden, dachten sie. Auf der | |
Straße entstehe eine demokratische, progressive Linke. Was sie zu ihrem | |
Horror feststellen mussten: Das Volk ist immer eine Zusammensetzung von | |
Individuen. Und die Menschen, die bei ihren Revolten auf die Straße gingen, | |
waren ganz anders, als sie dachten. | |
Haben Sie ein Beispiel? | |
In Brasilien plante die MPL, eine Gruppe Anarchisten, sehr genau, wie man | |
so viel Druck auf der Straße aufbaut, um soziale Revolten auszulösen. Das | |
gelang ihnen auch. Doch in der Mehrheit waren es keine Linken mehr, die | |
demonstrierten. Es waren ganz unterschiedliche Menschen, darunter auch, was | |
ich als Proto-Bolsonaristen (Anhänger des rechtsextremen Ex-Präsidenten | |
Jair Bolsonaro; d. Red.) bezeichnen würde. Die neuen Teilnehmer ignorierten | |
die Regeln der Organisatoren und verdrängten die Linken von der Straße. Der | |
Charakter der Proteste veränderte sich. Den Rechten wurde klar, dass auch | |
sie Massenproteste organisieren können. | |
Der argentinische Historiker Pablo Stefanoni fragt in seinem Buch „¿La | |
rebeldía se volvió de derecha?“ (Ist die Rebellion nach rechts | |
abgedriftet?), ob die Rechte den Linken die Hegemonie auf der Straße | |
abgenommen hat. Wie sehen Sie das? | |
Die Straße kann der Linken oder der Rechten gehören, das war schon immer | |
so. Staatsstreichen in Lateinamerika sind oft Proteste vorausgegangen. Vor | |
dem von den USA geschützten Putsch 1964 in Brasilien gab es Demonstrationen | |
der Mittelschicht, ebenso 1973 in Chile. Auch in den 1930er Jahren gewann | |
die Rechte den Kampf um die Straße. Aber zwischen 1989 und 2011 glaubten | |
viele von uns der Erzählung, dass Fortschritt unausweichlich ist, wenn nur | |
genug Menschen mit guten Absichten auf die Straßen ziehen. Dazu hat auch | |
ein gewisser Techno-Optimismus beigetragen, also die Vorstellung, das | |
Internet und die sozialen Medien machten die Welt demokratischer. Ich | |
verstehe, warum so viele Menschen so dachten, ich tat das zum Teil auch. | |
Aber das Internet hat die Regeln der Politik nicht verändert. | |
Sie schreiben, die Massenproteste seien wie Explosionen gewesen und hätten | |
ein politisches Vakuum geschaffen. Das sei von verschiedenen Kräften | |
gefüllt worden. In Ägypten vom Militär, in der Ukraine von Oligarchen, in | |
der Türkei von Erdoğ an. Warum ist es progressiven Kräften nicht gelungen, | |
dieses Vakuum zu füllen. | |
Wir müssen uns anschauen, wer am besten dafür ausgestattet ist, ein | |
Machtvakuum zu füllen. In einigen Fällen sind es die nationalen Eliten, in | |
anderen Fällen internationale imperialistische Akteure. Aber es stimmt | |
nicht, dass nirgendwo progressive Kräfte das Machtvakuum füllten. In Chile | |
2019 profitierte Gabriel Boric, ehemaliger Studentenführer (und heutiger | |
Präsident Chiles; d. Red.), von den Massenprotesten. Trotz einiger | |
Differenzen stand er mehr oder weniger auf der Seite der Protestbewegung. | |
Sie zitieren in Ihrem Buch einen brasilianischen Aktivsten: „Wir hatten | |
jedes Detail geplant, bis hin zu dem Moment, an dem wir Erfolg haben | |
würden. Wir hatten absolut keinen Plan, was danach kommt.“ Welche Lehre | |
können oder sollten Linke daraus ziehen? | |
Ich hörte solche Sätze von vielen Menschen, nicht nur in Brasilien. Dafür | |
gibt es zwei Gründe: Erstens, wie ich schon sagte, glaubten viele Linke, | |
dass Massenproteste automatisch positiven Wandel bringen. Zweitens glaubten | |
viele nicht an ihren eigenen Erfolg. Die Protestbewegung in Ägypten hoffte, | |
viele Menschen auf die Straße zu bekommen, auf eine starke Reaktion gegen | |
Polizeigewalt. Aber sie waren nicht darauf vorbereitet, die Hauptstadt zu | |
übernehmen. In Brasilien wollten sie die Erhöhung der Busfahrpreise | |
rückgängig machen, aber sie rechneten nicht mit so einer massiven Explosion | |
auf der Straße. Was wir davon lernen können: Man braucht nicht unbedingt | |
einen strikten Plan, an den man sich dogmatisch halten muss. Es wird viele | |
Unberechenbarkeiten im Laufe des Prozesses geben. Man braucht aber eine | |
generelle Vorstellung davon, was man erreichen will und wie man dort | |
hinkommt. Außerdem benötigt man demokratische Organisationen, die flexibel | |
genug sind, um auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren zu können. | |
In Ihrem Buch zitieren Sie viele Aktivisten, die nach Massenprotesten dafür | |
plädieren, zu klassischeren Modellen wie Parteien zurückzukehren. Könnte | |
das eine Lösung für das Dilemma der Protestbewegungen sein? | |
Das habe ich bewusst offengelassen. Es ist ein journalistisches Buch, ich | |
habe 225 Interviews geführt. Den Antworten, die ich am meisten gehört habe, | |
gebe ich in den letzten Kapiteln mehr Gewicht. Es stimmt, viele der | |
Interviewten sagten, es brauche irgendeine Art von Organisation. Einige | |
kommen zurück zu revolutionären Parteien, andere zu Gewerkschaften, wieder | |
andere zu sozialen Bewegungen. Das hängt stark vom Fokus der einzelnen | |
Länder ab. In Brasilien ist zum Beispiel die Landlosenbewegung MST sehr | |
stark und könnte so eine Rolle erfüllen. Das hängt damit zusammen, dass sie | |
sehr flexibel ist und ihre Taktiken anpassen kann. | |
Wir erleben eine Intensivierung des Neoliberalismus, viele Konflikte und | |
Kriege. Macht die aktuelle Lage der Welt eine neue Welle von | |
Massenprotesten wahrscheinlicher? | |
Wir haben weiterhin sehr viele Gründe, um auf die Straße zu gehen. | |
Massenproteste sind eine logische Reaktion auf Ungerechtigkeit. Aber ich | |
glaube, dass Proteste alleine nicht ausreichen. | |
An Orten wie dem Gezipark in Istanbul wurden linke Utopien ausprobiert. Was | |
ist davon übrig geblieben? | |
Antiautoritäre Aufstände ermöglichen Experimente und das Austesten neuer | |
sozialer Beziehungen. Sie erlauben es uns, zu träumen, im positiven Sinne. | |
Das kann sehr inspirierend sein und Menschen für den Protest motivieren. | |
Orte wie der Gezipark sind bis heute eine Inspiration. Das könnte man als | |
das Vermächtnis dieser Proteste bezeichnen. Was ich aber in meinem Buch | |
ausdrücken will: Inspirierende, demokratische Experimente führen nicht | |
zwangsläufig zu Veränderungen. Denn es wird eine Konterrevolution geben. | |
Man muss den Menschen zeigen, wo man hin will und wie man das erreichen | |
kann. | |
25 Jan 2024 | |
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Niklas Franzen | |
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