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# taz.de -- Protestforscher über ausbleibende Demos: „Risiko, im Abwarten zu…
> Wo bleibt angesichts des Rechtsrucks der Aufstand der Anständigen? Der
> Protestforscher Dieter Rucht rät zu breiter und strategischer
> Bündnisarbeit.
Bild: Andere Zeiten: Mehr als 200.000 Menschen liefen bei der Unteilbar-Demo in…
taz: Herr Rucht, Sie sind schon sehr lange Protestforscher. Wo bleibt
angesichts [1][des AfD-Aufschwungs] und [2][von rechts dominierten Debatten
über Migration] eigentlich der zivilgesellschaftliche Aufschrei – wo bleibt
Unteilbar 2.0?
Dieter Rucht: Ich habe auch keine umfassende Patenterklärung. Die Lage ist
derzeit diffus – und es gibt kein Geheimrezept, was zu tun ist. Die
Empirie sagt, dass das Protestgeschehen erfahrungsgemäß in Wellen verläuft.
Und auch wenn es mal ein Tal gibt, heißt das nicht, dass alle progressiven
Kräfte tot sind. Auch wenn soziale Bewegungen eine Ruhe- und
Reflexionsphase haben, muss das nicht bedeuten, dass alles nur noch bergab
geht.
Aber wann geht es wieder bergauf?
Nach Phasen des Rückzugs kommen wieder stürmischere Zeiten, gewinnen
Utopien wieder an Zugkraft. Viele Leute holen gerade Luft. Es besteht
natürlich auch immer das Risiko, dass man im Abwarten versackt. Aber ich
bin nicht so skeptisch: Meine Hoffnung, aber auch meine empirisch gestützte
Erwartung ist, dass sich was an Gegenwehr und Offensive aufbaut.
Kurz vor der bayerischen Landtagswahl gab es noch ein Aufbäumen, als
[3][35.000 Menschen gegen rechts demonstrierten], doch die Wahlergebnisse
kennen wir. Und in Berlin konnten sich [4][am 3. Oktober 5.000
Verschwörungsideologen] ohne viel Gegenprotest breitmachen.
Dass es gelegentliche Ausnahmen gibt, darf man nicht vergessen. In Bayern
war Wahlkampf, was sicherlich zur Mobilisierung beigetragen hat. Aber am
Berliner Beispiel zeigt sich, dass die Rechten an vielen Fronten auf dem
Vormarsch sind. Angesichts dessen ist es bemerkenswert, dass das
[5][Bündnis Unteilbar sich in einem überaus seltenen Akt letzten Herbst
aufgelöst hat] …
… Unteilbar hatte während des bis dahin größten Umfragehochs der AfD und
nach rechten Ausschreitungen 2018 in einem breiten Bündnis Zehntausende auf
die Straße gebracht…
… Da zeigt sich, dass es im progressiven Lager derzeit keine zündende Idee,
keinen gemeinsamen Nenner oder gar eine Utopie gibt. Aber auch andere
kraftvolle progressive Protestbewegungen fehlen. Weder Fridays for Future
noch die Letzte Generation oder Extinction Rebellion schlagen durch. Die
Fridays haben ein bisschen was verändert, aber nicht genug: Was man sich
erhofft hat, findet nicht statt.
Anders als andere Protestformen setzt die [6][Letzte Generation auf
gesellschaftliche Konfrontation] auch mit der arbeitenden Klasse – kann es
sein, dass dieser schwelende gesellschaftliche Konflikt demobilisiert?
Ich sehe da keine Konfrontation speziell mit der arbeitenden Klasse,
sondern eine Beeinträchtigung von Autofahrer*innen, Flugreisenden und
anderen Gruppen. Wer von ihnen arbeitet oder nicht arbeitet, spielt keine
Rolle. Aber es gibt Hinweise darauf, dass jene Leute die Letzte Generation
besonders scharf verurteilen, die sich selbst als „Normalbürger“ verstehen
und an ihren Routinen festhalten wollen.
Wo hingegen derzeit viel Bewegung ist, ist bei den Rechten: AfD-Politiker
können vor Kraft derzeit kaum laufen, im Osten sorgen rechtsextreme Gruppen
wie die Freien Sachsen für permanentes Protestgeschehen, beides geht einher
mit viel Hass und Hetze, einem Klima wie gemacht für rechte Gewalt.
Ja, die spüren im Moment Oberwasser, fühlen sich auf dem Vormarsch und
nehmen zu Recht wahr, dass sie stärker werden. Sie berauschen sich an den
eigenen Teilerfolgen. Das Momentum ist günstig für die Rechte. Aber ich
glaube: Dieses rechte Potenzial ist bald ausgeschöpft – auch die werden an
Grenzen stoßen. Ich glaube: Das Gros der demokratischen Kräfte wird sich
aufrappeln.
Aber wann?
Das lässt sich schwer vorhersagen. Ich sehe in meinem Umfeld jedenfalls,
dass die Sorge wächst und immer mehr Leute die Bereitschaft erkennen
lassen, etwas dagegen zu unternehmen.
In [7][Nordhausen verlor die AfD] trotz großen Vorsprungs und eines blassen
Gegenkandidaten eine sicher geglaubte Stichwahl – dort hatte ein breites
Bürgerbündnis „Nordhausen zusammen“ gegen Spaltung mobilisiert. Braucht es
breitere Bündnisse?
Nordhausen lässt sich schwer verallgemeinern. Vor Ort spielen viele lokale
Faktoren eine Rolle, die nicht flächendeckend wirksam sind. Aber generell
gilt schon: Wenn Einzelne die Initiative ergreifen, zündende Ideen haben,
Stimmungen auf den Punkt bringen, dann kann man in Wartestellung
befindliche Gruppen ansprechen und als Antreiber oder auch Vermittler von
Gruppen agieren, die ansonsten nicht kooperieren.
Es gab im Gegensatz zu [8][Sonneberg, wo der erste AfD-Landrat gewählt
wurde], kein Allparteienbündnis. Hilft das?
Es ist klug, sich aus dem Hickhack der Parteien herauszuhalten. Protest
sollte sich ohne parteipolitische Etikettierung formieren, ob nun links,
grün, schwarz oder wie auch immer. Es müssten gruppenübergreifende
Initiativen im zivilgesellschaftlichen Raum gestartet werden. Da ist es
hilfreich, wenn eine solche Mobilisierung Akteure vorantreiben, die lokal
vernetzt und anerkannt sind und die örtlichen Verhältnisse kennen.
Wie würden Sie denn eigentlich diese Zivilgesellschaft definieren, auf die
es immer ankommt?
Mein Verständnis von Zivilgesellschaft bezieht sich, anders als sonst
üblich, nicht auf den Sektor jenseits von Staat, Wirtschaft und Familie,
sondern auf mehr oder weniger zivile Praktiken in all diesen Bereichen,
also auch in Gefängnissen, in Betrieben und im privaten Rahmen. Je mehr
dort ziviles Handeln, also Respekt, Toleranz, Empathie, Rücksicht auf
andere, und Ähnliches verwirklicht sind, umso entwickelter ist die
Zivilgesellschaft. Ich teile nicht die verbreite Gleichsetzung von
Zivilgesellschaft mit dem Wirken von Nichtregierungsorganisationen.
Schließlich ist auch die Mafia oder eine Schlepperbande eine
Nichtregierungsorganisation.
Jahrzehntelang standen in Städten wie Berlin vor allem Antifa-Bündnisse an
vorderster Front gegen rechte Aufmärsche. Derzeit schwächelt die linke
Bewegung, wie es scheint. Wären die Antwort darauf breitere Bündnisse unter
Einbeziehung von Gewerkschaften, Kirchen, Prominenten?
Ja, schon, aber derzeit ist nicht erkennbar, dass gerade starke Initiativen
entstehen. Die politische Großwetterlage gibt das nicht her, die
politischen Verhältnisse sind derzeit kompliziert. Man darf nicht
vergessen, dass Grüne und SPD an der Regierung beteiligt sind. Auch
deswegen agieren viele mit angezogener Handbremse – man will nicht in die
rechte Kritik und Totalablehnung der Regierung mit einstimmen, um diese
nicht zu bestätigen. Das führt dazu, dass derzeit viele in Warteposition
sind.
Aber ist das nicht eine Kapitulation vor rechter Politik? Die findet doch
schon diskursiv statt: Wenn jemand wie [9][Bundespräsident Steinmeier in
der Tagesschau stolz erzählt], dass er am Aushöhlen des Asylrechts in den
neunziger Jahren beteiligt war, und das als Positivbeispiel heranzieht und
dabei einfach die damals begangenen Morde, die rechte Gewalt und die
Baseballschlägerjahre ausblendet?
Ja. Aber das heißt noch nicht, dass alle resigniert haben. Wir befinden uns
in einer Situation des Zögerns, der Unschlüssigkeit. Es gärt etwas, was
noch keine konkrete Form gefunden hat. Prodemokratische progressive Kräfte
sehen durchaus, dass es bergab geht und etwas getan werden muss.
Was müssten die progressiven Kräfte gegen den Aufschwung der Rechten tun –
auch angesichts von drei Landtagswahlen im Osten 2024?
Es bräuchte jetzt eine strategisch angelegte Bündnisarbeit.
Organisationen, Gruppierungen und Netzwerke müssen sich zusammentun, einen
großen Ratschlag veranstalten. Aber man sollte das zunächst intern machen
und überlegen, ob und unter welchen Vorzeichen man eine breitere Kampagne
in Gang bringen kann. Es muss nicht gleich alles konkret durchdacht werden;
es braucht zunächst einen Raum der Reflexion. Aber derzeit sehe ich noch
keine Initiatoren dafür; es gibt keine kraftvollen Bemühungen. Aber es
könnte hilfreich sein, ein Zeichen zu setzen – vielleicht wie damals bei
den Lichterketten. Da waren am Ende auch Hunderttausende auf den Straßen
bei sehr geringer Vorarbeit.
Welche Vorbilder gibt es noch für diese Situation?
Die Herbstkonferenzen der Anti-Atomkraft-Bewegung waren auch immer ein Raum
für Reflexion und für strategische Überlegungen. Bündnisse schmieden
erfordert viel Organisationsarbeit. Aber es ist besser, als am Küchentisch
oder im Café zu sitzen und zu jammern.
Spielt Corona eine Rolle bei der derzeitigen Demobilisierung?
Ich würde Corona als Erklärung nicht so stark machen, auch wenn Fridays for
Future das sogar selbst als Erklärung für einen Rückgang der Mobilisierung
herangezogen haben. Die Mobilisierung war schon vorher, im Spätherbst 2019,
rückläufig. Da gab es noch kein Corona. Natürlich hatte die Pandemie einen
lähmenden Effekt, aber damit ist nicht alles zusammengebrochen. Die Leute
sind ja nach wie vor da.
29 Oct 2023
## LINKS
[1] /Jugendforscher-ueber-AfD-Erfolg/!5966378
[2] /Migrationsdebatte/!5965241
[3] /Vor-der-Landtagswahl-in-Bayern/!5960541
[4] /Rechte-Demo-am-Tag-der-Deutschen-Einheit/!5961046
[5] /GruenderInnen-ueber-Unteilbar-Aufloesung/!5879676
[6] /Einschraenkung-der-Klimabewegung/!5961251
[7] /Stichwahl-um-Oberbuergermeisteramt/!5961936
[8] /AfD-Landrat-in-Sonneberg/!5943596
[9] /Steinmeiers-Aeusserungen-zu-Migration/!5962059
## AUTOREN
Gareth Joswig
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