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# taz.de -- Fünf Monate AfD-Landrat in Thüringen: Rechter Nebel in Sonneberg
> Etwas mehr als fünf Monate ist Robert Sesselmann im Amt. Die einen
> begrüßen den ersten AfD-Landrat bundesweit, andere organisieren
> Widerstand.
Sonneberg taz | Der kleine türkische Supermarkt, ein Schokoladenladen
gegenüber, das Kopfsteinpflaster, die prächtigen Gründerzeithäuser, und
natürlich das Landratsamt mit seinen roten Ziegeln: Spaziert man vom
Sonneberger Bahnhof in Richtung Innenstadt, kommt es einem so vor, als habe
sich nichts verändert in der 23.000-Einwohner:innenstadt. Alles sieht noch
so aus wie am 26. Juni, als der AfD-Politiker Robert Sesselmann die
Landratswahlen gewann. Sesselmann ist der erste AfD-Landrat in Deutschland,
seine Wahl versetzte das ganze Land [1][in Aufruhr].
Mit einem Vorsprung von 5,6 Prozentpunkten setzte Sesselmann sich in der
Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Jürgen Köpper von der CDU durch. Was
ist seit Sesselmanns Amtsantritt im Kreistag passiert? Und wie ist die
Stimmung im Landkreis?
„Der Ton in Sonneberg ist rauer geworden“, sagt Philipp Müller,
Linken-Abgeordneter im Sonneberger Kreistag. Bürger:innen hätten weniger
Hemmungen, rechte Meinungen offen kundzutun. „Sie sagen Dinge nicht mehr
hinter vorgehaltener Hand.“ Die [2][Normalisierung rechtsextremer
Ansichten] sei nach der Wahl „unheimlich schnell“ gegangen, sagt Müller.
Nach dem Motto: Wenn ein AfD-Politiker dieses Amt ausüben darf, dann sind
auch die Positionen der AfD vertretbar.
Marcel Rocho – schwarzes Sweatshirt, Tattoos, Zigarette in der Hand –
berichtet Ähnliches. Er lebt seit 25 Jahren im Landkreis und ist Inhaber
des „Gewölbes“, einer urigen Kellerbar mit Backsteinwänden und niedrigen
Gewölben, knapp 200 Meter vom Landratsamt entfernt. „Durch den AfD-Sieg
haben die Rechtsextremen aus Sonneberg einen Fuß in die Mitte der
Gesellschaft bekommen“, sagt Rocho. „Sie sitzen jetzt mit am Tisch.“
[3][Weil der „AfD-Mist“] sagbarer geworden sei, könnten Neonazis ihre noch
extremeren Ansichten kundtun, ohne gemieden zu werden. Diese Normalität sei
„erschreckend“.
Es gebe Gaststätten, erzählt Rocho, da begrüßten sich die Stammgäste und
der Betreiber mit „Heil“. In manchen Kneipen klebten Sticker mit der
Aufschrift „Kein Bier für Linke“. Im Gewölbe hingegen klebt ein Sticker,
auf dem steht: „Björn Höcke ist ein Nazi“. „Hier ist kein Platz für
Extreme“, sagt der Barbetreiber. Er sitzt an einem Tisch in seiner
Kellerbar, neben ihm seine Bulldogge. Anfang Juli, kurz nach dem
AfD-Wahlsieg, hat die linke Punkband Feine Sahne Fischfilet hier ein
Überraschungskonzert gespielt, um jene Menschen zu unterstützen, die bei
der Landratswahl nicht für die AfD gestimmt haben.
Obwohl die Band den Ort des Konzertes erst wenige Stunden vor Beginn
bekannt gegeben hatte, kamen mehr als 1.000 Leute. „Feine Sahne Fischfilet
mussten vier kleine Konzerte hintereinander spielen, weil nicht alle
Menschen auf einmal in die Bar gepasst haben“, erzählt Rocho, der die
Veranstaltung zusammen mit Freund:innen organisiert hat.
Während des [4][Konzerts von Feine Sahne Fischfilet] sind Rocho und seine
Freund:innen auf die Idee gekommen, einen Verein zu gründen: „Make Some
Noise“, mach mal Lärm. „Wir wollen zeigen, dass Sonneberg mehr ist als
AfD“, sagt Rocho. Die 14 Vereinsmitglieder organisieren Konzerte, Lesungen,
Vorträge und Filmabende – Veranstaltungen also, bei denen Menschen
zusammenkommen und sich austauschen. „Wir wollen uns für ein buntes und
demokratisches Sonneberg starkmachen“, sagt der Barbesitzer.
Was der Verein hingegen nicht will: Stimmung gegen den AfD-Landrat machen.
Das betont Rocho mehrmals im Gespräch. „Einfach nur zu sagen ‚Nazis raus�…
war schon immer dumm. Wohin denn mit ihnen?“, fragt er. Wenn man die AfD
ignoriere und nicht mit ihren Wähler:innen spreche, dann sei „alles
verloren“. Rocho hofft, mit den Veranstaltungen auch Menschen zu erreichen,
die die AfD nur aus Protest gewählt haben. „Vielleicht sagt ja der ein oder
andere, dass es nicht clever war, die AfD zu wählen, und entscheidet sich
bei der Landtagswahl im Herbst 2024 für eine demokratische Partei.“
Ab kommendem Jahr möchten Rocho und seine Freund:innen auch politische
Bildungsarbeit betreiben. Zum einen wollen sie Jugendlichen beibringen, wie
sie geschickt auf rassistische oder diskriminierende Aussagen reagieren
können. „Wenn der Onkel beim Familienessen rechtsextremen Mist erzählt,
muss man nicht still sitzen bleiben und nicken“, sagt er. „Zum anderen
wollen wir jungen Leuten verdeutlichen, dass es wichtig ist, zur Wahl zu
gehen – und die eigene Stimme sehr wohl etwas bewirken kann.“ [5][Bei der
Stichwahl] Ende Juni lag die Wahlbeteiligung bei 59,6 Prozent, Sesselmann
hat mit einem Vorsprung von 1.572 Stimmen gewonnen – was bei rund 48.200
Wahlberechtigten nicht viele sind. „Wer nicht wählen geht, unterstützt
immer Extremismus“, sagt Rocho.
Eine Person, die im Sommer nicht zur Stichwahl gegangen ist, ist die
gebürtige Sonnebergerin Maike Schmidt, 38. „Ich wollte meine Stimme weder
dem CDU- noch dem AfD-Kandidaten geben“, sagt sie, während sie an einem
verregneten Novembertag in einer Buchhandlung in Sonneberg stöbert. Auch
ihr Mann habe im zweiten Wahlgang nicht gewählt.
„Von der CDU waren wir enttäuscht, die AfD kam nicht infrage.“ Schmidt ist
Sozialpädagogin und heißt in Wirklichkeit anders, ihren echten Namen will
sie nicht in der Zeitung lesen. Sie trägt eine schwarze Winterjacke und ein
türkisfarbenes Stirnband, ihr braunes Haar hat sie zu einem Zopf gebunden.
„Ich denke nicht, dass Robert Sesselmann Landrat geworden ist, weil hier
alle die AfD gut finden“, sagt Schmidt. „Er ist Landrat geworden, weil es
keinen attraktiven Gegenkandidaten gab.“ Gegen Sesselmann traten im ersten
Wahlgang der damalige Amtsinhaber Jürgen Köpper von der CDU an, die
parteilose SPD-Kandidatin Anja Schönheit sowie Nancy Schwalbach, gemeinsame
Kandidatin der Linken und Grünen.
„Ich habe im ersten Wahlgang eine der beiden Damen gewählt“, sagt Schmidt.
Wen, möchte sie für sich behalten. „Mir war aber von vorneherein klar, dass
die Frauen wenig Chancen haben.“ Schönheit hatte keine Erfahrungen in der
Kommunalpolitik, Schwalbach ist eine Zugezogene, die so gut wie niemand im
Landkreis kannte. Beide schieden im ersten Wahlgang aus, Sesselmann erhielt
die mit Abstand meisten Stimmen.
Die AfD hat es dieses Jahr bei mehreren Kommunalwahlen geschafft, im ersten
Wahlgang auf Platz eins zu landen, etwa bei der Oberbürgermeisterwahl im
thüringischen Nordhausen oder der Landratswahl in Dahme-Spreewald in
Brandenburg. Anders als in Sonneberg konnten sich die Gegenkandidaten dort
aber in der Stichwahl durchsetzen – [6][in Nordhausen] mit knapp 10
Prozentpunkten Vorsprung, in Dahme-Spreewald mit 30 Prozentpunkten. „In
Dahme-Spreewald und Nordhausen hat man einen AfD-Sieg [7][noch abwenden
können], hier konnte und wollte man ihn nicht abwenden“, sagt Marcel Rocho,
der Barinhaber aus Sonneberg.
[8][In Nordhausen] gab es nach dem ersten Wahlgang einen regelrechten
Aufschrei. Besorgte Bürger:innen, Künstler:innen, soziale Vereine,
Stadtratsmitglieder, der Studierendenrat der Hochschule sowie der
KZ-Gedenkstätten-Leiter Jens Christian Wagner haben kurzerhand ein
zivilgesellschaftliches Bündnis gebildet und [9][heftig gegen die AfD
mobilisiert] – mit Demos, einem offenem Brief und einem großen Stadtfest.
Auch in Dahme-Spreewald ist die Zivilgesellschaft aktiv geworden. Lokale
Unternehmen und Bildungseinrichtungen haben vor den wirtschaftlichen Folgen
eines AfD-Landrates gewarnt und alle Wahlberechtigten dazu aufgerufen,
„Extremismus und rechten Parolen eine Absage“ zu erteilen. Außerdem fand
eine Demo unter dem Motto „Kein brauner Landrat – für ein buntes LDS“
statt, zu der unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
aufgerufen hatte.
Und in Sonneberg? Blieb es ruhig. Die Kreisverbände der Linken, Grünen und
SPD haben zwar zweckmäßig den Gegenkandidaten Köpper (CDU) unterstützt,
große Protestaktionen gab es aber keine. „Wir haben uns dieses AfD-Stigma
selbst verpasst“, sagt Barbesitzer Rocho. Nun müsse man sehen, „wie man die
Außenwirkung etwas relativieren kann“. Denn: „Nicht alle Menschen in
Sonneberg sind rechtsextrem.“
Ein Gespräch mit der taz [10][lehnt Sesselmann ab]. Auf Facebook inszeniert
sich der 50 Jahre alte Rechtsanwalt als gewöhnlicher Landrat – keine Fotos
mit Höcke, keine rechtsextreme Hetze. Lieber postet er Bilder von einem
Mittelalterfest, einer Modellflugschau oder der Einweihung eines
Spielplatzes. Auf anderen Fotos sieht man, wie Sesselmann Hände schüttelt
und lokalen Vereinen Umschläge überreicht.
Beim Scrollen durch Sesselmanns Profil fällt auf, dass er sich ständig für
Einladungen zu Festen bedankt, etwa bei der Feuerwehr Piesau, der
Kirmesgesellschaft Theuern oder dem Backofenverein Mupperg. So als wolle er
demonstrieren, dass die Sonneberger:innen ihn nicht nur akzeptieren,
sondern auch mögen.
## Auf der Bühne rechts
Nur vereinzelt lässt Sesselmann auf seinem Facebook-Profil durchblicken,
dass er zur AfD gehört. Zum Beispiel dann, wenn er ein Foto mit Steffen
Kotré postet, dem rechtsradikalen Bundestagsabgeordneten aus dem
völkisch-nationalistischen Flügel der AfD, der bei der Landratswahl in
Dahme-Spreewald antrat. Oder wenn er dem AfD-Mann Jörg Prophet viel Erfolg
für die Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen wünscht. Den Namen seiner vom
Thüringer Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei
erwähnt Sesselmann in seinen Beiträgen allerdings nie.
Ganz anders als auf Facebook gibt sich der Landrat, wenn er bei
AfD-Veranstaltungen auf der Bühne steht. Am Tag der Deutschen Einheit,
wenige Tage vor der bayrischen Landtagswahl, spricht er bei einem
Wahlkampfauftritt im Mödlareuth von „Klimawahnsinn, „Gender-Gaga“ und
„Migrationsirrsinn“. Das ist in einem Facebook-Video der Sonneberger AfD zu
sehen. Steuergelder sollten Sesselmann zufolge für „unsere Leute“
eingesetzt werden, nicht für „die Flüchtlinge“. Er fordert Sach- statt
Geldleistungen für Asylsuchende, mit Bargeld würden sie „Drogenhandel“ od…
„illegale Geschäfte“ betreiben. Der Ampelregierung wirft er vor, eine
„Deindustrialisierung“ herbeizuführen.
Im Sonneberger Kreistag trete Sesselmann „weiterhin sehr bürgerlich und
gemäßigt“ auf, sagt der Linken-Abgeordnete Müller. Heidi Büttner von den
Grünen bestätigt das. Seit Sesselmann Landrat ist, habe sich aber das Klima
im Kreistag stark verändert, sagt sie. „Ich weiß bei etlichen
Kreistagsabgeordneten der Fraktionen Pro SON/FDP und CDU nicht mehr, wie
sie zur AfD stehen.“ Diese Unsicherheit sei „das Allerschwierigste“.
Von den Vorhaben, die Sesselmann im Landratswahlkampf angekündigt hat, hat
er noch keines umgesetzt – was auch daran liegt, dass er vor allem mit
bundespolitischen Themen geworben hat. Auf seinem Wahlkampfflyer forderte
Sesselmann „Friedensverhandlungen mit Russland und ein Ende der
Sanktionspolitik“, eine Energiepolitik „mit Sinn und Verstand“ sowie „e…
sofortige Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber“.
Seit Sesselmanns Amtsantritt fanden drei Kreistagssitzungen statt. Bisher
macht er größtenteils Sachpolitik – in seinen Anträgen geht es zum Beispiel
um „die Berufung eines ehrenamtlichen kommunalen Kreiswegewarts“, „die
Neubesetzung des Ausschusses für Landkreisentwicklung,
Wirtschaftsangelegenheiten und ÖPNV“ oder die „Fortschreibung des
Investitionsplanes für den Straßenpersonennahverkehr“.Große Skandale gab es
seit Sesselmanns Amtsantritt keine. „Das ist politisches Kalkül. Die AfD
will zeigen, dass sie ein kommunalpolitisches Spitzenamt besetzen kann und
alles so weiterläuft wie bisher“, sagt der Linken-Politiker Müller.
Sesselmann hat allerdings auch kaum eine andere Wahl. Will er politisch
erfolgreich sein, muss er Sacharbeit machen, sich um Radwege, Schulen und
Straßensanierungen kümmern. Natürlich könnte er auch rechtsextreme Anträge
in den Kreistag einreichen. Aber erstens hat Sesselmann dafür immer noch
seine Fraktion. Und zweitens entscheidet der Landrat nicht alleine, sondern
braucht eine Mehrheit im Kreistag, um Dinge umsetzen zu können. Diese hat
er aber nicht.
Die AfD ist mit neun Mitgliedern die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die
CDU sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils zehn Sitze, die Fraktion
Pro LK SON/FDP hat sieben, die SPD drei. Zwar hat Sesselmann auch ein
Stimmrecht, eine Mehrheit bekommt er aber trotzdem nicht zusammen. Mit
Blick auf die Thüringer Kommunalwahlen im Mai 2024 wäre es außerdem nicht
klug, würde der AfD-Landrat stark parteipolitisch handeln. Schließlich will
die AfD ihre Normalisierung vorantreiben und so ihre Anhängerschaft
ausweiten.
Im September hat Sesselmann kurz sein wahres AfD-Gesicht gezeigt. Er hat
versucht, Gelder für Sonneberger Demokratieprojekte zu streichen. Aufgrund
der freiwilligen Haushaltskonsolidierung müsse der Landkreis sparen, so
seine Argumentation. Daher wolle er den Förderantrag für das Bundesprogramm
„Demokratie leben“ nicht unterschreiben. Seit 2015 ist Sonneberg Teil des
Programms: Der Landkreis bekommt jährlich rund 250.000 Euro vom Bund, um
damit Projekte zur Demokratieförderung und Extremismusprävention zu
unterstützen. Im Gegenzug muss der Kreis 35.000 Euro Eigenmittel
aufbringen.
Im Jugendhilfeausschuss sorgte Sesselmanns Vorhaben für heftige Kritik.
Erst als die Mitglieder mit einem Sonderkreistag drohten, ruderte er zurück
und unterschrieb den Förderantrag. Ohne Zustimmung des Kreistages hätte
Sesselmann gar nicht entscheiden dürfen, dass Sonneberg aus dem
Bundesprogramm aussteigt.
„Sesselmann ging es nicht ums Sparen, sondern darum, die Demokratieprojekte
auszulöschen“, sagt Müller. „35.000 Euro sind bei einem Haushaltsvolumen
von 117 Millionen Euro nicht viel Geld.“ Sesselmann habe ein rein
ideologisches Ziel verfolgt. „Er wollte austesten, wie weit er gehen
kann“, sagt der Linken-Politiker.Heiko Voigt (parteilos) ist Bürgermeister
der Stadt Sonneberg und Mitglied der Fraktion Pro LK SON/FDP im Kreistag.
In seiner Funktion als Bürgermeister habe Voigt regelmäßig mit Sesselmann
zu tun, die Zusammenarbeit sei „sachlich, lösungsorientiert“ und laufe „…
Augenhöhe“.
Ulrich Kurtz hingegen, parteiloser Bürgermeister der Stadt Steinach im
Landkreis Sonneberg, beschreibt Sesselmann als einen „Teilzeit-Landrat, der
sich nicht entscheiden kann, was er will“. Bei manchen Veranstaltungen
betone er, dass er nicht als Landrat spreche, sondern als AfD-Politiker –
etwa bei einer Montagsdemo des extrem rechten Vereins „Sonneberg zeigt
Gesicht“ Anfang Oktober oder einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Hessen im
August. Landrat zu sein sei aber ein „24/7-Engagement“, sagt Kurtz.
Der Bürgermeister beschränkt die Zusammenarbeit mit Sesselmann auf
„notwendige dienstliche Belange“, wie etwa eine Besprechung zu einem
Straßenbauvorhaben. Zur Eröffnung der Steinacher Kirchweih, eines
Volksfests, hat Kurtz den Landrat nicht eingeladen. „Zu einem Fest der
Lebensfreude, Offenheit und Toleranz lade ich nicht den Vertreter einer
Partei ein, deren Kerngeschäft in Hass und Hetze, Rassismus, Ausgrenzung
und Spaltung besteht“, sagt Kurtz. „Meine Aufgabe als Bürgermeister ist es
schon gar nicht, solche Leute zu hofieren, ihnen eine Bühne zu bieten.“
Sesselmann erschien trotzdem zum Steinacher Volksfest – wie in einem Video
des rechtsextremen Compact-Magazins zu sehen ist. Weil Kurtz den Landrat in
seiner Rede nicht willkommen hieß, begrüßte ihn später einer seiner
Anhänger – was dem Bürgermeister zufolge „mit großem Beifall quittiert
wurde“. Im Nachgang habe Kurtz Mails von „bis dato unbekannten Personen“
erhalten, die ihn dafür stark kritisierten.
Beim Kirchweihumzug zwei Tage später, so erzählt es Kurtz, hätten sich „ein
paar AfDler“ mit Plakaten und Trillerpfeifen formiert. Außerdem habe es in
der darauf folgenden Stadtratssitzung „eine große Diskussion“ gegeben. Ein
FDP-Stadtrat habe dem Bürgermeister eine Missbilligung aussprechen wollen,
weil Kurtz die demokratische Wahl Sesselmanns nicht anerkenne. Passend dazu
hat die Steinacher FDP in ihrem Schaukasten einen Zettel aufgehängt, auf
dem steht: „Schändlich, wenn ein Bürgermeister den anwesenden Landrat
seines Kreises zur Eröffnung der Kirmes bewusst nicht begrüßt.“
## AfD deutlich selbstbewusster
Thomas Heine ist stellvertretender Kreisvorsitzender der Linken und
Abgeordneter im Sonneberger Stadtrat. Nach der Landratswahl sei die
AfD-Fraktion deutlich selbstbewusster aufgetreten, sagt Heine. In einer
Stadtratssitzung habe Roland Schliewe, der Fraktionsvorsitzende der
Sonneberger AfD, einen Lokalreporter vom Freien Wort verbal angegriffen und
ihn als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet, „den man hier nicht braucht“. Der
Reporter hatte in einem Kommentar vor den Folgen gewarnt, die ein
AfD-Wahlsieg für den Landkreis hätte. „Ein solch ausfallendes Verhalten hat
es seitens der AfD vorher nicht gegeben“, sagt Heine.
Die Frage, ob sich die rechtsextreme Szene im Landkreis nun mehr zeige,
weil sie Rückenwind durch Robert Sesselmann habe, beantwortet der
Linken-Politiker mit einem klaren Nein. „Auch vor der Wahl war die
rechtsextreme Szene hier nicht wirklich sichtbar – zumindest verglichen mit
Dessau in Sachsen-Anhalt, wo ich lange gelebt habe“, sagt Heine. Es wohnten
zwar mehrere bekannte Rechtsextreme im Landkreis, etwa der
Holocaust-Leugner Axel Schlimper. „Aber meines Wissens nach ist es nie zu
offenen und gewaltsamen Konfrontationen“ gekommen.
Ende Oktober hat jedoch eine Gruppe vermummter Personen einen Sonneberger
Kulturverein angegriffen, der sich klar gegen Rechtsextremismus
positioniert. [11][Nach Angaben des Vereins] sind Steine und Flaschen
geflogen, zwei Menschen hätten den Hitlergruß gezeigt. Fragt man Heine nach
der Stimmung im Landkreis, sagt er, dass es „einige Leute“ gebe, die
Sesselmanns Wahl als Erfolg sähen. Manche empfänden auch „eine gewisse
Genugtuung“ [12][gegenüber den Medien.]
Heine zufolge hat die Berichterstattung vor der Stichwahl dazu beigetragen,
dass viele Bürger:innen für den AfD-Politiker gestimmt haben, nach dem
Motto: „Jetzt wähle ich die AfD erst recht.“ Als Beispiel nennt Heine die
Spiegel-TV-Reportage, in der ein kräftiger Mann mit weißem Schnauzer vor
laufender Kamera sagt: „Wenn bei den Wahlen die NSDAP wieder führt, dann
komme ich wieder.“ Der Beitrag, so Heine, habe die Sonneberger:innen
extrem verärgert. „Sie haben sich diskreditiert gefühlt und gleichgesetzt
mit den Nazis, die in dem Film exemplarisch gezeigt wurden.“
## „Er ist auch nur ein Mensch“
Welche Bilanz ziehen die Bürger:innen, die man in Sonnebergs Fußgängerzone
antrifft? „Seit Sesselmann Landrat ist, hat sich hier nichts verändert“,
sagt eine Frau um die sechzig, die bei „Bratwurst Frank“ Würstchen
verkauft, einem Imbiss in der Fußgängerzone. Es ist ein kalter, verregneter
Novembertag, der Himmel ist grau; auf den mit Laubbäumen bewachsenen
Berghängen, die die Stadt umgeben, liegt dichter Nebel.
„Das Café da drüben hat zugemacht“, sagt die Bratwurstverkäuferin
frustriert und zeigt auf ein nahegelegenes Gebäude. Auch der benachbarte
Imbiss „Wunder’s Hüttla“ habe schließen müssen – „nach über hunde…
Jahren“. Der Besitzer habe aus gesundheitlichen Gründen aufgehört und
keinen Nachfolger gefunden, „weil er einen Deutschen haben wollte“. Zu
Sesselmann sagt sie: „Er ist auch nur ein Mensch.“ Dass er ein Politiker
der AfD ist, sei ihr „wurscht“.
Vor dem Bratwurstimbiss stehen drei Menschen um einen Stehtisch: ein 14
Jahre alter Junge, der Leberkäse im Brötchen isst und dazu Vita Cola
trinkt, eine 67-Jährige mit kurzen, violett gefärbten Haaren und ein 52
Jahre alter, korpulenter Mann. Während die Frau offen zugibt, Sesselmann
gewählt zu haben, möchte der Mann für sich behalten, wem er seine Stimme
gegeben hat. Der Junge, der die beiden Erwachsenen am Tisch gar nicht
kennt, sagt: „Mir war’s egal, dass Sesselmann gewonnen hat.“
Fragt man in die Runde, was im Landkreis nicht gut laufe, antwortet der
Mann, dass in Sonneberg „alles den Bach“ runtergehe, womit er auf den
Leerstand in der Innenstadt anspielt. Dann redet er über Geflüchtete. Er
fühle sich mittlerweile fremd im eigenen Land. „Egal ob Tag oder Nacht,
siehst du noch einen Deutschen auf der Straße?“, fragt er aufgebracht.
„Nö“, antworten die Frau und der Junge.
„Ich bin ja nicht ausländerfeindlich“, sagt der Mann, aber so gehe es nicht
weiter. „Als Deutscher bist du in deinem eigenen Land das fünfte Rad am
Wagen.“ Die Frau und der 14-Jährige nicken. „Wenn du als Deutscher
irgendwas brauchst, werden dir tausend Steine in den Weg gelegt. Bei
Leuten, die eine andere Hautfarbe haben und eine andere Sprache sprechen,
geht das innerhalb von einer Woche“, sagt der 52-Jährige. „Das ist
ungerecht.“ Auch bei der Wohnungssuche würden „Ausländer“ bevorzugt –
deswegen, weil die Vermieter wüssten, „dass sie das Geld vom Staat
kriegen“.
Ein Stehtisch weiter isst ein Ehepaar um die 60 zu Mittag, das Sesselmann
nicht aus Protest gewählt hat, sondern aus voller Überzeugung. [13][„Wir
wählen die AfD], seit es sie gibt“, sagt der Mann und beißt genüsslich in
eine Bockwurst. Er hat breite Schultern, scharfe Gesichtszüge und eine
Glatze. „Der Landrat macht seine Aufgaben vorbildlich“, sagt er bestimmt.
Seine Frau isst stillschweigend ihre Bratwurst.
Dann läuft ein Mann um die 40 energisch auf uns zu, der vorher ein paar
Meter abseits des Imbisses eine Bratwurst mit Senf gegessen hat. Zu seiner
grünen Jacke trägt er eine Camouflage-Hose. „Sesselmann ist nicht nur
AfD-Politiker, sondern auch Bürger dieser Stadt“, sagt er aufgebracht.
„Viele Leute hier kennen ihn als Rechtsanwalt.“
Auch ein 71 Jahre alter Mann im Rollstuhl, der die Situation mitbekommen
hat, nimmt Sesselmann in Schutz. „Er ist ein guter Mensch“, sagt der
Rentner, dessen Finger gelb vom Rauchen sind. Er erzählt, wie er im Juni
vor einem Wahlkampfstand von Sesselmann in der Sonneberger Innenstadt
stehen blieb und zu ihm sagte, dass „ein Ausländer“ ihm 30 Euro aus seiner
Tasche geklaut habe. „Wissen Sie, was Sesselmann gemacht hat?“, fragt der
Rentner. „Er hat sein Portemonnaie herausgeholt und mir 30 Euro geschenkt.“
12 Dec 2023
## LINKS
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[10] /AfD-Landrat-in-Sonneberg/!5943596
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[12] /AfD-in-den-Medien/!5932885
[13] /DIW-analysiert-AfD-Wahlprogramm/!5951094
## AUTOREN
Rieke Wiemann
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