| # taz.de -- Fünf Monate AfD-Landrat in Thüringen: Rechter Nebel in Sonneberg | |
| > Etwas mehr als fünf Monate ist Robert Sesselmann im Amt. Die einen | |
| > begrüßen den ersten AfD-Landrat bundesweit, andere organisieren | |
| > Widerstand. | |
| Sonneberg taz | Der kleine türkische Supermarkt, ein Schokoladenladen | |
| gegenüber, das Kopfsteinpflaster, die prächtigen Gründerzeithäuser, und | |
| natürlich das Landratsamt mit seinen roten Ziegeln: Spaziert man vom | |
| Sonneberger Bahnhof in Richtung Innenstadt, kommt es einem so vor, als habe | |
| sich nichts verändert in der 23.000-Einwohner:innenstadt. Alles sieht noch | |
| so aus wie am 26. Juni, als der AfD-Politiker Robert Sesselmann die | |
| Landratswahlen gewann. Sesselmann ist der erste AfD-Landrat in Deutschland, | |
| seine Wahl versetzte das ganze Land [1][in Aufruhr]. | |
| Mit einem Vorsprung von 5,6 Prozentpunkten setzte Sesselmann sich in der | |
| Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Jürgen Köpper von der CDU durch. Was | |
| ist seit Sesselmanns Amtsantritt im Kreistag passiert? Und wie ist die | |
| Stimmung im Landkreis? | |
| „Der Ton in Sonneberg ist rauer geworden“, sagt Philipp Müller, | |
| Linken-Abgeordneter im Sonneberger Kreistag. Bürger:innen hätten weniger | |
| Hemmungen, rechte Meinungen offen kundzutun. „Sie sagen Dinge nicht mehr | |
| hinter vorgehaltener Hand.“ Die [2][Normalisierung rechtsextremer | |
| Ansichten] sei nach der Wahl „unheimlich schnell“ gegangen, sagt Müller. | |
| Nach dem Motto: Wenn ein AfD-Politiker dieses Amt ausüben darf, dann sind | |
| auch die Positionen der AfD vertretbar. | |
| Marcel Rocho – schwarzes Sweatshirt, Tattoos, Zigarette in der Hand – | |
| berichtet Ähnliches. Er lebt seit 25 Jahren im Landkreis und ist Inhaber | |
| des „Gewölbes“, einer urigen Kellerbar mit Backsteinwänden und niedrigen | |
| Gewölben, knapp 200 Meter vom Landratsamt entfernt. „Durch den AfD-Sieg | |
| haben die Rechtsextremen aus Sonneberg einen Fuß in die Mitte der | |
| Gesellschaft bekommen“, sagt Rocho. „Sie sitzen jetzt mit am Tisch.“ | |
| [3][Weil der „AfD-Mist“] sagbarer geworden sei, könnten Neonazis ihre noch | |
| extremeren Ansichten kundtun, ohne gemieden zu werden. Diese Normalität sei | |
| „erschreckend“. | |
| Es gebe Gaststätten, erzählt Rocho, da begrüßten sich die Stammgäste und | |
| der Betreiber mit „Heil“. In manchen Kneipen klebten Sticker mit der | |
| Aufschrift „Kein Bier für Linke“. Im Gewölbe hingegen klebt ein Sticker, | |
| auf dem steht: „Björn Höcke ist ein Nazi“. „Hier ist kein Platz für | |
| Extreme“, sagt der Barbetreiber. Er sitzt an einem Tisch in seiner | |
| Kellerbar, neben ihm seine Bulldogge. Anfang Juli, kurz nach dem | |
| AfD-Wahlsieg, hat die linke Punkband Feine Sahne Fischfilet hier ein | |
| Überraschungskonzert gespielt, um jene Menschen zu unterstützen, die bei | |
| der Landratswahl nicht für die AfD gestimmt haben. | |
| Obwohl die Band den Ort des Konzertes erst wenige Stunden vor Beginn | |
| bekannt gegeben hatte, kamen mehr als 1.000 Leute. „Feine Sahne Fischfilet | |
| mussten vier kleine Konzerte hintereinander spielen, weil nicht alle | |
| Menschen auf einmal in die Bar gepasst haben“, erzählt Rocho, der die | |
| Veranstaltung zusammen mit Freund:innen organisiert hat. | |
| Während des [4][Konzerts von Feine Sahne Fischfilet] sind Rocho und seine | |
| Freund:innen auf die Idee gekommen, einen Verein zu gründen: „Make Some | |
| Noise“, mach mal Lärm. „Wir wollen zeigen, dass Sonneberg mehr ist als | |
| AfD“, sagt Rocho. Die 14 Vereinsmitglieder organisieren Konzerte, Lesungen, | |
| Vorträge und Filmabende – Veranstaltungen also, bei denen Menschen | |
| zusammenkommen und sich austauschen. „Wir wollen uns für ein buntes und | |
| demokratisches Sonneberg starkmachen“, sagt der Barbesitzer. | |
| Was der Verein hingegen nicht will: Stimmung gegen den AfD-Landrat machen. | |
| Das betont Rocho mehrmals im Gespräch. „Einfach nur zu sagen ‚Nazis raus�… | |
| war schon immer dumm. Wohin denn mit ihnen?“, fragt er. Wenn man die AfD | |
| ignoriere und nicht mit ihren Wähler:innen spreche, dann sei „alles | |
| verloren“. Rocho hofft, mit den Veranstaltungen auch Menschen zu erreichen, | |
| die die AfD nur aus Protest gewählt haben. „Vielleicht sagt ja der ein oder | |
| andere, dass es nicht clever war, die AfD zu wählen, und entscheidet sich | |
| bei der Landtagswahl im Herbst 2024 für eine demokratische Partei.“ | |
| Ab kommendem Jahr möchten Rocho und seine Freund:innen auch politische | |
| Bildungsarbeit betreiben. Zum einen wollen sie Jugendlichen beibringen, wie | |
| sie geschickt auf rassistische oder diskriminierende Aussagen reagieren | |
| können. „Wenn der Onkel beim Familienessen rechtsextremen Mist erzählt, | |
| muss man nicht still sitzen bleiben und nicken“, sagt er. „Zum anderen | |
| wollen wir jungen Leuten verdeutlichen, dass es wichtig ist, zur Wahl zu | |
| gehen – und die eigene Stimme sehr wohl etwas bewirken kann.“ [5][Bei der | |
| Stichwahl] Ende Juni lag die Wahlbeteiligung bei 59,6 Prozent, Sesselmann | |
| hat mit einem Vorsprung von 1.572 Stimmen gewonnen – was bei rund 48.200 | |
| Wahlberechtigten nicht viele sind. „Wer nicht wählen geht, unterstützt | |
| immer Extremismus“, sagt Rocho. | |
| Eine Person, die im Sommer nicht zur Stichwahl gegangen ist, ist die | |
| gebürtige Sonnebergerin Maike Schmidt, 38. „Ich wollte meine Stimme weder | |
| dem CDU- noch dem AfD-Kandidaten geben“, sagt sie, während sie an einem | |
| verregneten Novembertag in einer Buchhandlung in Sonneberg stöbert. Auch | |
| ihr Mann habe im zweiten Wahlgang nicht gewählt. | |
| „Von der CDU waren wir enttäuscht, die AfD kam nicht infrage.“ Schmidt ist | |
| Sozialpädagogin und heißt in Wirklichkeit anders, ihren echten Namen will | |
| sie nicht in der Zeitung lesen. Sie trägt eine schwarze Winterjacke und ein | |
| türkisfarbenes Stirnband, ihr braunes Haar hat sie zu einem Zopf gebunden. | |
| „Ich denke nicht, dass Robert Sesselmann Landrat geworden ist, weil hier | |
| alle die AfD gut finden“, sagt Schmidt. „Er ist Landrat geworden, weil es | |
| keinen attraktiven Gegenkandidaten gab.“ Gegen Sesselmann traten im ersten | |
| Wahlgang der damalige Amtsinhaber Jürgen Köpper von der CDU an, die | |
| parteilose SPD-Kandidatin Anja Schönheit sowie Nancy Schwalbach, gemeinsame | |
| Kandidatin der Linken und Grünen. | |
| „Ich habe im ersten Wahlgang eine der beiden Damen gewählt“, sagt Schmidt. | |
| Wen, möchte sie für sich behalten. „Mir war aber von vorneherein klar, dass | |
| die Frauen wenig Chancen haben.“ Schönheit hatte keine Erfahrungen in der | |
| Kommunalpolitik, Schwalbach ist eine Zugezogene, die so gut wie niemand im | |
| Landkreis kannte. Beide schieden im ersten Wahlgang aus, Sesselmann erhielt | |
| die mit Abstand meisten Stimmen. | |
| Die AfD hat es dieses Jahr bei mehreren Kommunalwahlen geschafft, im ersten | |
| Wahlgang auf Platz eins zu landen, etwa bei der Oberbürgermeisterwahl im | |
| thüringischen Nordhausen oder der Landratswahl in Dahme-Spreewald in | |
| Brandenburg. Anders als in Sonneberg konnten sich die Gegenkandidaten dort | |
| aber in der Stichwahl durchsetzen – [6][in Nordhausen] mit knapp 10 | |
| Prozentpunkten Vorsprung, in Dahme-Spreewald mit 30 Prozentpunkten. „In | |
| Dahme-Spreewald und Nordhausen hat man einen AfD-Sieg [7][noch abwenden | |
| können], hier konnte und wollte man ihn nicht abwenden“, sagt Marcel Rocho, | |
| der Barinhaber aus Sonneberg. | |
| [8][In Nordhausen] gab es nach dem ersten Wahlgang einen regelrechten | |
| Aufschrei. Besorgte Bürger:innen, Künstler:innen, soziale Vereine, | |
| Stadtratsmitglieder, der Studierendenrat der Hochschule sowie der | |
| KZ-Gedenkstätten-Leiter Jens Christian Wagner haben kurzerhand ein | |
| zivilgesellschaftliches Bündnis gebildet und [9][heftig gegen die AfD | |
| mobilisiert] – mit Demos, einem offenem Brief und einem großen Stadtfest. | |
| Auch in Dahme-Spreewald ist die Zivilgesellschaft aktiv geworden. Lokale | |
| Unternehmen und Bildungseinrichtungen haben vor den wirtschaftlichen Folgen | |
| eines AfD-Landrates gewarnt und alle Wahlberechtigten dazu aufgerufen, | |
| „Extremismus und rechten Parolen eine Absage“ zu erteilen. Außerdem fand | |
| eine Demo unter dem Motto „Kein brauner Landrat – für ein buntes LDS“ | |
| statt, zu der unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes | |
| aufgerufen hatte. | |
| Und in Sonneberg? Blieb es ruhig. Die Kreisverbände der Linken, Grünen und | |
| SPD haben zwar zweckmäßig den Gegenkandidaten Köpper (CDU) unterstützt, | |
| große Protestaktionen gab es aber keine. „Wir haben uns dieses AfD-Stigma | |
| selbst verpasst“, sagt Barbesitzer Rocho. Nun müsse man sehen, „wie man die | |
| Außenwirkung etwas relativieren kann“. Denn: „Nicht alle Menschen in | |
| Sonneberg sind rechtsextrem.“ | |
| Ein Gespräch mit der taz [10][lehnt Sesselmann ab]. Auf Facebook inszeniert | |
| sich der 50 Jahre alte Rechtsanwalt als gewöhnlicher Landrat – keine Fotos | |
| mit Höcke, keine rechtsextreme Hetze. Lieber postet er Bilder von einem | |
| Mittelalterfest, einer Modellflugschau oder der Einweihung eines | |
| Spielplatzes. Auf anderen Fotos sieht man, wie Sesselmann Hände schüttelt | |
| und lokalen Vereinen Umschläge überreicht. | |
| Beim Scrollen durch Sesselmanns Profil fällt auf, dass er sich ständig für | |
| Einladungen zu Festen bedankt, etwa bei der Feuerwehr Piesau, der | |
| Kirmesgesellschaft Theuern oder dem Backofenverein Mupperg. So als wolle er | |
| demonstrieren, dass die Sonneberger:innen ihn nicht nur akzeptieren, | |
| sondern auch mögen. | |
| ## Auf der Bühne rechts | |
| Nur vereinzelt lässt Sesselmann auf seinem Facebook-Profil durchblicken, | |
| dass er zur AfD gehört. Zum Beispiel dann, wenn er ein Foto mit Steffen | |
| Kotré postet, dem rechtsradikalen Bundestagsabgeordneten aus dem | |
| völkisch-nationalistischen Flügel der AfD, der bei der Landratswahl in | |
| Dahme-Spreewald antrat. Oder wenn er dem AfD-Mann Jörg Prophet viel Erfolg | |
| für die Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen wünscht. Den Namen seiner vom | |
| Thüringer Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei | |
| erwähnt Sesselmann in seinen Beiträgen allerdings nie. | |
| Ganz anders als auf Facebook gibt sich der Landrat, wenn er bei | |
| AfD-Veranstaltungen auf der Bühne steht. Am Tag der Deutschen Einheit, | |
| wenige Tage vor der bayrischen Landtagswahl, spricht er bei einem | |
| Wahlkampfauftritt im Mödlareuth von „Klimawahnsinn, „Gender-Gaga“ und | |
| „Migrationsirrsinn“. Das ist in einem Facebook-Video der Sonneberger AfD zu | |
| sehen. Steuergelder sollten Sesselmann zufolge für „unsere Leute“ | |
| eingesetzt werden, nicht für „die Flüchtlinge“. Er fordert Sach- statt | |
| Geldleistungen für Asylsuchende, mit Bargeld würden sie „Drogenhandel“ od… | |
| „illegale Geschäfte“ betreiben. Der Ampelregierung wirft er vor, eine | |
| „Deindustrialisierung“ herbeizuführen. | |
| Im Sonneberger Kreistag trete Sesselmann „weiterhin sehr bürgerlich und | |
| gemäßigt“ auf, sagt der Linken-Abgeordnete Müller. Heidi Büttner von den | |
| Grünen bestätigt das. Seit Sesselmann Landrat ist, habe sich aber das Klima | |
| im Kreistag stark verändert, sagt sie. „Ich weiß bei etlichen | |
| Kreistagsabgeordneten der Fraktionen Pro SON/FDP und CDU nicht mehr, wie | |
| sie zur AfD stehen.“ Diese Unsicherheit sei „das Allerschwierigste“. | |
| Von den Vorhaben, die Sesselmann im Landratswahlkampf angekündigt hat, hat | |
| er noch keines umgesetzt – was auch daran liegt, dass er vor allem mit | |
| bundespolitischen Themen geworben hat. Auf seinem Wahlkampfflyer forderte | |
| Sesselmann „Friedensverhandlungen mit Russland und ein Ende der | |
| Sanktionspolitik“, eine Energiepolitik „mit Sinn und Verstand“ sowie „e… | |
| sofortige Abschiebung krimineller und abgelehnter Asylbewerber“. | |
| Seit Sesselmanns Amtsantritt fanden drei Kreistagssitzungen statt. Bisher | |
| macht er größtenteils Sachpolitik – in seinen Anträgen geht es zum Beispiel | |
| um „die Berufung eines ehrenamtlichen kommunalen Kreiswegewarts“, „die | |
| Neubesetzung des Ausschusses für Landkreisentwicklung, | |
| Wirtschaftsangelegenheiten und ÖPNV“ oder die „Fortschreibung des | |
| Investitionsplanes für den Straßenpersonennahverkehr“.Große Skandale gab es | |
| seit Sesselmanns Amtsantritt keine. „Das ist politisches Kalkül. Die AfD | |
| will zeigen, dass sie ein kommunalpolitisches Spitzenamt besetzen kann und | |
| alles so weiterläuft wie bisher“, sagt der Linken-Politiker Müller. | |
| Sesselmann hat allerdings auch kaum eine andere Wahl. Will er politisch | |
| erfolgreich sein, muss er Sacharbeit machen, sich um Radwege, Schulen und | |
| Straßensanierungen kümmern. Natürlich könnte er auch rechtsextreme Anträge | |
| in den Kreistag einreichen. Aber erstens hat Sesselmann dafür immer noch | |
| seine Fraktion. Und zweitens entscheidet der Landrat nicht alleine, sondern | |
| braucht eine Mehrheit im Kreistag, um Dinge umsetzen zu können. Diese hat | |
| er aber nicht. | |
| Die AfD ist mit neun Mitgliedern die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die | |
| CDU sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils zehn Sitze, die Fraktion | |
| Pro LK SON/FDP hat sieben, die SPD drei. Zwar hat Sesselmann auch ein | |
| Stimmrecht, eine Mehrheit bekommt er aber trotzdem nicht zusammen. Mit | |
| Blick auf die Thüringer Kommunalwahlen im Mai 2024 wäre es außerdem nicht | |
| klug, würde der AfD-Landrat stark parteipolitisch handeln. Schließlich will | |
| die AfD ihre Normalisierung vorantreiben und so ihre Anhängerschaft | |
| ausweiten. | |
| Im September hat Sesselmann kurz sein wahres AfD-Gesicht gezeigt. Er hat | |
| versucht, Gelder für Sonneberger Demokratieprojekte zu streichen. Aufgrund | |
| der freiwilligen Haushaltskonsolidierung müsse der Landkreis sparen, so | |
| seine Argumentation. Daher wolle er den Förderantrag für das Bundesprogramm | |
| „Demokratie leben“ nicht unterschreiben. Seit 2015 ist Sonneberg Teil des | |
| Programms: Der Landkreis bekommt jährlich rund 250.000 Euro vom Bund, um | |
| damit Projekte zur Demokratieförderung und Extremismusprävention zu | |
| unterstützen. Im Gegenzug muss der Kreis 35.000 Euro Eigenmittel | |
| aufbringen. | |
| Im Jugendhilfeausschuss sorgte Sesselmanns Vorhaben für heftige Kritik. | |
| Erst als die Mitglieder mit einem Sonderkreistag drohten, ruderte er zurück | |
| und unterschrieb den Förderantrag. Ohne Zustimmung des Kreistages hätte | |
| Sesselmann gar nicht entscheiden dürfen, dass Sonneberg aus dem | |
| Bundesprogramm aussteigt. | |
| „Sesselmann ging es nicht ums Sparen, sondern darum, die Demokratieprojekte | |
| auszulöschen“, sagt Müller. „35.000 Euro sind bei einem Haushaltsvolumen | |
| von 117 Millionen Euro nicht viel Geld.“ Sesselmann habe ein rein | |
| ideologisches Ziel verfolgt. „Er wollte austesten, wie weit er gehen | |
| kann“, sagt der Linken-Politiker.Heiko Voigt (parteilos) ist Bürgermeister | |
| der Stadt Sonneberg und Mitglied der Fraktion Pro LK SON/FDP im Kreistag. | |
| In seiner Funktion als Bürgermeister habe Voigt regelmäßig mit Sesselmann | |
| zu tun, die Zusammenarbeit sei „sachlich, lösungsorientiert“ und laufe „… | |
| Augenhöhe“. | |
| Ulrich Kurtz hingegen, parteiloser Bürgermeister der Stadt Steinach im | |
| Landkreis Sonneberg, beschreibt Sesselmann als einen „Teilzeit-Landrat, der | |
| sich nicht entscheiden kann, was er will“. Bei manchen Veranstaltungen | |
| betone er, dass er nicht als Landrat spreche, sondern als AfD-Politiker – | |
| etwa bei einer Montagsdemo des extrem rechten Vereins „Sonneberg zeigt | |
| Gesicht“ Anfang Oktober oder einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Hessen im | |
| August. Landrat zu sein sei aber ein „24/7-Engagement“, sagt Kurtz. | |
| Der Bürgermeister beschränkt die Zusammenarbeit mit Sesselmann auf | |
| „notwendige dienstliche Belange“, wie etwa eine Besprechung zu einem | |
| Straßenbauvorhaben. Zur Eröffnung der Steinacher Kirchweih, eines | |
| Volksfests, hat Kurtz den Landrat nicht eingeladen. „Zu einem Fest der | |
| Lebensfreude, Offenheit und Toleranz lade ich nicht den Vertreter einer | |
| Partei ein, deren Kerngeschäft in Hass und Hetze, Rassismus, Ausgrenzung | |
| und Spaltung besteht“, sagt Kurtz. „Meine Aufgabe als Bürgermeister ist es | |
| schon gar nicht, solche Leute zu hofieren, ihnen eine Bühne zu bieten.“ | |
| Sesselmann erschien trotzdem zum Steinacher Volksfest – wie in einem Video | |
| des rechtsextremen Compact-Magazins zu sehen ist. Weil Kurtz den Landrat in | |
| seiner Rede nicht willkommen hieß, begrüßte ihn später einer seiner | |
| Anhänger – was dem Bürgermeister zufolge „mit großem Beifall quittiert | |
| wurde“. Im Nachgang habe Kurtz Mails von „bis dato unbekannten Personen“ | |
| erhalten, die ihn dafür stark kritisierten. | |
| Beim Kirchweihumzug zwei Tage später, so erzählt es Kurtz, hätten sich „ein | |
| paar AfDler“ mit Plakaten und Trillerpfeifen formiert. Außerdem habe es in | |
| der darauf folgenden Stadtratssitzung „eine große Diskussion“ gegeben. Ein | |
| FDP-Stadtrat habe dem Bürgermeister eine Missbilligung aussprechen wollen, | |
| weil Kurtz die demokratische Wahl Sesselmanns nicht anerkenne. Passend dazu | |
| hat die Steinacher FDP in ihrem Schaukasten einen Zettel aufgehängt, auf | |
| dem steht: „Schändlich, wenn ein Bürgermeister den anwesenden Landrat | |
| seines Kreises zur Eröffnung der Kirmes bewusst nicht begrüßt.“ | |
| ## AfD deutlich selbstbewusster | |
| Thomas Heine ist stellvertretender Kreisvorsitzender der Linken und | |
| Abgeordneter im Sonneberger Stadtrat. Nach der Landratswahl sei die | |
| AfD-Fraktion deutlich selbstbewusster aufgetreten, sagt Heine. In einer | |
| Stadtratssitzung habe Roland Schliewe, der Fraktionsvorsitzende der | |
| Sonneberger AfD, einen Lokalreporter vom Freien Wort verbal angegriffen und | |
| ihn als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet, „den man hier nicht braucht“. Der | |
| Reporter hatte in einem Kommentar vor den Folgen gewarnt, die ein | |
| AfD-Wahlsieg für den Landkreis hätte. „Ein solch ausfallendes Verhalten hat | |
| es seitens der AfD vorher nicht gegeben“, sagt Heine. | |
| Die Frage, ob sich die rechtsextreme Szene im Landkreis nun mehr zeige, | |
| weil sie Rückenwind durch Robert Sesselmann habe, beantwortet der | |
| Linken-Politiker mit einem klaren Nein. „Auch vor der Wahl war die | |
| rechtsextreme Szene hier nicht wirklich sichtbar – zumindest verglichen mit | |
| Dessau in Sachsen-Anhalt, wo ich lange gelebt habe“, sagt Heine. Es wohnten | |
| zwar mehrere bekannte Rechtsextreme im Landkreis, etwa der | |
| Holocaust-Leugner Axel Schlimper. „Aber meines Wissens nach ist es nie zu | |
| offenen und gewaltsamen Konfrontationen“ gekommen. | |
| Ende Oktober hat jedoch eine Gruppe vermummter Personen einen Sonneberger | |
| Kulturverein angegriffen, der sich klar gegen Rechtsextremismus | |
| positioniert. [11][Nach Angaben des Vereins] sind Steine und Flaschen | |
| geflogen, zwei Menschen hätten den Hitlergruß gezeigt. Fragt man Heine nach | |
| der Stimmung im Landkreis, sagt er, dass es „einige Leute“ gebe, die | |
| Sesselmanns Wahl als Erfolg sähen. Manche empfänden auch „eine gewisse | |
| Genugtuung“ [12][gegenüber den Medien.] | |
| Heine zufolge hat die Berichterstattung vor der Stichwahl dazu beigetragen, | |
| dass viele Bürger:innen für den AfD-Politiker gestimmt haben, nach dem | |
| Motto: „Jetzt wähle ich die AfD erst recht.“ Als Beispiel nennt Heine die | |
| Spiegel-TV-Reportage, in der ein kräftiger Mann mit weißem Schnauzer vor | |
| laufender Kamera sagt: „Wenn bei den Wahlen die NSDAP wieder führt, dann | |
| komme ich wieder.“ Der Beitrag, so Heine, habe die Sonneberger:innen | |
| extrem verärgert. „Sie haben sich diskreditiert gefühlt und gleichgesetzt | |
| mit den Nazis, die in dem Film exemplarisch gezeigt wurden.“ | |
| ## „Er ist auch nur ein Mensch“ | |
| Welche Bilanz ziehen die Bürger:innen, die man in Sonnebergs Fußgängerzone | |
| antrifft? „Seit Sesselmann Landrat ist, hat sich hier nichts verändert“, | |
| sagt eine Frau um die sechzig, die bei „Bratwurst Frank“ Würstchen | |
| verkauft, einem Imbiss in der Fußgängerzone. Es ist ein kalter, verregneter | |
| Novembertag, der Himmel ist grau; auf den mit Laubbäumen bewachsenen | |
| Berghängen, die die Stadt umgeben, liegt dichter Nebel. | |
| „Das Café da drüben hat zugemacht“, sagt die Bratwurstverkäuferin | |
| frustriert und zeigt auf ein nahegelegenes Gebäude. Auch der benachbarte | |
| Imbiss „Wunder’s Hüttla“ habe schließen müssen – „nach über hunde… | |
| Jahren“. Der Besitzer habe aus gesundheitlichen Gründen aufgehört und | |
| keinen Nachfolger gefunden, „weil er einen Deutschen haben wollte“. Zu | |
| Sesselmann sagt sie: „Er ist auch nur ein Mensch.“ Dass er ein Politiker | |
| der AfD ist, sei ihr „wurscht“. | |
| Vor dem Bratwurstimbiss stehen drei Menschen um einen Stehtisch: ein 14 | |
| Jahre alter Junge, der Leberkäse im Brötchen isst und dazu Vita Cola | |
| trinkt, eine 67-Jährige mit kurzen, violett gefärbten Haaren und ein 52 | |
| Jahre alter, korpulenter Mann. Während die Frau offen zugibt, Sesselmann | |
| gewählt zu haben, möchte der Mann für sich behalten, wem er seine Stimme | |
| gegeben hat. Der Junge, der die beiden Erwachsenen am Tisch gar nicht | |
| kennt, sagt: „Mir war’s egal, dass Sesselmann gewonnen hat.“ | |
| Fragt man in die Runde, was im Landkreis nicht gut laufe, antwortet der | |
| Mann, dass in Sonneberg „alles den Bach“ runtergehe, womit er auf den | |
| Leerstand in der Innenstadt anspielt. Dann redet er über Geflüchtete. Er | |
| fühle sich mittlerweile fremd im eigenen Land. „Egal ob Tag oder Nacht, | |
| siehst du noch einen Deutschen auf der Straße?“, fragt er aufgebracht. | |
| „Nö“, antworten die Frau und der Junge. | |
| „Ich bin ja nicht ausländerfeindlich“, sagt der Mann, aber so gehe es nicht | |
| weiter. „Als Deutscher bist du in deinem eigenen Land das fünfte Rad am | |
| Wagen.“ Die Frau und der 14-Jährige nicken. „Wenn du als Deutscher | |
| irgendwas brauchst, werden dir tausend Steine in den Weg gelegt. Bei | |
| Leuten, die eine andere Hautfarbe haben und eine andere Sprache sprechen, | |
| geht das innerhalb von einer Woche“, sagt der 52-Jährige. „Das ist | |
| ungerecht.“ Auch bei der Wohnungssuche würden „Ausländer“ bevorzugt – | |
| deswegen, weil die Vermieter wüssten, „dass sie das Geld vom Staat | |
| kriegen“. | |
| Ein Stehtisch weiter isst ein Ehepaar um die 60 zu Mittag, das Sesselmann | |
| nicht aus Protest gewählt hat, sondern aus voller Überzeugung. [13][„Wir | |
| wählen die AfD], seit es sie gibt“, sagt der Mann und beißt genüsslich in | |
| eine Bockwurst. Er hat breite Schultern, scharfe Gesichtszüge und eine | |
| Glatze. „Der Landrat macht seine Aufgaben vorbildlich“, sagt er bestimmt. | |
| Seine Frau isst stillschweigend ihre Bratwurst. | |
| Dann läuft ein Mann um die 40 energisch auf uns zu, der vorher ein paar | |
| Meter abseits des Imbisses eine Bratwurst mit Senf gegessen hat. Zu seiner | |
| grünen Jacke trägt er eine Camouflage-Hose. „Sesselmann ist nicht nur | |
| AfD-Politiker, sondern auch Bürger dieser Stadt“, sagt er aufgebracht. | |
| „Viele Leute hier kennen ihn als Rechtsanwalt.“ | |
| Auch ein 71 Jahre alter Mann im Rollstuhl, der die Situation mitbekommen | |
| hat, nimmt Sesselmann in Schutz. „Er ist ein guter Mensch“, sagt der | |
| Rentner, dessen Finger gelb vom Rauchen sind. Er erzählt, wie er im Juni | |
| vor einem Wahlkampfstand von Sesselmann in der Sonneberger Innenstadt | |
| stehen blieb und zu ihm sagte, dass „ein Ausländer“ ihm 30 Euro aus seiner | |
| Tasche geklaut habe. „Wissen Sie, was Sesselmann gemacht hat?“, fragt der | |
| Rentner. „Er hat sein Portemonnaie herausgeholt und mir 30 Euro geschenkt.“ | |
| 12 Dec 2023 | |
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| [12] /AfD-in-den-Medien/!5932885 | |
| [13] /DIW-analysiert-AfD-Wahlprogramm/!5951094 | |
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| Protestforscher Dieter Rucht rät zu breiter und strategischer | |
| Bündnisarbeit. | |
| Feine Sahne Fischfilet in Thüringen: Nimm das, Sonneberg! | |
| Was tun gegen Rechtsruck? Punkrock! Die Band Feine Sahne Fischfilet spielt | |
| ein Konzert in der AfD-Hochburg. | |
| AfD-Erfolge bei Kommunalwahlen: Besser klar abgrenzen | |
| Der erste Landrat, der erste Bürgermeister: Die Erfolge der AfD sind vor | |
| allem dort möglich, wo rechte Diskurse schon länger salonfähig sind. |