# taz.de -- Arabische Revolution der Frauen im Jemen: Kampf an zwei Fronten | |
> Aktivistinnen stoßen im Jemen auch in ihren eigenen Familien auf | |
> Widerstand. Doch ihr Wille weiterzumachen, ist ungebrochen. | |
Bild: Jemen, 2013: Während der Revolution konnten Frauen sich frei und ohne An… | |
Wenn ich heute, ein volles Jahrzehnt später, in den Spiegel schaue, sehe | |
ich das gleiche dünne Mädchen vor mir, das sich mit ihren Freundinnen vor | |
den Kameras der örtlichen TV-Sender versteckt – aus Angst, dass die | |
Familien zu Hause erfahren, dass sie auf dem ‚Platz des Wandels‘ sind, dass | |
sie Zelte errichten und den Sturz des Regimes fordern. Revolution, das | |
heißt nicht nur Gewalt und wütende Menschenmassen. | |
Revolution ist auch ein sehr persönliches Gefühl, ein Gefühl der | |
Selbstlosigkeit, der Opferbereitschaft, ein absoluter Glaube, eine | |
gefährliche Erregung. Revolution ist für mich heute eine quälende | |
Erinnerung an eine Zeit, in der das Ich auf die Seite gedrängt war, in der | |
nichts zählte außer die Sache selbst: die Sache des Vaterlandes, für das | |
wir auf die Straßen zogen, für das wir unsere Liebsten zu überzeugen | |
versuchten, dass sie sich uns anschließen, auch wenn wir sie möglicherweise | |
für immer verlieren würden. | |
Wie der Ruf des Muezzins, war mit der Selbstverbrennung des tunesischen | |
Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi im Dezember 2010 der Ruf der Revolution | |
erklungen, auf den wir in der arabischen Welt gemeinsam antworteten. Ich | |
erinnere mich genau, wie ich am Ofen saß in dem Bergdorf, in dem ich mit | |
meinen Eltern lebte, als im Radio die Nachricht kam, dass die Menschen in | |
Tunesien auf die Straßen gehen. | |
Das Schicksal wollte es, dass ich kurz darauf nach Sanaa zurückkehrte. Als | |
mich dort die Nachricht von [1][Ben Alis Flucht] erreichte, ergriff mich | |
ein Sturm der Gefühle. Ich erinnere mich, wie ich zur tunesischen Botschaft | |
zog, um meine Solidarität zu zeigen und um die erste echte Revolution zu | |
feiern, derer unsere Generation Zeuge geworden war. | |
## Jemen – ein gescheiterter Staat | |
Im Jemen begann die [2][Revolution später als in Tunesien], aber das spielt | |
keine Rolle. Die Lage war damals nicht besser als heute, auch wenn sich der | |
[3][Jemen heute in einem verheerenden Krieg] befindet. Am Horizont zeichnet | |
sich das Gespenst einer Hungersnot ab, aber schon jetzt sprechen die | |
Vereinten Nationen von der schlimmsten humanitären Krise der Welt. | |
Bilder [4][hungernder Kinder] gehen durch die sozialen Medien. 43 Prozent | |
der Bevölkerung leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag und rund 80 | |
Prozent sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter mehr als 12 | |
Millionen Kinder, von denen alle 12 Minuten eines stirbt, das unter 5 | |
Jahren alt ist. Der Jemen ist einer der gescheiterten Staaten dieser Welt. | |
Im internationalen Vergleich standen wir auch schon damals immer ganz unten | |
auf der Liste. Al-Kaida hatte Emire im Land aufgestellt und nahm Ausländer | |
ins Visier. Terroristen flohen aus den Gefängnissen, wie man es nur aus | |
Actionfilmen kennt. | |
Amerikanische Drohnen flogen über das Land und Marschflugkörper löschten | |
ganze Dörfer aus, ohne dass die Regierungsbehörden darüber ein Wort | |
verloren. Ganz im Norden lieferte sich die Huthi-Bewegung mehrere Kriege | |
mit der Regierungsarmee, aber was genau dort geschah, das wusste niemand. | |
Stammeskräfte suchten die Eskalation und verübten Bombenanschläge auf | |
Ölpipelines und Stromleitungen. Während die Städte in Dunkelheit versanken, | |
beglichen die Bürger ihre hohen Stromrechnungen. | |
Die Armee wurde wie ein Familienunternehmen geführt und ertrank in | |
Korruption. Stammesälteste und Staatsbedienstete erhielten monatliche | |
Gehälter auf imaginäre Namen. | |
Ich erinnere mich noch gut, was es hieß, eine Dienstleistung einer | |
staatlichen Institution in Anspruch zu nehmen: Bestechungsgelder, | |
schlechter Service und Respektlosigkeit. Einen Staat gab es nicht wirklich. | |
Der Staat hatte sich in eine Art großen Stamm verwandelt und mit einer | |
Stammesmentalität wurde er geführt. Es war unvermeidbar geworden, dass die | |
Leute auf die Straße gehen. Im Köcher der Jemeniten war kein anderer Pfeil | |
mehr verblieben. | |
## Freiheit als Traum aller | |
Für die Revolution war es ein Leichtes, sich von Tunis und Ägypten aus in | |
andere Orte der arabischen Welt auszubreiten. Die Rufe eines Tunesiers, der | |
allein durch die Straßen streifte, seine Arme im Licht der Laternen | |
ausbreitete und seine Freiheit verkündete, wurde zu einem Traum aller, die | |
die Bedeutung dieses verborgenen Rufs erkannt hatten. Millionen sahen die | |
mythischen Bilder junger Männer in Ägypten, die sich in stoischer Ruhe den | |
Panzern in den Weg stellten. Gemeinsam waren wir aufgewacht und wir | |
wussten, was wir taten. | |
Schnell erfasste das revolutionäre Feuer auch die Jugend im Jemen. Zur | |
ersten Sitzblockade kam es in der Stadt Taizz in der Nacht, in der [5][in | |
Ägypten Hosni Mubarak] zurücktrat. In allen großen Städten wurden ‚Plätze | |
der Freiheit‘ und ‚Plätze des Wandels‘ eingerichtet. | |
In Sanaa veranstalteten die ersten Demonstrierenden ein Sit-In vor dem | |
Universitätstor, direkt unter einem Denkmal mit der vom Propheten Mohammed | |
überlieferten Aussage „Der Glaube ist jemenitisch, die Weisheit ist | |
jemenitisch“. Es war wie eine Mahnung an die Jemeniten, die doch so stolz | |
darauf sind, besonders sanft und weichherzig zu sein und sich nicht in | |
Gewalt verwickeln zu lassen. | |
Menschliche Gefühle können alles auslöschen, was die Leute zu tun und woran | |
sie zu glauben gewöhnt sind. Für Frauen war die Straße immer der schlimmste | |
Ort gewesen. Sie waren Belästigung, ja offener Gewalt ausgesetzt, wenn sie | |
einer Ansammlung von Männern – oder nur Schuljungen – begegneten. Aber das | |
änderte sich auf den Kilometern, auf denen die Demonstrierenden die Straßen | |
besetzten. | |
Wir durchstreiften die Zeltlandschaft, demonstrierten und forderten | |
lauthals den Sturz des Regimes. Zumindest in den ersten Monaten blieben wir | |
die ganze Zeit dort und hörten nicht ein einziges obszönes Wort; | |
Belästigung gab es nicht. Es herrschte, wenn auch implizit, der Grundsatz, | |
dass wer einen Fuß auf den ‚Platz des Wandels‘ setzt, die Person zu sein | |
hat, die es für die Revolution braucht: ein Mensch mit Respekt für die | |
anderen. | |
## Frauen schreiben bis heute Geschichte | |
Die jemenitischen Frauen traten heraus aus dem Schatten und widerlegten die | |
Annahme, sie seien nichts als unterwürfige Untergebene. Die Frauen, die | |
allen möglichen Formen von Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt waren und | |
die, wie auch heute noch, in den internationalen Rankings zur | |
Geschlechtergleichheit den letzten Rang bekleideten, zeigten | |
unübertroffenen Mut. | |
Frauen haben damals Geschichte geschrieben und sie tun es heute noch. Und | |
ich spreche hier nicht nur von den Anführerinnen unter den Frauen, sondern | |
von all jenen, die zwei Kämpfe auszutragen hatten: den Kampf der Revolution | |
und den Kampf im eigenen Heim. | |
Als eine dieser Frauen kann ich sagen: Der Kampf im eigenen Heim ist | |
heftiger und intensiver. Das Haus zu verlassen, Gefahren ausgesetzt zu | |
sein, spät in der Nacht heimzukehren, von Gegnern der Revolution beschimpft | |
und beleidigt zu werden – all das war in den Augen unserer Familien nicht | |
akzeptabel. Der Kampf im eigenen Heim hatte emotionalen Druck und sogar | |
Strafen zur Folge. Aber wir kannten darauf nur eine Erwiderung. Wir sagten: | |
Die, die in der Revolution ihr Leben gelassen haben, sind für uns und für | |
euch gestorben. Wir müssen dasselbe tun. | |
Heute gibt es etliche Konfliktparteien im Jemen, eines aber haben sie alle | |
gemein: dass sie immer mehr Zerstörung anrichten. Seit März 2015 hat die | |
[6][von Saudi-Arabien geführte arabische Militärkoalition] Krankenhäuser, | |
Schulen, Museen und Straßen zerstört. Sie hat die Menschen in ihren | |
Häusern, auf den Märkten und in Hochzeitssälen beschossen. | |
Die gepanzerten Fahrzeuge der Huthis aber, die Tag und Nacht die Städte | |
bombardieren, hat sie nicht zerstört. Die Koalition hat eine Blockade gegen | |
das Land verhängt, sodass nichts mehr in die von den Huthis kontrollierten | |
Gebiete gelangt, außer natürlich Waffen. Auch der Flughafen von Sanaa ist | |
geschlossen. Wer im Norden krank wird und ins Ausland muss, nimmt den | |
Landweg zu einem Hafen im Süden – eine gefährliche Reise über zerstörte u… | |
von Checkpoints zerstückelte Straßen, die bis zu 16 Stunden dauert. | |
## Elend in allen Gebieten des Jemen | |
Die Huthis sind auch nicht besser. Angestellten im öffentlichen Dienst | |
haben sie seit 2016 keine Gehälter gezahlt. Die Steuern haben sie jedoch | |
angehoben unter dem Vorwand, so die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. | |
Die Gebiete, die ihre Miliz durchquert, verminen sie. Massenweise Kinder | |
haben sie als Soldaten rekrutiert. Das Kidnapping, die willkürlichen | |
Festnahmen und die Folter entfalten Wirkung auf alle, die in den von den | |
Huthis kontrollierten Gebieten leben. | |
Und genauso verhält es sich schließlich mit dem von den Vereinigten | |
Arabischen Emiraten unterstützten sogenannten Südlichen Übergangsrat, der | |
im Süden des Landes das Sagen hat. Von Gefängnissen ist die Rede, in denen | |
gefoltert wird, wer sich der Präsenz der Emirate im Jemen widersetzt. Weit | |
verbreitet sind Entführungen von Mädchen, Vergewaltigungen von Kindern und | |
Attentate, die mittlerweile zum Alltag gehören. | |
Und während die Kriegsparteien immer weiter kämpfen, haben im Jahr 2020 | |
alle nur denkbaren Katastrophen die Menschen heimgesucht. Die Epidemie, der | |
[7][Jemens zerstörter Gesundheitssektor] natürlich nicht gewachsen war, | |
traf ein Volk, das bereits am Rande einer Hungersnot stand. Krankenhäuser | |
schlossen ihre Türen, weil es schlicht an Ausrüstung fehlte. Hinzu kamen | |
Überschwemmungen, die durch die Städte fegten und schreckliche Seuchen | |
verursachten. Zu guter Letzt kamen dann noch der Regen und die | |
Heuschreckenschwärme, die den Himmel schwarz färbten und die ohnehin | |
geringe Ernte der Menschen zerstörten. | |
In einem Krieg wie dem Jemenkrieg gibt es viele Profiteure und Nutznießer. | |
Krieg bietet immer die Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen oder sich | |
selbst zu bereichern. | |
Den Preis zahlen die Machtlosen. Am Ende aber sind es diese vermeintlich | |
Machtlosen, die die Situation ändern können, so wie sie es 2011 getan | |
haben. Der Arabische Frühling hat gezeigt, dass, egal wie stark ein Regime | |
ist und wie erschöpft ein Volk ist, sie eines Tages die Rollen tauschen | |
werden. In nicht allzu ferner Zukunft kann dies wieder passieren. Meiner | |
persönlichen Meinung nach haben wir Jemeniten auch keine andere Wahl: Wir | |
müssen das fortzusetzen, was wir 2011 begonnen haben. | |
18 Dec 2020 | |
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