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# taz.de -- Tunesien und die EU: Knallharte Interessen
> Brüssel, Paris und Berlin unterstützen den Übergang zur Demokratie in
> Tunesien. Sie drängen das Land, seinen Markt für EU-Unternehmen zu
> öffnen.
Bild: Geflüchtete an Bord eines Schiffs der italienischen Küstenwache in Lamp…
Tunis taz | Tunesien, der demokratische Leuchtturm Nordafrikas: Auch zehn
Jahre nach der Revolution gilt das Land weiter als [1][einzige
Erfolgsgeschichte des sogenannten Arabischen Frühlings] – nicht ganz zu
Unrecht. Seit dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali im Januar 2011 hat Tunesien
eine beachtliche Entwicklung hingelegt – trotz der desaströsen sozialen und
wirtschaftlichen Lage, politischer Turbulenzen und herber Rückschläge wie
der noch nicht aufgeklärten Morde an den Linkspolitikern Chokri Belaïd und
Mohamed Brahmi 2013 sowie der Terroranschläge von 2015.
In Europa rühmt man sich damit, dass die EU und einzelne Regierungen
Tunesien seit 2011 massiv unter die Arme gegriffen und den Übergang
politisch und wirtschaftlich unterstützt haben, so jedenfalls das Narrativ
europäischer Offizieller. Ein genauerer Blick zeigt jedoch: Der EU ging es
auch um eigene wirtschaftliche Interessen sowie darum, [2][Migrant*innen
von der Überquerung des Mittelmeers abzuhalten].
Europa hat seit 2011 umfangreiche Hilfs-, Förder- und Kreditprogramme
zugunsten Tunesiens aufgelegt, um den Übergang zu einem demokratischen
System zu unterstützen. Der Zivilgesellschaft wurde mit Fördergeldern unter
die Arme gegriffen, Wirtschaftsreformen wurden angestoßen. Mit
Entwicklungshilfeprojekten sollte die soziale Lage verbessert werden.
Neben Projekten zu Demokratie- und Frauenförderung wurden auch Mittel für
die Reform staatlicher Institutionen und Umwelt-, Bildungs- und
Kulturprogramme bereitgestellt. Allein im Rahmen der
EU-Nachbarschaftspolitik (ENP) wurden seit 2011 fast drei Milliarden Euro
nach Tunesien transferiert. Zusätzlich stehen bilaterale
Entwicklungsprojekte, Darlehen und Kredite mehrerer EU-Staaten zu Buche,
allen voran aus Frankreich, Italien und Deutschland.
## Einfluss vor Ort zementieren
Ganz selbstlos war das alles jedoch nicht: Die EU-Hilfen zielen keineswegs
ausschließlich darauf ab, den Übergang zu stützen, sondern sind Ausdruck
einer knallharten Interessenpolitik. Die Deregulierung von Tunesiens
Wirtschaft ist dabei ein zentrales Ziel der EU, durch die diese ihren
Einfluss vor Ort zementieren will.
„Die EU ist eher von Eigennutz getrieben als davon, Tunesiens
wirtschaftliche Entwicklung und Exportfähigkeit voranzutreiben“, sagt
Mohamed-Dhia Hammami von der tunesischen Denkfabrik Center of Strategic
Studies of the Arab Maghreb.
Hammami kritisiert die EU-Politik in Tunesien seit Jahren. Tunesien werde
in Wirtschaftsfragen erpresst, sagt er. „Dies findet statt, wenn Tunesien
Geld braucht. Die EU nutzt diese Situation aus, um auf Reformen zu drängen,
die nicht wirklich den Interessen Tunesiens dienen, aber den Markt für
europäische Firmen öffnen.“
Als Beispiel nennt er das Aleca-Abkommen, das seit 2015 verhandelte
Freihandelsabkommen zwischen der EU und Tunesien. Kritiker*innen
befürchten, dass Tunesien durch eine weitere Öffnung des Markts von
europäischen Produkten überschwemmt werde und sich von
Grundnahrungsmittelimporten aus Europa abhängig mache.
## Abkommen noch nicht vom Tisch
„Hätte es keine soziale Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegeben, hätte
Tunesiens Regierung das Abkommen schon vor langer Zeit akzeptiert“, meint
Hammami. Die Verhandlungen ruhen zwar derzeit, vom Tisch ist Aleca aber
keinesfalls.
Während derlei Wirtschaftsreformen Europas Vormachtstellung in Tunesien
festigen sollen, verfolgen einzelne EU-Staaten ihre eigenen Interessen in
dem Land. Italien will in erster Linie die irreguläre Migration eindämmen
und Tunesiens Grenzregime aufrüsten.
Deutschlands Ambitionen und Langzeitinteressen seien dagegen vor allem
wirtschaftlich motiviert, sagt Hammami. Berlin setze auf eine schrittweise
Strategie, die nicht immer sichtbar sei, so Hammami.
In der Tat hat Deutschland seinen Einfluss in Tunesien massiv ausgeweitet.
Tunesiens Abhängigkeit von Europa ist dadurch weiter gestiegen – im
Interesse Tunesiens ist das keinesfalls, macht sich das Land dadurch doch
noch erpressbarer.
18 Dec 2020
## LINKS
[1] /Protest-von-Tunesien-bis-Libanon/!5737303
[2] /Migration-aus-Tunesien/!5699557
## AUTOREN
Sofian Philip Naceur
## TAGS
Zehn Jahre Arabischer Frühling
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Feminismus
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