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# taz.de -- Zehn Jahre Krieg in Libyen: Das libysche Herz wiederbeleben
> Vor zehn Jahren wurde die Gaddafi-Diktatur gestürzt, doch Libyen fand
> nicht zum Frieden. Zwei Rückblicke aus Bengasi, wo alles begann.
Bild: Drei Kriege in zehn Jahren sind sichtbar: Zentrum von Bengasi im Juli 2019
Tunis taz | Mohamed Jaaouda zog es am 14. Februar 2011 mit vielen anderen
auf den Freiheitsplatz in Bengasi. Aus den wütenden Protesten der
Angehörigen inhaftierter Libyer [1][wurde eine Massenbewegung], der
Ingenieur wurde einer der Organisatoren eines Bürgermarsches durch die
Stadt.
Am 17. Februar eskalierte die Lage blutig vor der Kaserne der libyschen
Armee. Das trieb auch diejenigen auf die Straße, die aus Angst vor dem
Geheimdienst des diktatorischen „Revolutionsführers“ Muammar al-Gaddafi zu
Hause geblieben waren. Drei Tage später waren sämtliche Vertreter des
Regimes aus Bengasi geflohen.
Die internationale Euphorie darüber ließ Jaaouda kalt. Der Ingenieur
erinnert sich an sorgenvolle Gespräche mit seinen Freunden. „Wir waren
überzeugt davon, dass die Befreiung Bengasis das Ende jeglicher
zentralistischen Herrschaft über Libyen war. Aber die immense Größe des
Landes, die unterschiedlichen Erfahrungen nach 42 Jahren Willkürherrschaft
und die unterschiedlichen Ziele der Revolutionäre machten uns Angst. Ich
entschied für mich, dass wir Bürger in unserem Umfeld jetzt die Dinge
selber in die Hand nehmen müssen.“
Der 42-Jährige gründete die Initiative „Al-Amal“ – Hoffnung. Während
westlich von Bengasi Kämpfe zwischen revolutionären Milizen und Gaddafis
Panzereinheiten tobten, kaufte Jaaouda mit privaten Spenden Besen,
Schaufeln und Mülleimer. Über Facebook trommelte der Aktivist jedes
Wochenende Freiwillige zusammen, die verwahrloste Straßenzüge oder
Spielplätze aufräumten.
Freiwillige schlossen sich an
Als im Sommer in der 800 Kilometer entfernten Hauptstadt Tripolis Gaddafi
gestürzt war, kehrte in Bengasi Normalität ein. Jaaouda pflanzte Bäume, er
richtete den „Platz der Armee“ wieder her, dort wo König Idriss 1947 das
freie Libyen ausgerufen hatte. Immer mehr Freiwillige schlossen sich seinen
Aufräumaktionen an.
Doch unter den vielen nach Bengasi zurückkehrenden Exillibyern waren auch
Islamisten, die in Afghanistan oder im Irak gekämpft hatten. Im Juni 2012
zog eine lange Kolonne von Kämpfern der Miliz „Ansar Scharia“ auf den
Tahrir-Platz, an dem Tag, als eine Bürgerversammlung über eine föderale
Verfassung diskutierte. Mohamed Jaaouda wurde Zeuge der Wortgefechte
zwischen den Radikalen und den Bürgern, die sich ein Jahr zuvor die
Freiheit erkämpft hatten.
Die Islamisten eroberten einen Großteil Bengasis, Bürgerproteste gegen die
neue Willkürherrschaft wurden mit Schüssen beendet. Jaaouda wagte sich
dennoch jeden Samstag auf die Straße, er überzeugte die Milizenkommandeure,
dass es in ihrem Interesse sei, wenn Schulen und öffentliche Plätze sicher
und sauber seien.
Als dann der alte Armeegeneral Chalifa Haftar mit ägyptischer Hilfe einen
erbitterten Häuserkampf startete, um die Islamisten zu vertreiben, wurde
Bengasis Altstadt zur Todeszone. „Die Revolution von 2011 ist nicht
zufällig hier entstanden“, sagt Jaaouda. „Hier wurde einst Libyen zum
Staat, hier konnte sich unter vier Jahrzehnten Gaddafi-Herrschaft eine
intellektuelle Stadtelite halten, weit weg von der Korruption in Tripolis.“
Überall wurde gehetzt
Mit Haftars Sieg und seiner „Libysch-arabischen Nationalarmee“ ist eine
Polizeistaatsmentalität zurückgekehrt. Aber noch immer räumen Jaaouda und
seine über 200 Freiwilligen jeden Samstag Trümmer auf Tieflader. „Das Herz
Libyens schlägt nicht mehr“, sagt Jaaouda mit einer Schaufel in der Hand.
„Wir müssen es wiederbeleben.“
Im November 2015, während des Krieges in Bengasi zwischen islamistischen
Milizen und der „Libysch-arabischen Nationalarmee“ des Generals Chalifa
Haftar, hatten Hussam Thini und sein Freund Mohamed Tarhouni genug.
Auf ihren sozialen Medienseiten, aus dem Autoradio, im Fernsehen, überall
wurde gehetzt. Wer nicht für Haftar war, wurde in ostlibyschen Medien zum
Muslimbruder und damit zum Feind erklärt. Wer aus Ostlibyen stammte, wurde
im westlibyschen Tripolis als Anhänger Haftars und damit des alten Regimes
diffamiert. „Überall war Hass“, blickt der 30-jährige Thinni zurück. „…
begann, mir Sorgen um meine jungen Geschwister zu machen, als ich Kinder
auf der Straße sah, die Hinrichtungen nachspielten.“
Zusammen mit Freunden gründeten sie das Kulturzentrum Tanarout in Bengasi.
Beide kamen regelmäßig zu Workshops nach Tunis und hatten Freunde in der
ganzen Welt. Seit die Initiative Spenden für die Miete eines 200
Quadratmeter großen Kellers zusammenbekommen hat, bieten Freiwillige Musik-
und Sprachunterricht an.
Workshops als Fluchtpunkt
Junge Frauen kommen jeden Abend und lernen Zeichnen oder geben Nachhilfe,
einmal die Woche probt eine Theatergruppe. Das Miteinander von Jungen und
Mädchen ist keine Selbstverständlichkeit in einer Stadt wie Bengasi. Als
islamistische Milizen das Sagen hatten, warfen sie Frauen aus den
gemischten Cafés.
Nun leitet die Lehrerin und Apothekerin Rehab Shennib die Kulturinitiative,
die Straßenkonzerte organisiert und Kalligrafieworkshops anbietet. „Wir
sind für viele Jugendliche der einzige Ort, an dem sie den Krieg und die
tägliche Gewalt auf der Straße verarbeiten können“, sagt sie. Gerade junge
Frauen trauen sich oft nicht mehr aus dem Haus, berichtet die Frau mit dem
Kopftuch.
Mit dem Sieg Haftars in Bengasi ist zwar Ruhe eingekehrt. Doch in Haftars
Armee kämpfen auch salafistische Gruppen. Sie überziehen Tanarout mit
Gerüchten über Drogen und unsittliches Gebaren. Nach Morddrohungen hat
Rehab Shennib den Betrieb daher vor einigen Wochen eingestellt. Nun soll
ein Gericht entscheiden, ob Kultur in Bengasi wieder erwünscht ist.
## Hoffnung auf Versöhnung
Die Mutter einer siebenjährigen Tochter ist sich bewusst, in welche Gefahr
sie sich als Verantwortliche eines Kulturprojekts begeben hat. „Es ist kein
Problem, öffentlich in Maßen Kritik an den Herrschenden zu üben. Aber
[2][in einer Nachkriegssituation] wird auf die sozialen Regeln Wert gelegt,
und diese sind in den letzten Jahren immer konservativer geworden.“
Über 70 Prozent der rund 7 Millionen Libyer sind unter 30 Jahre alt. Gerade
die ganz Jungen stellen aber die Regeln in Frage. In kleinen Gruppen setzen
sich heute gerade erst volljährig gewordene Mädchen in Cafés, in denen es
bis vor Kurzem noch verpönt war, Frauen überhaupt zu bedienen.
„Ich bin keine Revolutionärin, ich bin gläubig. Aber ich möchte, dass
Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben“, sagt sie. Bei einem Treffen
im vergangenen Jahr war der zierlichen Frau anzumerken, wie stolz sie auf
die vielen musizierenden Mädchen ist, die durch Tanarout die häusliche
Isolation verlassen konnten.
Shennib glaubt, dass die Kriege seit 2011 jetzt Versöhnung möglich machen.
Während der Revolution war sie zu Hause geblieben. „Ich arbeite dafür nun
an einer Evolution“, sagt sie. „Die Revolution hat noch gar nicht
begonnen.“
17 Feb 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Mirco Keilberth
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