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# taz.de -- Migranten in Libyen: Milizen und Menschenhandel
> Die Zahl der Schiffbrüche im Mittelmeer steigt. Während die EU die
> libysche Einheitsregierung hofiert, ist die Lage in den Camps des Landes
> desaströs.
Bild: Im Mittelmeer ist die Zahl der gefährlichen Überfahrten wieder gestiegen
Tunis taz | Ihr Schicksal ist ungeklärt: [1][Aktivisten der Initiative
Alarm Phone] versuchen 270 auf dem Mittelmeer treibende Menschen
aufzuspüren, die am Ostersamstag SOS-Rufe abgesetzt hatten. Handelsschiffe
hatten auch nach Funksprüchen der Organisation ihren Kurs nicht geändert,
um den Notrufen nachzugehen. Alarm Phone zufolge verweigerten auch
Rettungsstellen auf Malta und Sizilien die Koordinierung von Hilfsaktionen.
Es ist unklar, ob die teilweise mit Wasser vollgelaufenen Boote noch am
Rand der 70 Kilometer von der Küste entfernten libyschen Rettungszone (SAR)
treiben.
Auf dem Mittelmeer hat sich die Lage für Migranten dramatisch
verschlechtert. Allein in der vergangenen Woche retteten Patrouillen der
libyschen Küstenwache mehr als 1.000 Menschen aus Schlauchbooten. Die
Internationale Organisation für Migration (IOM) bestätigte am vergangenen
Wochenende die Ankunft von 438 Geretteten in den libyschen Häfen von
Misrata und Tripolis. Mitarbeiter der libyschen Hilfsorganisation Roter
Halbmond berichten der taz von Hunderten weiteren Menschen.
[2][Seit die Lage in Libyen im Oktober wieder stabiler geworden ist,] haben
sich viele der ehemaligen Milizen in ihre Kasernen zurückgezogen. Doch
Gruppen, die seit dem Ende des Krieges nicht mehr auf den Lohnlisten von
Armee oder Polizei stehen, wenden sich nun wieder dem Geschäft mit
Migranten zu. Die mit Milizen verbündeten Schmuggler schickten in den
vergangenen zwei Wochen so viele Menschen in seeuntüchtigen Schlauchbooten
auf das Mittelmeer wie zuletzt 2014, berichten libysche
Hilfsorganisationen.
Die sechs zurzeit seetauglichen libyschen Küstenwachenschiffe retteten
allein in diesem Jahr 5.000 meist aus Westafrika kommende Migranten, wie
die IOM berichtet. 2.300 Vermisste ermittelte die Organisation in
Gesprächen mit geretteten Migranten im vergangenen Jahr.
## Einheitsregierung hat kaum Einfluss
Die meisten Boote legen ohne Funkausrüstung von abseits gelegen Stränden
der über 2.000 Kilometer langen libyschen Mittelmeerküste ab. Ihre
Mobiltelefone müssen die Migranten meistens den Schmugglern übergeben.
Fischer aus der libyschen Hafenstadt Zuwara und dem tunesischen Zarzis
berichteten der taz von auf dem Mittelmeer treibenden Resten von
Bootswracks und Leichen in ihren Netzen.
In den libyschen Häfen werden die Überlebenden von einheimischen
IOM-Mitarbeitern registriert, interviewt und dann in von den libyschen
Behörden in Gefängnisse oder in Camps umgewandelte Lagerhallen gebracht.
„Libyen ist kein sicherer Ort für Migranten und Flüchtlinge“, wiederholen
die Sprecher von IOM und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen
UNHCR seit vielen Jahren. Geändert hat sich nach Angaben von Mitarbeitern
des Roten Halbmondes aber auch mit der neuen Regierung von
Ministerpräsident Abdul Dbaiba wenig.
Der Ende Februar in dieses Amt gewählte ehemalige Geschäftsmann versichert
den zurzeit im Wochentakt nach Tripolis reisenden europäischen
Regierungschefs, dass die Lage der Migranten ein Schwerpunkt seiner Arbeit
sein werde. Am Dienstag erklärte der aus Rom angereiste Mario Draghi, die
Kooperation mit der libyschen Küstenwache zu verstärken. Doch in Zauwia, wo
die Milizen das Sagen haben, h[3][at die neue Einheitsregierung nur wenig
Einfluss.]
Queen stammt aus der nigerianischen Provinz Biafra und hat mehrere Monate
in dem staatlichen Gefängnis von Zauwia verbracht. Die 30-Jährige ist
mittlerweile ins tunesische Zarzis geflohen und berichtet, dass die
Behandlung in den von UN-Mitarbeitern besuchten Einrichtungen relativ
korrekt sei. Sexuelle Gewalt, Zwangsarbeit und das Freikaufen aus der Haft
sei in den privaten von den Milizen kontrollierten Lagern jedoch an der
Tagesordnung. Queen, ihren Nachnamen möchte sie nicht gedruckt sehen, wurde
dafür in ein privates Lager nach Zuwara verlegt,wo der Schmuggler Mohamed
Bahroun das Sagen hat. Für die Zahlung von umgerechnet 500 Euro konnte
Queen nach Tunesien ausreisen.
Moussa Kony aus Guinea-Bisseau sah im Oktober vergangenen Jahres bereits
die Boote im Hafen der maltesischen Hafenstadt Valetta, nachdem er an Deck
eines Fischerboot bereits drei Tage auf See gewesen war. Dann stoppte
jedoch eine maltesische Marinepatrouille das Fischerboot mit Zulassung im
tunesischen Mahdia. „Wir mussten zwei Tage an Bord warten und hatten kaum
noch etwas zu trinken und essen. Dann kam ein tunesisches Marineschiff und
begleitete uns in den Hafen von Zarzis zurück“, so Kony.
## 30 offizielle Lager, viele private
Migranten berichten von weiteren illegalen [4][sogenannten Pushbacks aus
EU-Hoheitsgewässern], bei denen libysche und tunesische Schiffe auf Bitten
maltesischer und italienischer Behörden Flüchtlinge und Migranten zurück in
nach Nordafrika brachten.
Moussa Kony schaffte es in einem zweiten Anlauf nach Valetta, doch musste
er sich dafür erst wieder auf tunesischen Baustellen verdingen. Ihn hatten
nicht nur die in Südtunesien und Libyen verbreiteten Vorurteile gegen
Schwarze und Christen zur Fortsetzung seiner Flucht getrieben. „Die
libyschen Milizen nutzen den fehlenden rechtlichen Schutz von Migranten
aus.“
„Die willkürlichen Verhaftungen dienen dazu, sich bei der Öffentlichkeit
als Verteidiger der Bürger dazustellen“, sagt Mohamed Sifauw, der für die
Hilfsorganisation Roter Halbmond in der Stadt Zauwia arbeitet. Die
Hafenstadt zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze ist in die
Machtbereiche zweier Milizengruppen gespalten.
30 offizielle Lager für Migranten gibt es in Libyen, die Zahl der privaten
Gefängnisse ist unbekannt. In Zauwia gibt es neben dem offiziellen Lager
mit 3.000 Insassen etwa sieben sogenannte Gettos. „Oft kommen
Geschäftsleute in die Gettos und bestellen Arbeitskräfte für den Transport,
für Baustellen oder suchen bestimmte Handwerker. Die Bezahlung geht direkt
an die Milizen, die Migranten für eine Gebühr von umgerechnet 400 Euro nach
nach ein paar Monaten weiter ziehen lassen“, sagt Moussa Kony.
## Die Milizen haben mehr Geld
Die EU ist vor Libyen mit der so genannten Irini-Marine-Mission im Einsatz,
um das seit 2011 geltende Waffenembargo vor der libyschen Küste zu
überwachen. Spektakuläre Funde wie das Stoppen einer Lieferung von
Flugbenzin durch die deutsche Fregatte „Hamburg“ im Oktober 2020 zeigen,
wie effektiv libysche und europäische Behörden zusammenarbeiten könnten.
Doch im Bereich Migration herrscht Funkstille auf dem Mittelmeer. Schiffe
der Irini-Mission sind außerhalb der libyschen Rettungszone und vor der
ostlibyschen Küste im Einsatz. Die sechs zurzeit funktionstüchtigen
libyschen Marineschiffe kreuzen vor der Westküste.
Ein Kommandeur der libyschen Küstenwache, Rida Issa, sagt, dass Europa
nicht länger die libysche Küstenwache einspannen könne. „Anders als die
Milizen haben wir nicht genügend Ausrüstung um die Sicherheit unserer
Besatzungen zu gewährleisten.“
7 Apr 2021
## LINKS
[1] https://alarmphone.org/de/
[2] /Zehn-Jahre-Krieg-in-Libyen/!5752373
[3] /Neue-Einheitsregierung-in-Libyen/!5752707
[4] /Push-backs-von-Gefluechteten/!5687089
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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