# taz.de -- Katastrophe im Mittelmeer: Das Sterben geht weiter | |
> Erneut sind Hunderte Migrant*innen bei der Überfahrt von Libyen im | |
> Mittelmeer ertrunken. Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ hatte keine | |
> Chance. | |
Bild: Sofort machte sich die „Ocean Viking“ auf den Weg – doch das Rettun… | |
Tunis taz | Es war ein Notruf wie derzeit viele andere in der | |
Notrufzentrale der privaten Rettungsorganisation [1][AlarmPhone]. Bei dem | |
rund um das Mittelmeer stationierten Netzwerk rief voller Panik einer der | |
Passagiere eines sogenannten Kodiak an. Mit den bis zu 10 Meter langen | |
Schlauchbooten schicken die libyschen Menschenhändler Migrant*innen auf | |
das Mittelmeer. | |
Wie die meisten der nur mit Luftkammern versehenen Boote war auch das am | |
Mittwochmorgen in Seenot geratene Boot mit 130 Menschen beladen worden, | |
berichtete der Hilferufende der AlarmPhone-Zentrale. | |
Sofort machte sich das rund 10 Stunden entfernte private Rettungsschiff | |
„[2][Ocean Viking]“ auf den Weg zu der mutmaßlichen Unglücksstelle. Es war | |
das dritte in Seenot geratene Boot binnen 48 Stunden, auf das AlarmPhone | |
die in internationalen Gewässern fahrenden Schiffe aufmerksam machte. Wegen | |
der 6 Meter hohen Wellen und der fehlenden Koordinierung der | |
Rettungsleitstellen in Libyen, Malta oder Italien hatte die „Ocean Viking“ | |
keine Chance. | |
Die Besatzung eines von drei Handelsschiffen, die sich der Suche der „Ocean | |
Viking“ anschlossen, entdeckte drei Tote in der Nähe der vermuteten | |
Koordinaten. Ein Flugzeug der Frontex-Mission überflog schließlich am | |
Donnerstag mehr als 70 Kilometer von der libyschen Hauptstadt entfernt ein | |
gekentertes Boot. | |
## Allein vor Tripolis mindestens 350 Tote in diesem Jahr | |
Auch am Freitag kreuzte die „Ocean Viking“ in dem Seegebiet auf der Suche | |
nach den anderen beiden vermissten Booten, darunter ein Fischerboot mit | |
geschätzten 40 Menschen an Bord. Auf Überlebende stießen sie bisher nicht. | |
Erst am Tag zuvor hatte die Internationale Organisation für Migration (IOM) | |
den Tod eines Kleinkinds und einer Frau gemeldet, die bei einer | |
Rettungsaktion der libyschen Küstenwachenpatrouille starben. Laut der | |
Hilfsorganisation SOS MEDITERRANEE kamen allein im Seegebiet vor Tripolis | |
in diesem Jahr 350 Migrant*innen ums Leben. Die Katastrophe vom Mittwoch | |
zeigt, was libysche Menschenrechtsaktivist*innen schon lange | |
vermuten. Viele Schlauchboote gehen vor der libyschen Küste unentdeckt | |
unter. | |
Die Menschenhändler bereiten zwar mindestens einen Freiwilligen an Bord auf | |
die Navigation und die Bedienung des Außenborders vor. Doch nach Ankunft in | |
den staatlichen oder privaten Gefängnissen müssen die Migrant*innen ihre | |
Telefone abgeben. Selbst wenn ein aufgeladenes Telefon an Bord ist, haben | |
die Besatzungen schon innerhalb der libyschen Rettungszone oft keinen | |
Mobilfunknetzempfang mehr. | |
Augenzeugen des unsichtbaren Massakers auf dem Mittelmeer sind Fischer aus | |
dem tunesischen Zarzis. Seit Beginn der Migrationsroute 1999 treibt die | |
Meeresströmung Bootswracks und Leichen in ihre Netze. „In einigen | |
Frühjahren mussten wir vor lauter Leichenfunden mit dem Fischen aufhören | |
oder weiter rausfahren“, sagte der Chef der Fischerkooperation der taz im | |
letzten Dezember. | |
Anders als für die meisten Libyer*innen hat das Ende des Krieges um | |
Tripolis für viele Migrant*innen [3][keine Verbesserung ihrer Situation] | |
gebracht. Nachdem mehrere Gefängnisse im letzten Jahr von Granaten oder | |
Raketen getroffen worden waren, schloss der ehemalige Innenminister Fathi | |
Bashaga nach internationalem Druck vorübergehend die | |
Migrant*innengefängnisse. | |
Mitte März zählte IOM aber erneut über 5.000 einsitzende Migrant*innen, | |
auch die gerade auf dem Mittelmeer Geretteten wurden wegen „illegaler | |
Migration“ wie Verbrecher eingesperrt. Wer von Verwandten aus der Heimat | |
Geld an die Bewacher zahlt oder Zwangsarbeit leistet, kann gehen. Für viele | |
führt der Weg allerdings direkt in die seeuntauglichen Boote der mit den | |
Milizen verbündeten Schmuggler. | |
23 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://alarmphone.org | |
[2] /NGO-Rettungsschiff-auf-Einsatz/!5742922 | |
[3] /Migranten-in-Libyen/!5759147 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Flucht | |
Mittelmeer | |
Libyen | |
Schleuser | |
Seenotrettung | |
taz Plan | |
Vietnam | |
Flucht | |
Frontex | |
Schwerpunkt Flucht | |
Libyen | |
Tunesien | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Protesttermine in Berlin: Die Politik der Sichtbarkeit | |
Aufgabe sozialer Bewegungen ist es, sichtbar zu machen, worüber die | |
Herrschenden lieber schweigen. Ob in Rojava, an den EU-Grenzen oder in der | |
Pflege. | |
Nach Tod von 39 Vietnames*innen: Lange Haft für Schleuser | |
In Brügge sind Mitglieder eines Menschenschmuggel-Rings zu Gefängnisstrafen | |
verurteilt worden. Belgiens Hauptstadt Brüssel gilt als Schleuserzentrum. | |
Seenotrettung im Mittelmeer: Mehrere Einsätze vor Malta | |
Das Rettungsschiff „Ocean Viking“ nimmt 40 Geflüchtete auf. „Sea-Watch“ | |
filmt einen brutalen Einsatz der sogenannten libyischen Küstenwache. | |
EU-Grenzschutzagentur über die Türkei: Frontex meldet Provokationen | |
Die türkische Küstenwache verhalte sich nicht immer kooperativ, so die | |
EU-Grenzschutzagentur. Teils versuche sie, Migranten in griechische | |
Gewässer zu treiben. | |
Aktivistin über Tote im Mittelmeer: „Das war kein Bootsunglück“ | |
Lara Dade von Alarmphone war in Kontakt mit 130 vor Libyen ertrunkenen | |
Flüchtlingen. Obwohl EU und Küstenwachen informiert waren, halfen sie | |
nicht. | |
Migranten in Libyen: Milizen und Menschenhandel | |
Die Zahl der Schiffbrüche im Mittelmeer steigt. Während die EU die libysche | |
Einheitsregierung hofiert, ist die Lage in den Camps des Landes desaströs. | |
Bootsunglück vor Tunesiens Küste: Dutzende ertrinken in Fischerbooten | |
Trotz schlechter Wetterlage versuchen Flüchtende über das Mittelmeer zu | |
gelangen. Die Coronakrise hat die Situation in Tunesien verschlechtert. | |
Seenotrettung in Italien: Bis zu 20 Jahre Haft | |
21 Seenotretter*innen stehen demnächst im sizilianischen Trapani vor | |
Gericht. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zur illegalen Einwanderung. |