| # taz.de -- Ex-Botschafter über Libyen-Konferenz: „Europa ist immer zu spät… | |
| > Libyens Ex-Botschafter in Deutschland blickt skeptisch auf die Berliner | |
| > Libyen-Konferenz. Er vermisst wichtige Schritte, damit es Wahlen gibt. | |
| Bild: „Ich wünsche mir, dass die Wahlen stattfinden“: Aly Masednah El-Koth… | |
| taz: Herr Masednah, wie würden Sie die aktuelle Lage in Libyen beschreiben? | |
| Ali Masednah-Kothany: Deprimierend bis hoffnungslos. Das Land macht keinen | |
| Fortschritt in Richtung Demokratie. Die einzige positive Entwicklung ist | |
| das Ende des Bürgerkrieges. Wirtschaftlich geht es den Menschen immer | |
| schlechter. | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| Die libysche Währung hat seit Jahresbeginn 700 Prozent an Wert verloren. | |
| Die Regierung von Premierminister Dbaiba hat viel versprochen, aber in | |
| kurzer Zeit hat er vor allem im Osten Vertrauen verspielt. Obwohl er Chef | |
| einer Einheitsregierung ist, hat er sich auf die Seite der Muslimbrüder, | |
| der Türkei und der westlibyschen Gruppen geschlagen. | |
| Aber Dbaiba war in seiner kurzen Amtszeit mehr im Land unterwegs als sein | |
| Vorgänger Serraj in vier Jahren, unter anderem auch in Bengasi im Osten, wo | |
| Armeechef Khalifa Haftar noch das Sagen hat. | |
| Die ostlibysche Regierung wurde aufgelöst, aber nicht in die | |
| Einheitsregierung integriert. Viele von Dbaibas 33 Ministern haben noch | |
| nicht mit der Arbeit begonnen, während die ehemaligen Angestellten der | |
| aufgelösten ostlibyschen Regierung für Nichtstun bezahlt werden. Dbaiba hat | |
| bisher zudem nicht den Abzug aller Söldner gefordert, also auch der | |
| türkischen Soldaten. Das haben wir bisher nur von Außenministerin Mangoush | |
| gehört. | |
| Es besteht also ein Machtvakuum in Ostlibyen. Wird Haftar dies für sich | |
| nutzen? | |
| Haftars Militär ist mit der Sicherung der Grenze zu Tschad und Niger und | |
| der Ölfelder beschäftigt. Aber die Gefahr der Spaltung des Landes besteht | |
| immer noch. Der Begriff „Regierung der Nationalen Einheit“ ist nur ein | |
| Slogan ohne Wirkung. Weite Teile Libyens sind unkontrolliert, die Bürger | |
| erleben ein Ausmaß an Kriminalität wie nie zuvor. Aber es gibt auch einige | |
| Fortschritte, zum Beispiel die Öffnung der Straße zwischen Misrata und | |
| Sirte, zwei ehemals verfeindeten Städten. Damit ist Libyens wichtigste | |
| Ost-Westverbindung nun befahrbar. Das hätte am ersten Amtstag Dbaibas | |
| geschehen müssen! Die Öffnung halten viele im Land für eine Banalität, sie | |
| fordern ernsthaften Fortschritt beim Wiederaufbau der Infrastruktur, damit | |
| es zum Beispiel keine tagelangen Stromausfälle mehr gibt. | |
| Wird die zweite Berliner Libyen-Konferenz die Probleme anpacken? | |
| Ich fürchte, die libyschen Delegationen kommen zwar physisch nach Berlin, | |
| aber werden nicht mit am Tisch sitzen. Die Konferenzteilnehmer müssen aber | |
| dafür einstehen, dass die ausländischen Truppen jeglicher Couleur das Land | |
| verlassen. Die Türken haben über 15.000 Syrer nach Libyen geholt und über | |
| viele keine Kontrolle mehr. Ich habe gehört, dass viele der Syrer nicht | |
| mehr bezahlt werden, so wie auch die Sudanesen und Tschader auf der anderen | |
| Seite. Alle ausländischen Truppen müssen abziehen, auch die Italiener in | |
| Misrata und die offizielle türkische Armee. | |
| Das wurde ja im Vorfeld der Konferenz bereits gefordert. | |
| Ja, aber die Europäer sind in Libyen immer zu spät, andere schaffen die | |
| Fakten. Ich bin gespannt ob man Erdogan gewähren lässt – er sagt ja, dass | |
| es ein offizielles Militärabkommen zwischen der libyschen Regierung und der | |
| Türkei gibt und die türkischen Militärberater nicht illegal im Land seien. | |
| Ich kritisiere zudem, dass die Europäer nicht ehrlich mit den Libyern | |
| kommunizieren. Die EU-Staaten haben nur ein gemeinsames Interesse in | |
| Libyen: Die Migranten aus Subsahara-Afrika in Libyen zu halten. Daher | |
| spricht man mit Militärs und Milizen. Die sieben Millionen Libyer und ihr | |
| Wunsch nach einem normalen Leben spielen eine zu geringe Rolle. | |
| Aber vielleicht kann das tief gespaltene Land gar nicht alleine eine Lösung | |
| finden. | |
| Das kann man so sehen. Aber wenn in Berlin der Abzug der Söldner | |
| beschlossen würde, könnten sich Dbaiba und seine Minister auf den | |
| Wiederaufbau konzentrieren, Schulen öffnen, die schlimme Corona-Lage in den | |
| Griff bekommen. Vor drei Tagen ist eine Frau in Sebha bei der Geburt ihres | |
| Kindes in einem Krankenhaus gestorben. Kein Pfleger oder Arzt traute sich | |
| abends in das Krankenhaus, wegen der Milizen abends in das Krankenhaus | |
| getraut. | |
| Erklärt die Frustration, dass jemand wie Haftar sich trotz seiner | |
| militärischen Niederlage und seiner Polizeistaatmethoden immer noch halten | |
| kann? | |
| Auch seine Kritiker, und das sind nicht wenige, halten ihm zugute, dass er | |
| die Islamisten aus Bengasi vertrieben hat. Aber nun muss es eine | |
| demokratisch gewählte Regierung geben, die alten Figuren bringen das Land | |
| nicht weiter. | |
| Wären die für den Dezember geplanten Wahlen ein Ausweg? | |
| Das ist die große Hoffnung vieler Libyer. Alle, die jetzt in Libyen | |
| regieren, haben keine Legitimation mehr. Wenn demokratisch gewählte | |
| Politiker eine ehrlich gemeinte Unterstützung aus Europa erhielten, würden | |
| wir recht schnell positive Veränderungen sehen. | |
| Ist der Wahltermin im Dezember realistisch? | |
| Ich wünsche mir, dass die Wahlen stattfinden. Das Land ist apathisch. Die | |
| Wahlen sind eine Vision, die Reformern Kraft gibt. Das wahllose Verteilen | |
| von Geld zementiert den Status Quo. Vielleicht gäbe die Dynamik rund um die | |
| Wahlen die richtige Orientierung. Diese unsichere Phase im Übergangsprozess | |
| von einer zentralistischen Familienherrschaft zur Demokratie wird sicher | |
| mehr als zwanzig Jahre dauern, aber die Weichenstellung findet jetzt statt. | |
| 2014 gab es schon einmal gut organisierte Parlamentswahlen. Die | |
| Nichtanerkennung der Ergebnisse durch Milizen endete in einem Krieg in | |
| Tripolis und der Flucht der Parlamentarier aus der Hauptstadt. Was, wenn | |
| sich dieses Szenario wiederholt? | |
| Deswegen müssen die russischen Wagner-Truppen, die türkische Armee und alle | |
| anderen das Land verlassen. Danach sollte eine große unbewaffnete | |
| internationale Beobachtermission, eine zivile Mission unter UN-Leitung, den | |
| Waffenstillstand und die Wahlen überwachen. Auch nach den Wahlen müssen sie | |
| bleiben und im ganzen Land im Einsatz sein. Wahlen unter derzeitigen | |
| Bedingungen würden nicht die geringsten Standards erfüllen. | |
| So wie in Hay Andalous in Tripolis, wo Milizen bei den letzten Lokalwahlen | |
| ein Wahllokal besetzten, und als sie wieder abzogen, waren die Wahlurnen | |
| voller Stimmzettel. Wie kann man das verhindern? | |
| Mit dem Ende der finanziellen Unterstützung der Milizen durch die | |
| Ministerien. Die EU könnte zusammen mit der libyschen Regierung eine | |
| Kontrollkommission einsetzen, die Finanzströme überwacht. Auch Sanktionen | |
| gegen einzelne Personen würden helfen. | |
| Wie kann man ein entstaatlichtes Gebiet, sieben Mal so groß wie | |
| Deutschland, wieder aufbauen? | |
| Lokale Projekte sind der richtige Weg. Man muss den über 100 gewählten | |
| Gemeindeverwaltungen helfen, ihre Strukturen zu verbessern, den Bürgern zu | |
| dienen. Polizisten die Gesetze näherzubringen, wäre auch sinnvoll. Mit der | |
| GIZ verfolgt Deutschland hier schon einen richtigen Ansatz. | |
| Sollte sich Deutschland stärker engagieren? | |
| Viele Deutsche haben selbst die Erfahrungen von Flucht oder Diktatur | |
| gemacht. Wenn sie es nicht selbst erlebt haben, so haben die eigenen | |
| Großeltern ihnen davon erzählt. Ich erlebte als Botschafter daher viel | |
| Empathie, auch im politischen Bereich. Aber noch wichtiger ist, dass | |
| Deutschland niemals eine koloniale Macht im arabischen Raum war und als | |
| neutral angesehen wird. Wahlbeobachter aus Deutschland sind daher geradezu | |
| eine Notwendigkeit. Länder wie Frankreich oder Italien und die arabischen | |
| Staaten vertreten meist nur ihre eigenen Interessen. Ihnen geht es um | |
| Erdöl, Gas, Uran oder Absatzmärkte. | |
| Sie klingen vom europäischen Engagement enttäuscht. | |
| Schauen Sie, viele Libyer essen zur Zeit keinen Fisch. Fische fressen | |
| Leichen – das ist eine verbreitete Redewendung. Das Mittelmeer ist eine | |
| Schande für Europa geworden. Anstatt Mare Nostrum, der römischen Idee eines | |
| gemeinsamen Kultur- und Wirtschaftsraumes, ist das Mittelmeer jetzt eine | |
| Leichenbrühe. Die Europäer sind stolz auf ihre Demokratie und Kultur, aber | |
| wir sehen zur Zeit nichts davon. Aber ob die Europäer wollen oder nicht, | |
| die Afrikaner werden weiterhin kommen, weil sie zuhause nichts zu verlieren | |
| haben. Das ist eine Art koloniales Echo. Wo ist die vernünftige | |
| Wirtschaftspolitik, die den Leuten ermöglicht, zuhause Arbeit zu finden? | |
| Das gilt auch für Libyen. Sobald die Libyer wieder Geld von der Bank | |
| abheben können und sich sicher bewegen können, sind die Milizen weg vom | |
| Fenster. Doch zur Zeit finanziert die Zentralbank mit obskuren Geschäften | |
| die Milizen auf beiden Seiten, andere Gruppen verdienen mit | |
| subventioniertem Benzin, mit Migranten oder weil ihre Kämpfer auf | |
| Lohnlisten von Ministerien stehen. Das sind dieselben Leute, die später | |
| gegen die Wahlergebnisse vorgehen werden. | |
| 22 Jun 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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