Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Unruhen in Tunesien: Der Frust entlädt sich
> Zum Jahrestag der Revolution herrscht ein viertägiger Lockdown. In Tunis
> und anderen Städten kommt es zu Barrikaden und Plünderungen.
Bild: Zusammenstöße mit der Polizei am Samstag, hier in Siliana
Tunis taz | In mehreren tunesischen Städten ist es in der Nacht zu Sonntag
zu schweren Unruhen gekommen. In Kairouan, Sousse, Hamam Lif und Hay
Etadhamen, einem Armenviertel der Hauptstadt Tunis, griffen Jugendliche zu
Hunderten Polizisten an und zündeten Reifen und Mülltonnen an.
„Es waren so viele Menschen auf der Straße wie 2011, vor dem [1][Fall des
Ben-Ali-Regimes]“, berichtet eine Augenzeugin aus der Hafenstadt Sousse der
taz. Die 34-Jährige beobachtete, wie eine Gruppe junger Männer in dem
Stadtteil Houmt El Qued den Eingang einer Filiale der Supermarkt-Kette
Aziza mit schwerem Werkzeug gewaltsam öffnete.
Als die Eisentore nachgaben und sich die Polizei zurückgezogen hatte, wurde
der Supermarkt geplündert. Jugendliche aus der Nachbarschaft filmten das
Geschehen und teilten die Aufnahmen auf Facebook und anderen sozialen
Medien.
Vor den Unruhen hatten Polizisten mehrere Männer verhaftet, die eine seit
Donnerstag geltende landesweite Ausgangssperre ignoriert hatten. Aufgrund
der stark gestiegenen Zahl der Corona-Infektionen hatte die Regierung
ausgerechnet [2][zum Jahrestag der Revolution am 14. Januar das Land in den
Lockdown geschickt]. Mit der Schließung der Cafés, Märkte und
Einzelhandelsläden verloren vor allem junge Männer in den Armenvierteln
ihre Tagelöhnerjobs.
## Tränengas in Tunis
Tunesiens Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 16 Prozent, dürfte jedoch
tatsächlich bei den unter 30-Jährigen um ein Vielfaches höher liegen.
Jugendliche in Hay Etadhamen berichteten der taz letzte Woche, dass schon
die im Dezember verhängte nächtliche Ausgangssperre ab 20 Uhr zu Spannungen
mit der Polizei führte.
Cafébesitzer Fadi Najoui warnt, dass die spontanen Proteste, die sich
bisher nur gegen das Vorgehen der Polizei richten, schnell in soziale
Unruhen münden können. „Neben den coronabedingten Schließungen der Märkte
sorgt vor allem die Diskriminierung gegen uns aus den armen Gegenden wie
Hay Etadhamen für Frustration“, sagt der 28-Jährige. „Auch [3][zehn Jahre
nach dem Sturz von Ben Ali] kann man im Zentrum von Tunis verhaftet werden,
nur weil man aus Etadhamen kommt.“
Als am Samstag eine Menge von über 1.000 Menschen der Polizeiwache in Hay
Etadhamen gefährlich nahe kam, rückten Radpanzer der Nationalgarde an. Mit
Tränengas versuchten die zahlenmäßig weit unterlegenen Sicherheitskräfte
die Menschen in kleine Gruppen zu trennen. Politische Forderungen waren von
den Demonstranten nicht zu hören. Doch die Wut auf die politische Führung
ist auf der Straße allgegenwärtig.
Dass selbst der als volksnah geltende Präsident Kais Saied am 10. Jahrestag
der Revolution stumm blieb, verwunderte selbst politische Beobachter. Die
Politiker würden die soziale Krise unterschätzen, glaubt Fadi Najoui.
„Viele Unternehmer wie ich haben schon ab Monatsmitte keinen Dinar mehr in
der Tasche. Ich habe schon während des ersten Lockdowns im März meine
Ersparnisse plündern müssen.“
Eine am Samstag verkündete Kabinettsumbildung stieß derweil auf wenig
Interesse. Vor allem auf den neuen 45-jährigen Innenminister Walid Dhabbi
kommen stürmische Zeiten zu. Wenige Stunden nach seiner Ernennung brannten
nur drei Kilometer entfernt im Stadtteil Mellassine die Straßensperren.
17 Jan 2021
## LINKS
[1] /Zehn-Jahre-Arabischer-Fruehling/!5737510
[2] /Justiz-in-Tunesien/!5739167
[3] /Zehn-Jahre-Arabische-Revolution/!5734107
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Tunesien
Tunesien
Tunesien
Antisemitismus
Tränengas
Tunesien
Ägypten
Tunesien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Proteste in Tunesien: System mit Schwächen
Die Proteste in Tunesien richten sich nicht nur gegen Korruption und die
miese Wirtschaftslage. Den Menschen geht es auch um demokratische Reformen.
Protest in Tunesien: Mechichi baut um
In Tunesien reißt der Protest nicht ab, ein Demonstrant erliegt seinen
Verletzungen. Inmitten der Krise ernennt der Regierungschef elf neue
Minister.
Antisemitismus in Tunesien: Juden als Sündenböcke
Präsident Saied soll auch Juden für die sozialen Unruhen in seinem Land
verantwortlich gemacht haben. Jetzt ist er um Schadensbegrenzung bemüht.
Proteste in Tunesien: Neue Generation probt den Aufstand
In Tunesien reißen die Proteste nicht ab. Mehrere Nächte in Folge haben
sich junge Menschen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften geliefert.
Justiz in Tunesien: Unberührt von der Revolution
Vieles hat sich seit dem Sturz Ben Alis im Januar 2011 verändert. Doch das
Verhältnis zwischen Bürger und Staat bleibe gestört, sagen Aktivisten.
Zehn Jahre Arabischer Frühling: Ins Rollen gekommen
Im arabischen Raum sind Autokraten und Herrschereliten unter Druck geraten.
Viele stürzten, andere bekämpften die Bevölkerung. Ein Überblick.
Zehn Jahre Arabische Revolution: Wo der Jasmin verdorrt
Die Kräfte der Restauration sind zurück in Tunesien. Wie sich
Caféhausbesitzer Kais Bouazizi wehrt und warum in einer Oase die Revolution
gesiegt hat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.