Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Experte über EU und arabische Staaten: „Europa braucht Hard Powe…
> Mehr europäisches Militär? Daran kommt nicht vorbei, wer die Lehren aus
> dem Arabischen Frühling ernst nimmt, meint Asiem El Difraoui.
Bild: Bengasi, Libyen: Hier hatte sich Europa 2011 eingemischt, dann folgte –…
Asiem El Difraoui: Fangen wir gleich mal an! Europa ist ein völlig
zahnloser Tiger. Schon zu Beginn des Arabischen Frühlings haben das alle
gesagt, aber diese Europalosigkeit hat sich immer weiter verschlimmert …
taz: … was meinen Sie mit Europalosigkeit?
Dass wir kaum noch Einfluss haben. Unser Einfluss ist in den letzten Jahren
sogar weiter geschwunden. In Libyen haben die Europäer 2011 Gaddafi
gestürzt und überlassen das Feld heute anderen. In Syrien haben wir untätig
zugesehen, als Russland reingrätschte, um das Assad-Regime an der Macht zu
halten. In Ägypten macht Präsident Sisi in Sachen Menschenrechte, was er
will. Und [1][was passiert im Libanon], wo Frankreich traditionell Einfluss
hat und nach der [2][Explosion in Beirut] Reformen gefordert hat? Nichts,
gar nichts.
Wie lässt sich die Europalosigkeit überwinden?
Wir müssen unsere Außen- und Sicherheitspolitik ganz grundsätzlich
überdenken. Wollen wir als Wirtschaftsgroßmacht der Welt in die globale
Bedeutungslosigkeit fallen oder entwerfen wir eine gemeinsame europäische
Strategie? Wir müssen Dinge diskutieren, die extrem wehtun. Unsere
Sicherheitspolitik beschränkt sich auf Frontex, aber das ist keine human
und langfristig angelegte Politik, das ist Feuerlöschen. Die SPD spricht
jetzt von einer EU-Armee, was erst mal nicht falsch ist. Das müssen wir
diskutieren. Die Europäer müssen ernst genommen werden, denn andere
Staaten, die nicht demokratisch sind, bieten in all den Konflikten in
unserer direkten Nachbarschaft Unterstützung an.
Also Schluss mit Demokratie-Workshops und Goethe-Filmtagen und her mit
einer militärisch gestützten Außenpolitik?
Ich will unsere Soft-Power-Instrumente nicht ersetzen. Sie müssen sogar
ausgebaut werden, vor allem die gemeinsamen im Rahmen einer reformierten
EU. Hilfen für die Zivilgesellschaft sind das Stärkste, was wir momentan
haben. Wir bauen Akteure auf, die irgendwann entscheidend sein können in
einen demokratischen Prozess. Aber wir brauchen zusätzlich die Machtmittel,
um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern zu können. Europa braucht
Hard Power, sonst läuft es wie in Ägypten, wo keine politische Stiftung
mehr arbeiten kann. Wir brauchen Hebel.
Zwangsweise militärische?
Keine rein militärischen Hebel, auch wenn die dazugehören. Das Militär ist
ja auch humanitär wichtig, etwa für Schutzzonen. Hard Power beinhaltet aber
auch glaubwürdige Sanktionen gegen Regime, die Menschenrechte verachten. Da
haben wir zu wenig. Wir brauchen das ganze Arsenal einer von den USA
unabhängigen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Partikularinteressen
einzelner EU-Staaten zurückgestellt werden. Die Amerikaner werden im
südlichen Mittelmeerraum auch unter Biden nicht groß Initiative zeigen.
Überlassen wir also der Türkei, den Golfstaaten, Russland und China das
Feld? Alles große Demokraten!
Spielen wir ein Beispiel durch: Ägypten war nach 2011 ein Hoffnungsträger,
bevor 2013 wieder das Militär putschte. Europa unterstützte damals den
ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi, wenn auch nur halbherzig,
weil er Islamist war. Wären wir konsequent gewesen, hätten wir den Putsch
verhindert. Einen bewaffneten Einsatz gegen Ägypten kann aber doch niemand
ernsthaft fordern. Wie kommt man raus aus dem Dilemma?
Außenpolitik ist immer ein Dilemma. Entscheidend im Zusammenhang mit dem
Putsch von 2013 ist doch: Was hat Europa nach dem Sturz des
Muslimbruder-Regimes gemacht? Wir haben nicht die maximalen Daumenschrauben
an Sisi angelegt, sondern haben ihn gewähren lassen. Wir haben nach
Massenverhaftungen und schlimmen Menschenrechtsverletzungen noch nicht
einmal den deutschen Botschafter abgezogen oder den ägyptischen in Berlin
einbestellt.
Und nun [3][regiert Sisi als Diktator wie einst Mubarak].
Wir tolerieren autoritäre Regime in der Hoffnung, dass sie uns Flüchtlinge
vom Leib halten und gegen den extremistischen Islamismus vorgehen. Das ist
keine langfristige Strategie, denn wenn autoritäre Regime dann doch kippen,
ist das Gewalt- und Fluchtpotenzial in den Gesellschaften hoch. In Ägypten
haben wir noch nicht einmal unsere geringen Druckmittel eingesetzt.
Geringe Druckmittel hat die EU in Syrien eingesetzt. Die diplomatischen
Beziehungen nach Damaskus sind bis heute gekappt. Was hat das gebracht?
In Syrien geht es um die nächste Stufe von Hard Power. Der historische
Wendepunkt war erreicht, als weder Obama noch die EU auf Assads
Chemiewaffen reagierten. Ein europäischer Flugzeugträger im Mittelmeer
hätte Assad damals enorm unter Druck gesetzt. Aber europäische
Militärkapazitäten kommen immer erst ins Spiel, wenn es um den sogenannten
Krieg gegen den Terror geht. Eine europäische Intervention kam erst nach
den Anschlägen in Europa. Auf einmal ging dann etwas, aber da war das Ziel
nicht mehr der Schutz der syrischen Zivilbevölkerung, sondern die
Bekämpfung des IS.
Ist Deutschland in Europa der Bremser?
Mit seiner speziellen Geschichte übernimmt Deutschland nur zögerlich die
Verantwortung, die es als große Demokratie und als Wirtschaftsgigant
Europas hat. Man muss der Bevölkerung klarmachen, dass wir nicht weiter
Insel der Glückseligkeit spielen und uns dann wundern können, wenn 500.000
Flüchtlinge kommen. Was wir 2015 erlebt haben, kann wieder geschehen. Wie
also verhindern wir das im Vorfeld? Gerade bei Ihnen in der taz, in der
deutschen Linken muss man das diskutieren. Was wollen wir? Wie setzen wir
das um? Was sind unsere strategischen Optionen?
Allein Frankreich verfolgt eine offensive Außenpolitik in der Region. In
Libyen war es 2011 maßgeblich am Nato-Bombardement beteiligt. Und aktuell
drängt Macron im Libanon auf Reformen.
Der deutsch-französische Stotter-Motor muss wieder rund laufen und eine
zentrale Rolle spielen. Es braucht engere Koordinierung und mehr Mut von
deutscher Seite. Für die Deutschen ist es bequem, das Militärische an die
Franzosen zu delegieren. Kernfrage ist: Was für ein Europa wollen wir haben
in einer multipolaren Welt mit sich überlappenden Krisen von Covid-19 über
den Rechtpopulismus bis zu den Kriegen an Europas Ost- und Südgrenze? Da
müssen mutige Visionen entstehen.
Wenn es um Wandel im arabischen Raum geht, sind Europas Gegenspieler die
Golfstaaten, vor allem Saudi-Arabien und die Emirate. Mit Milliarden haben
sie zum Beispiel al-Sisis Militärregime unterstützt. Reichen Europas
Ressourcen überhaupt aus?
Der Brexit hat uns Europäer extrem geschwächt. Trotzdem ist die EU nach wie
vor die größte Wirtschaftskraft der Welt. Das birgt ein irres Potenzial.
Das Bruttosozialprodukt Saudi-Arabiens ist dagegen nur in etwa so groß wie
das von Baden-Württemberg. Der Unterschied ist, dass Saudi-Arabien massiv
Geld irgendwo reinpumpen kann, wenn die Königsfamilie das entscheidet. Aber
wir haben noch ganz andere Dinge anzubieten, Ausbildung zum Beispiel. Was
hat Saudi-Arabien für ein Know-how? Was kann Saudi-Arabien tun, um das
Schul- oder das Krankenhauswesen in Ägypten oder Libyen zu verbessern?
Nichts.
Fordern Sie eine Art Marshallplan, ein großes sicherheitspolitisch
motiviertes Aufbauprogramm für den Nahen Osten? Die Idee gab es ja schon
2011.
Marshallplan ist eine Worthülse. Aber ja, wir müssen etwas Großes machen.
In der arabischen Welt hat zwar eine Restaurationsbewegung stattgefunden,
aber die sozialen Kräfte und die Hoffnungen sind noch da. Warum haben wir
Europäer keinen gemeinsamen Fernsehsender auf Arabisch? Das wäre nicht so
teuer, vielleicht 20, 30 Millionen im Jahr. Warum stellen wir nicht für den
gesamten südlichen Mittelmeerraum Ausbildungsprogramme zur Verfügung? Wir
machen immer nur Klein-Klein, uns fehlt eine strategisch-humanitäre Vision.
Wir haben nicht verstanden, dass die Mittelmeerstaaten unsere direkten
Nachbarn sind. Das sind Menschen, die die gleichen Aspirationen haben wie
wir: Sicherheit, Selbstverwirklichung, Menschenwürde – all diese
Forderungen des Arabischen Frühlings. Die teilen extrem viel mit uns, aber
uns fehlt es an Bewusstsein und an politischen Instrumenten, um sie wirksam
zu unterstützen.
17 Dec 2020
## LINKS
[1] /Libanon-in-der-Krise/!5723007
[2] /Nach-Explosion-in-Beirut/!5700273
[3] /Menschenrechte-in-Aegypten/!5736648
## AUTOREN
Jannis Hagmann
## TAGS
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Europäische Union
Schwerpunkt Libyenkrieg
Ägypten
Feminismus
Tunesien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Übergangsregierung für Libyen: Per Votum raus aus dem Krieg
An einem geheimen Schweizer Ort versuchen die libyschen Kriegsparteien,
eine Übergangsregierung zu wählen. Darauf folgen soll eine richtige Wahl.
Zehn Jahre Arabischer Frühling: Ins Rollen gekommen
Im arabischen Raum sind Autokraten und Herrschereliten unter Druck geraten.
Viele stürzten, andere bekämpften die Bevölkerung. Ein Überblick.
Protest von Tunesien bis Libanon: Die Frau mit dem Megafon
In Tunesien nahm sie 2011 erstmals ein Megafon in die Hand. Auch zehn Jahre
später protestiert Roula Seghaier noch für die Frauenrechte in Libanon.
Zehn Jahre Arabische Revolution: Wo der Jasmin verdorrt
Die Kräfte der Restauration sind zurück in Tunesien. Wie sich
Caféhausbesitzer Kais Bouazizi wehrt und warum in einer Oase die Revolution
gesiegt hat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.