# taz.de -- Nach Explosion in Beirut: Stimmen aus einer verwüsteten Stadt | |
> Eine gigantische Explosion hat die halbe Hauptstadt des Libanon zerstört. | |
> Die Anwohner*innen fühlen sich im Stich gelassen. | |
Bild: Wüstes Land: Beirut nach der Explosion | |
Am Mittwoch ist Beiruts beliebte Ausgehmeile in Mar Mikhael vom Militär | |
abgeriegelt. Glasscherben, Holzstäbe und Mauerbrocken liegen auf den | |
Gehwegen. Eine Bankfiliale ist mit Holzplatten verrammelt, eigentlich als | |
Schutz vor Angriffen durch [1][Protestierende, die den Einfluss der Banken | |
als Ursache der Finanzkrise] sehen, die das Land plagt. Nun liegen die | |
Bretter auf dem Gehweg. Arbeiter ziehen zersprungene Scherbenplatten vom | |
Teppich auf die Treppe, flexen die Bretter zum Abtransport. | |
Die Studentin Stephanie Bakalian lebt in der Nachbarschaft, die für ihre | |
Bars, Restaurants und Geschäfte bekannt ist. „Ich war elf Jahre alt, als | |
wir 2006 im Krieg mit Israel waren. Ich kann das Geräusch von Feuer, | |
Erdbeben und Explosionen unterscheiden“, sagt sie. Es war kurz nach 18 Uhr | |
am Dienstag, als Bakalian einen gewaltigen Schlag hörte. | |
Die 26-Jährige legte ihre Hände an den Kopf, doch bevor sie sich auf den | |
Boden legen konnte, wurde sie durch eine Druckwelle zurückgestoßen. So | |
erinnert sie sich, keine 24 Stunden nachdem die libanesische Hauptstadt von | |
der Explosion auf dem Hafengelände der Stadt heimgesucht wurde. | |
Als Bakalian realisierte, dass es eine Explosion war, ging sie auf die | |
Straße. „Ich studiere Psychologie und wollte die Menschen unterstützen“, | |
sagt sie. „Ich habe sieben Menschen geholfen, ein Taxi zu bekommen und ins | |
Krankenhaus zu fahren.“ | |
## Von der Regierung enttäuscht | |
Auch mehrere Krankenhäuser wurden bei der Detonation zerstört: Aus dem nahe | |
dem Hafen gelegenen St.-George-Universitätsklinikum wurden die Kranken | |
evakuiert. Eine Wand stürzte ein, vier Pflegerinnen wurden getötet, eine | |
von ihnen war Bakalians Klassenkameradin. | |
Am Tag nach der verheerenden Explosion steigt die Zahl der Todesopfer nach | |
Angaben des Roten Kreuzes auf mehr als 100. Über 4.000 Menschen sind | |
verletzt, mehr als 100 Personen am Mittwoch noch vermisst. Fast die halbe | |
Stadt habe Schäden erlitten, sagte Beiruts Gouverneur Marwan Abbud. Bis zu | |
300.000 BewohnerInnen Beiruts könnten obdachlos geworden sein. Die Höhe der | |
Schäden schätzte Abbud auf 3 bis 5 Milliarden US-Dollar. Auf genaue Zahlen | |
wollte sich einen Tag nach der Katastrophe noch niemand festlegen. | |
Bakalians Famile gehört eine Konditorei in Mar Mikhael. Der Ofen im ersten | |
Stock durchbrach durch den Druck der Explosion die Decke. Gegenüber | |
befindet sich das Geschäft des Schuhmachers Jirayir Kreyan. Wegen der | |
Coronapandemie lief sein Geschäft ohnehin schon schlecht, berichtet er. | |
Doch nun müsse er seinen Laden aufräumen und könne auf unbestimmte Zeit | |
nicht mehr arbeiten. Die Fensterscheibe ist herausgefallen, Holzregale sind | |
aus den Wänden gekracht, alles ist verstaubt. „Uns hilft hier niemand“, | |
sagt Kreyan. „Die Regierung ist nicht für uns da, die Polizei informiert | |
uns nicht, was los ist, und niemand packt mit an. Nur noch Gott kann uns | |
helfen“, sagt der 37-Jährige enttäuscht. | |
## Eine orange Pilzwolke | |
Dabei war die Regierung unter Ministerpräsident Hassan Diab mit ersten | |
Informationen schon am Dienstagabend an die Öffentlichkeit gegangen. Nach | |
Angaben libanesischer Behörden entzündeten sich 2.750 Tonnen | |
Ammoniumnitrat, die seit Jahren im Hafen gelagert haben sollen. | |
Zunächst brannte offenbar eine Lagerhalle ab, es kam zu kleineren | |
Explosionen und schließlich zu einer riesigen Detonation. [2][Auf Videos | |
von Anwohnenden ist zu sehen], wie sich eine gigantische orangefarbene | |
Pilzwolke am Himmel über der Stadt ausbreitete. | |
In der ganzen Stadt war ein Beben spürbar. Das Deutsche | |
Geoforschungszentrum verglich die Erschütterung mit einem Erdbeben der | |
Stärke 3,5. Laut Medienberichten war die Detonation selbst im rund 200 | |
Kilometer entfernten Zypern noch zu hören und zu spüren. | |
Durch die Druckwelle zersprangen Glasscheiben in kilometerweiter | |
Entfernung, Türen fielen aus den Angeln, Balkone stürzten ab. Vor allem | |
betroffen sind aber Beiruts innere Stadtbezirke. | |
## Schutzlos gelagert | |
Der libanesische Präsident Michel Aoun sagte am Mittwoch zu, die | |
Hintergründe der Explosion so schnell wie möglich aufklären zu lassen. Die | |
Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen werden. Zuständig für die | |
Aufklärung sei eine Ermittlungskommission. | |
Zu klären sein dürfte vor allem, wie die 2.750 Tonnen hochexplosiven | |
Ammoniumnitrats, von denen die Behörden sprechen, auf das Hafengelände | |
gelangten – und warum das Material dort jahrelang ohne oder unter | |
ungenügenden Schutzmaßnahmen lagerte. | |
Der Nachrichtensender Al Jazeera und andere Medien berichteten am Mittwoch, | |
der Stoff stamme von einem Frachtschiff, dem libanesische Behörden im Jahr | |
2013 wegen verschiedener Mängel die Weiterfahrt untersagt hätten. | |
Das Schiff sei damals von Georgien aus ins südafrikanische Mosambik | |
unterwegs gewesen Der Crew sei nach einem juristischen Streit die Ausreise | |
genehmigt worden, das Schiff aber blieb zurück – und so auch die | |
gefährlichen Ladung. [3][Ammoniumnitrat dient der Herstellung von | |
Düngemitteln, Raketenantrieb und Sprengstoff.] Es kann bei höheren | |
Temperaturen detonieren. | |
## Vor der Aufarbeitung | |
Das Heikle: Libanesische Behörden sollen seit Jahren Bescheid gewusst haben | |
und explizit gewarnt worden sein, doch offenbar tat sich nichts. Laut | |
Gouverneur Abbud wurde in einem Bericht von 2014, über den auch [4][Al | |
Jazeera berichtet, sogar vor einer Explosion gewarnt]. Sollten sich diese | |
Hinweise verdichten, dürften Libanons Regierung und das gesamte Land vor | |
einer schwierigen Aufarbeitung der Katastrophe stehen. | |
Für Beirut wurde ein zwei Wochen langer Notstand ausgerufen. Der Oberste | |
Verteidigungsrat des Landes erklärte die Stadt zur „Katastrophenzone“. | |
Libanon trifft die Detonation zu einer empfindlichen Zeit, steckt das Land | |
doch ohnehin in einer Krise. | |
Nicht nur steigt die Zahl der Corona-Infektionen alarmierend, Libanon | |
steckt auch in der schwersten Wirtschaftskrise seit Ende des Bürgerkriegs | |
1990. Die lokale Währung hat 80 Prozent ihres Werts eingebüßt, Tausende | |
verloren ihre Arbeit. Die Zahl der in Armut lebenden Menschen ist | |
gestiegen, viele können sich Lebensmittel infolge der Inflation nicht mehr | |
leisten. Die jüngsten Ereignisse dürften die Krise noch verschärfen. | |
Mitarbeit: Jannis Hagman | |
5 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-im-Libanon/!5681462 | |
[2] https://twitter.com/AJEnglish/status/1290909982058315779 | |
[3] /Explosion-am-Hafen-von-Beirut/!5705542 | |
[4] https://www.aljazeera.com/news/2020/08/officials-knew-danger-beirut-port-ye… | |
## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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