# taz.de -- Explosion im Libanon: Totales Staatsversagen | |
> Die Katastrophe zeigt, dass die Politik im Libanon vollends gescheitert | |
> ist. Die Regierenden hatten das Vertrauen in den Staat schon zuvor | |
> verspielt. | |
Bild: Die Menschen in Beirut sind auf sich allein gestellt | |
Kairo taz | Die Szene, als der französische Präsident Emmanuel Macron bei | |
seinem Kurzbesuch in Beirut durch die Menschenmassen des dem Hafen | |
angrenzenden [1][schwer beschädigten Viertels Gemayze] zog, war in | |
vielerlei Hinsicht bemerkenswert. | |
Es war nicht nur der Albtraum seiner Sicherheitsleute, dass ihr Chef mitten | |
in der libanesischen Hauptstadt mit den Menschen auf Tuchfühlung ging. Es | |
war auch der Albtraum seines ihn begleitenden Gastgebers, des libanesischen | |
Präsidenten Michel Aoun. Denn die Bewohner des Viertels besannen sich auf | |
den alten Slogans der Arabellionen 2011 und riefen: „Das Volk will des | |
Sturz des Systems“. | |
Die Visite machte auch das Scheitern der libanesischen Politik nach der | |
Explosion deutlich. Es war der Franzose, der mit den Menschen auf der | |
Straße in Beirut sprach. „Ich sehe die Emotionen in euren Gesichtern, eure | |
Traurigkeit und euren Schmerz. Deshalb bin ich gekommen“, erklärte er, | |
während er Hände schüttelte – in einer Straße, in der zum Teil noch der | |
Schutt herumlag und die Geschäfte noch keine neuen Fensterscheiben hatten. | |
Von den libanesischen Politikern hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt keiner | |
auf der Straße blicken lassen. Dafür haben sie gute Gründe. Es ist das von | |
ihnen geschaffene korrupte und inkompetente System, dass die Libanesen für | |
das Explosions-Desaster verantwortlich machen. | |
## Seitenhieb auf den Gastgeber | |
Macron erklärte mit einem Seitenhieb auf seinen Gastgeber, dass das | |
libanesische Boot sinken werde, wenn es nicht ernsthafte politische und | |
wirtschaftliche Reformen gebe. „Was wir hier brauchen ist politische | |
Veränderung. Die Explosion sollte der Beginn einer neuen Ära sein“, sagte | |
er. | |
Im staatlichen libanesischen Vakuum versuchte Marcon als Retter zu punkten. | |
Nicht alle empfingen den Franzosen freundlich. Aber fast alle buhten Aoun, | |
den Präsidenten des eigenen Landes, aus. Er hatte nichts zu bieten und | |
seine Behörden werden für die fahrlässige Lagerung der Chemikalien | |
verantwortlich gemacht, die zu der Katastrophe geführt hat. | |
Die einstige Kolonialmacht und Macron hatten wenigsten Hilfslieferungen und | |
ein paar nette Worte zu bieten. Dass der fremde Staatschef zu glänzen | |
suchte, während der eigene nur mit den Zähnen knirschen konnte, zeigt wie | |
groß das Misstrauen vieler Libanesen gegen die eigenen Institutionen ist. | |
Dass niemand mehr im Libanon dem Staat traut, geht auf eine jahrelange | |
Erfahrung der Menschen zurück, dass die politische Elite und die hohen | |
Beamten einfach nur in ihre eigenen Taschen gewirtschaftet haben. Damit | |
haben sie das Land schon vor der Corona-Krise ausgeraubt und wirtschaftlich | |
in die Knie gezwungen. | |
## Vertuschung staatlicher Fehler | |
Die Menschen trauen dem Staat auf keiner Ebene. Sie trauen ihm nicht zu, | |
dass er die Ursache der Explosion wirklich untersucht. So sind wenige Tage | |
nach der Explosion die Rufe nach einer unabhängigen ausländischen | |
Untersuchungskommission laut geworden. Auch das ist das Ergebnis jahrelange | |
Cover-Ups und Vertuschungen staatlicher Fehler. Jeder Libanese weiß, dass | |
staatliche Stellen im Libanon selten zur Rechenschaft gezogen werden. | |
Das geht soweit, dass die Libanesen fordern, dass [2][internationale | |
Hilfsgelder], die jetzt bereitgestellt werden, nicht über libanesische | |
staatliche Stellen verteilt werden sollen. Sie fürchten auch hier wieder | |
bestohlen zu werden. Dabei bräuchten sie gerade jetzt, bei diesem | |
wahnsinnigen Ausmaß der Katastrophe, mehr denn je einen funktionierenden | |
Staat. | |
Genau das ist ihr Dilemma. Sie wissen, dass die Probleme, unter denen sie | |
leiden, nicht gelöst werden können von der gleichen korrupten Elite und | |
einem konfessionellen System aus sich bereichernden Familienclans, die | |
diese Probleme erst geschaffen haben. | |
Nachbarschaftskomitees und zivilgesellschaftliche Organisationen, die | |
gerade beim Aufräumen und bei der Versorgung helfen, können aber bei der | |
Megaaufgabe, Beirut wieder auf die Beine zu bringen, keinen Staat ersetzen. | |
## Kein zentrales Krisenmanagement | |
Der aber erweist sich einmal mehr als Totalausfall. Es gibt kein zentrales | |
Krisenmanagement. Es gibt nicht einmal zentrale Vermisstenlisten. Es ist | |
das totale Scheitern des Staates, dass die Libanesen schon lange kennen, | |
und das bei einer solchen Katastrophe verhängnisvoll ist. | |
In den Tagen nach der Explosion waren die Menschen auf sich selbst gestellt | |
und es war herzzerreißend ihre Geschichten zu hören, wie sie von | |
Krankenhaus zu Krankenhaus zogen, um ihrer Angehörigen zu finden oder am | |
Eingang zum abgesperrten Hafen warteten. Stets mit der Hoffnung, doch | |
durchgelassen zu werden, um selbst unter den Trümmern nach den Vermissten | |
zu suchen. | |
Und selbst bei dem auf sich selbst gestellt sein, werden ihnen Steine in | |
den Weg gelegt. Wohnungen von bis zu 300.000 Menschen wurden zerstört und | |
beschädigt. Dafür gibt es bisher keinerlei staatliche Hilfen. Die Leute | |
müssen auf ihre privaten Vermögen zurückgreifen – zumindest, um zunächst | |
das Nötigste zu reparieren. | |
Das Problem dabei: Die meisten Libanesen haben Dollar-Konten. Von dort | |
dürfen sie nur eine begrenzte Summe abheben und bekommen nur zu einem | |
absolut schlechten Wechselkurs libanesische Lira. Der Bankkurs zum Dollar | |
sind 3500 libanesische Lira, der Wert auf dem Schwarzmarkt ist weit mehr | |
als doppelt so hoch. Die Handwerker und das Material für die Reparaturen | |
müssen sie aber zu Marktpreis bezahlen. | |
6 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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