| # taz.de -- Explosion in Beirut: Wenn sich der Zorn entlädt | |
| > Die Explosion von Beirut ist eine Zäsur: Sie könnte die | |
| > Günstlingswirtschaft im Libanon beenden und die Revolte befördern. | |
| Nachdem der erste Schock vorbei war, wurden die Libanesen von einer | |
| unglaublichen, schier homerischen Wut ergriffen angesichts von | |
| [1][Fahrlässigkeit, Korruption und krimineller Unterlassungssünden der | |
| „Verantwortlichen“], deren Verhalten zur Zerstörung der Hälfte von Beirut | |
| geführt hat. | |
| Nichts vermag sie zu trösten, nichts zu befrieden, sie würden diejenigen, | |
| die sie regieren, am liebsten eigenhändig erwürgen. Der eigentlich | |
| vernünftige Fifi Abou Dib, Leitartikler der französichsprachigen | |
| Tageszeitung L`Orient-le-Jour, fordert, dass die „verzweifelten Massen | |
| schon einmal den Galgen vorbereiten“, der Blogger Samer Frangie schlägt | |
| vor, man möge die Glasscherben, die auf den Straßen liegen, aufsammeln und | |
| aufbewahren und – sollte der Tag kommen – in die Gräber der | |
| Verantwortlichen werfen. | |
| Ein anderer schlägt angesichts von [2][Hundertausenden Beirutern, die sich | |
| jetzt auf der Straße wiederfinden], vor, die Luxushotels der Regierenden | |
| anzugreifen, um diese aus ihren Betten zu zerren. Erst dann könne man von | |
| einer Revolution sprechen. Und der Schriftsteller Elias Khoury schreibt: | |
| „Wir werden euch mit unseren brennenden Körpern konfrontieren, mit unseren | |
| von Blut verschmierten Gesichtern und ihr werdet mit uns in diesen Ruinen | |
| untergehen.“ Der Journalist Antoine Courban, der bei der Explosion nur | |
| leicht verletzt wurde, konnte seine Wut nur ausdrücken, indem er auf | |
| Facebook ohne weiteren Kommentar eine endlose Tirade Schimpfwörter postete | |
| – und davon hält die arabische Sprache weit mehr bereit als das Deutsche | |
| oder das Französische. | |
| Für diejenigen, die immer noch so tun, als ob sie im Namen des | |
| libanesischen Volks sprechen, ist die zugesagte internationale Hilfe ein | |
| Glücksfall. „Zweifellos reiben sie sich schon die Hände angesichts der | |
| Hilfen, die kommen werden“, schreibt Fifi Abou Dib. Das geballte Unglück, | |
| das sie über uns gebracht haben, hat auch die letzten Steine am Ende der | |
| Welt umstürzen lassen. Zweifellos verhandeln sie schon über die Verteilung | |
| und darüber, wie viel jede Gemeinschaft bekommen wird, die sie selbst | |
| verkörpern. | |
| ## „Nehmt unseren Präsidenten mit“ | |
| Schon einen Tag nach dem Drama reiste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron | |
| nach Beirut, um sein Mitgefühl auszudrücken. „Wenn ihr uns helfen wollt“, | |
| schreibt ihm ein Blogger, „dann nehmt unseren Präsidenten in euren Koffern | |
| mit und befreit uns von ihm.“ Sowohl in den sozialen Netzwerken als auch im | |
| Radio und im Fernsehen ist nur noch das Wort frei in diesem ruinierten und | |
| zerstörten Land. | |
| Nach 20 Jahren Abwesenheit wegen einer gewissen Abscheu hatte ich im | |
| vergangenen Oktober ein Flugzeug nach Beirut genommen. Das ist erst neun | |
| Monate her, erscheint mir aber heute wie eine Ewigkeit. Die „Revolution“ | |
| begann an Fahrt aufzunehmen und ich traute meinen Augen nicht: Menschen | |
| aller Konfessionen marschierten Seite an Seite, blockierten öffentliche | |
| Plätze, organisierten Menschenketten von Norden nach Süden und schrien | |
| ihren Regierenden entgegen: „Alle! Alle heißt auch wirklich alle!“ | |
| Das politische System, das auf der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft fußt | |
| und so viele Krisen und Kriege überlebt hat, brach in den Köpfen auf einen | |
| Schlag zusammen. Wie in einer Art Erleuchtung, sei es nun bei Christen, | |
| Drusen, schiitischen oder sunnitischen, hatte die Bevölkerung plötzlich | |
| eins begriffen: Dass die Machthaber, fast alle ehemalige Chefs der | |
| Kriegsmilizen, die dann in die Politik gegangen waren, ein Kartell gebildet | |
| hatten, das sich den Kuchen aufteilte und dank einer allgemeinen | |
| Günstlingswirtschaft jedem von ihnen Einfluss auf „seine Gemeinschaft“ | |
| sicherte. | |
| Da überwiegend aus dem Ausland finanziert, funktionierte diese | |
| Günstlingswirtschaft aber nicht mehr. Saudi-Arabien wollte nicht mehr für | |
| „seine“ sunnitischen Libanesen zahlen, weil es Riad widerstrebte, Geld in | |
| ein Land zu schicken, das zu Recht als zu drei Viertel von Iran | |
| kontrolliert gilt. Der Iran, stranguliert durch US-Sanktionen, hatte nicht | |
| mehr genügend Geld, um für „seine“ Schiiten zu bezahlen. [3][Hinzu kam ei… | |
| bedeutende Finanzkrise], da der libanesische Staat seine Ausgaben | |
| finanzierte, indem er über die Zentralbank höhere als die marktüblichen | |
| Zinsen anbot. | |
| ## Die Ponzi-Masche | |
| Die Rückzahlung von Schulden wurde durch neue Anleihen finanziert. Das ist | |
| das bekannte betrügerische Schema, die sogenannte Ponzi-Masche (benannt | |
| nach dem italienischen Immigranten in den USA, Charles Ponzi, einem der | |
| größten Betrüger seiner Zeit; d. Red.,) die eines Tages zusammenbrechen | |
| musste. Und genau das ist passiert. Doch was auch immer der Ursprung | |
| gewesen sein mag: Die abgesahnten Gelder füllten nicht nur die Taschen der | |
| Regierenden, sie finanzierten auch deren weit verzweigte einflussreiche | |
| Netzwerke – will heißen; das System der Günstlingswirtschaft an sich. | |
| Als die Ressourcen versiegten, wurden die Schwierigkeiten für die normalen | |
| Bürger, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen, einen Arbeitsplatz zu | |
| finden, eine Wohnung zu mieten, die Kinder in die Schule zu schicken und | |
| für die medizinische Versorgung zu zahlen, unerträglich. | |
| Dreißig Jahre nach dem Bürgerkrieg schaffte es der Staat nicht, den Abfall | |
| wegräumen zu lassen oder die Menschen kontinuierlich mit Trinkwasser und | |
| Strom zu versorgen. Ganz zu schweigen von dem bitteren Elend derer, die | |
| völlig mittellos sind, und den Kindern, die auf der Suche nach etwas | |
| Essbarem den Müll durchwühlen. Plötzlich und überstürzt gab es einen | |
| allgemein Überdruss, genug ist eben genug und die Wut ist explodiert. Es | |
| braucht schon Schläue, um diese Wut wieder einzufangen. | |
| Wie haben die Machthaber reagiert? Sie gingen in Deckung und hofften | |
| darauf, der Bewegung werde langsam die Luft ausgehen. Sie schickten Flegel, | |
| um den Aufstand niederzuschlagen und Zusammenstöße zu provozieren, die den | |
| gewaltlosen Geist, der eben diesen Aufstand beseelt hatte, zu zerstören. | |
| Und sie führten ein Bankensystem ein, das den Menschen nur in ganz | |
| begrenztem Ausmaß den Zugang zu ihrem eigenen Geld ermöglichte. | |
| ## Zeichen des Protestes ausgelöscht | |
| Gleichzeitig verflüchtigten sich die Milliarden Euro der Mächtigen in | |
| Richtung ausländischer Konten. Als die Coronakrise ausbrach und die | |
| Menschen zu Hause bleiben mussten, profitierte die Staatsmacht auch davon: | |
| Plätze wurden geräumt und alle Zeichen des Protests, die noch da waren, | |
| ausgelöscht. Man tat so, als sei nichts gewesen. | |
| In den Ruin getrieben, hat sich der Staat letztlich in der | |
| Zahlungsunfähigkeit wiedergefunden und die nationale Währung ist | |
| eingebrochen. Von einem Tag auf den anderen stürzte dies die Bevölkerung in | |
| extreme Armut. Wenn dann der Bestand von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, | |
| wiederholten Warnungen zum Trotz illegal im Hafen von Beirut eingelagert, | |
| detoniert und dabei die Hälfte der Stadt zerstört, versteht man, warum | |
| Mordlust einen guten Teil der Bevölkerung erfasst hat. Aber wenn die | |
| Ablehnung auch allgemein ist, sie zielt im Besonderen auf die Hisbollah, | |
| die, wie stadtbekannt ist, vor einigen Jahren die Kontrolle über einen | |
| großen Teil des Beiruter Hafens übernommen hat. Fern jeder Kontrolle durch | |
| die Staatsgewalt hat es ihr diese Aneignung erlaubt, Waffen und Flugkörper | |
| in das Land zu schleusen, die ihr der Iran liefert, unter dem Vorwand des | |
| „Kampfes gegen Israel“. | |
| Jede Reform des libanesischen Systems stößt unweigerlich auf die Frage nach | |
| den Waffen der Hisbollah, die die schiitische Organisation behauptet zu | |
| bewahren, komme was wolle. Nun hat der alternde (christliche) Präsident der | |
| Republik, Michel Aoun, genau wie sein gieriger Schwiegersohn, der davon | |
| träumt, ihn abzulösen, einen Bund mit der Hisbollah geschlossen und hat | |
| damit eine Machtstruktur zementiert, die fast unmöglich aufzubrechen ist – | |
| während die Leute auf der Straße Hunger haben. | |
| ## Explosionspilze mit Turban | |
| Die Kontrolle des Hafens hat der „Partei Gottes“ auch erlaubt, wesentliche | |
| Vorteile daraus zu schlagen, dass das Gros der im Libanon verbrauchten | |
| Produkte über diesen Weg eingeführt wird. Da sie für den Tatort, den Hafen, | |
| wo sich die entsetzliche Explosion ereignet hat, zuständig ist, hat die | |
| schiitische Partei infolgedessen eine besondere Verantwortung. Eine in den | |
| sozialen Medien weit verbreitete Karikatur zeigt das Bild der pilzförmigen | |
| Explosion frisiert mit dem Turban der Ajatollahs – und dem Untertitel: | |
| „Raus!“ | |
| Aber wir müssen kurz auf den Ausgangspunkt zurückkommen, die besagte | |
| Revolution des 17. Oktober 2019, die zwar die Libanesen wie noch nie | |
| zusammengebracht hat, sich aber als unfähig herausstellte, die herrschende | |
| Ordnung umzustoßen. Dank der sozialen Netzwerke hat ihre horizontale | |
| Struktur das Entstehen und die Verbreitung Tausender Initiativen erlaubt. | |
| Gleichzeitig verbot sie logischerweise das Auftauchen einer Führung, die in | |
| ihrem Namen gesprochen hätte. Diese Bewegung wollte keinen Chef. Sie | |
| spürte, dass sie ihre Seele und spezifische Besonderheit verloren hätte, | |
| wenn sie die Repräsentationsmacht an bestimmte Personen delegiert hätte. | |
| Das war ihre Stärke, aber offensichtlicherweise auch ihre Schwäche – | |
| besonders angesichts von Haifischen, die lieber ihr Land untergehen lassen | |
| würden, als die Macht abzugeben. Beinahe alle Volksaufstände dieses | |
| Jahrhunderts, von den USA über Chile bis zum Arabischen Frühling, sind auf | |
| dieselbe Art und aus denselben Gründen gescheitert. Nur in Tunesien lief es | |
| anders, nicht ohne Schwierigkeiten, genau wie im Sudan, wo die | |
| Berufsverbände im Verborgenen agierend, ein Gegengewicht zu bilden, das den | |
| Lauf der Dinge beeinflussen kann. Für alle anderen läuft es schlecht, aber | |
| die Partie ist noch nicht zu Ende gespielt. | |
| Ungeachtet der Enttäuschungen und Frustrationen, zeigt das unaufhörliche | |
| Wiederaufleben dieser Art der Revolte, dass die Staatengemeinschaft dabei | |
| ist, einen Ausweg zu finden, während sich der Kapitalismus, der uns | |
| regiert, kaum fähig zeigt, den großen Herausforderungen zu begegnen. In | |
| dieser Hinsicht sind die Libanesen gezwungen, trotz des Schmerzes, der | |
| Toten und der Obdachlosigkeit von Hunderttausenden ein bisschen mehr als | |
| die anderen zu suchen. Es ist ihre traurige Ehre. Denn was sich im Libanon | |
| abspielt, ist größer als der Libanon. | |
| Aus dem Französischen Eva Oer und Barbara Oertel | |
| 8 Aug 2020 | |
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