# taz.de -- Beirut, Berlin und Washington: Dankbar für ein bisschen Staat | |
> Im Libanon klagen die Menschen über den schwachen Staat. In Deutschland | |
> und den USA kann einigen der Kampf dagegen nicht schnell genug gehen. | |
Bild: Selbsthilfe: Menschen in Beirut nach der Explosion im Hafen | |
Im Englischen gibt es die Redewendung – Winston Churchill soll sie über | |
Stalins Russland gesagt haben –, etwas sei ein Rätsel, das in ein Geheimnis | |
gehüllt ist, welches von einem Mysterium umgeben ist. Der Libanon ist seit | |
dieser Woche ein Unglück, das von einer Katastrophe umhüllt ist, welche | |
ganz tief im Schlamassel steckt. Da [1][fliegt die halbe Hauptstadt in die | |
Luft], während die dort Lebenden ohnehin schon nicht wissen, wie sie mit | |
einer Pandemie, einer Wirtschaftskrise, einem Staatsversagen und einer | |
Million Flüchtlinge aus dem vom Bürgerkrieg zerstörten Nachbarland Syrien | |
fertig werden sollen. | |
Und das alles nur, weil ein alter Seelenverkäufer, der allenfalls für die | |
Ostsee tauglich wäre, vor sieben Jahren mit einer Ladung hochgefährlicher | |
Chemikalien vom Schwarzen Meer nach Mosambik schippern wollte, aber schon | |
vor der libanesischen Küste außer Puste geriet und den Hafen von Beirut | |
anlief. | |
Was dann geschah, liest sich [2][wie das Drehbuch für einen billigen | |
Agententhriller]: Das Schiff hatte nicht die erforderlichen Papiere für | |
seine Fahrt und wurde festgesetzt. Die Besatzung wurde vom Schiffseigner | |
nicht weiter bezahlt, durfte aber lange nicht von Bord, weil dann niemand | |
mehr für die Ladung verantwortlich gewesen wäre. Und der Eigner, ein | |
russischer Geschäftsmann – was eindeutig eine beschönigende Beschreibung | |
ist –, erklärte Insolvenz und antwortete nicht mehr auf Anfragen. | |
Er soll heute mit seiner Frau auf Zypern leben. Es ist nicht klar, ob das | |
Foto einer sibirischen Zeitung, das ihn in Jeans und T-Shirt grinsend mit | |
breiter Sonnenbrille auf einem fetten Motorrad zeigt, auf der | |
Mittelmeerinsel entstanden ist. Wie ein Mensch mit schlechtem Gewissen | |
sieht dieser Mann jedenfalls nicht aus. | |
Die Ladung jedenfalls wanderte vom Schiff in eine Lagerhalle am Kai des | |
Beiruter Hafens und wurde dort neben einer größeren Menge Feuerwerkskörper | |
aufgestapelt. Die Leute, die dann vor ein paar Tagen mit Schweißarbeiten an | |
der Lagerhalle anfingen, wussten offenbar nicht, in welche Gefahr sie sich | |
begaben. | |
Beirut bezahlt den Preis. Auch wenn ich es selbst nie dorthin geschafft | |
habe, erscheint mir die Stadt vertraut von so vielen Erzählungen von | |
Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen 40 Jahren dort tätig | |
waren. Sie berichteten über die Jahre, in denen die PLO dort ihren | |
Hauptsitz hatte, bis sie 1982 aus dem Libanon abziehen musste. | |
Richtig unter die Haut ging mir Beirut dann [3][bei dem Massaker von Sabra | |
und Schatila], als Milizen der christlichen Falangisten mehr als tausend | |
Palästinenser:innen umbrachten. Ich weiß noch, wie mir der mit dem Libanon | |
sehr vertraute taz-Sonderkorrespondent Reinhard Hesse seine Recherche per | |
Telefon durchdiktierte. Es wurde eine Doppelseite, die genau | |
rekonstruierte, wie der Hass der Falangisten in schiere Mordlust | |
umgeschlagen war. | |
So belauern sich seit Jahrzehnten die Konfessionen und Clans misstrauisch, | |
dass niemand sich etwas davon greift, was jemand anderem vermeintlich als | |
Pfründe zusteht. Diesen Donnerstag [4][erzählte der wunderbare Regisseur | |
Volker Schlöndorff, der Beirut seit den 60er Jahren kennt, im | |
Deutschlandfunk Kultur] von den Dreharbeiten dort für seinen Film „Die | |
Fälschung“, der von einem in den Libanon entsandten Journalisten handelt. | |
Ein 13-jähriger Knirps habe damals ihre Drehgenehmigung in kleine Schnipsel | |
zerrissen. „Jeder klaut sich ein Stück vom Staat, wenn es keine | |
Zentralmacht gibt.“ | |
Jetzt, das sah man diese Woche in der „Tagesschau“, organisieren junge | |
Aktivist:innen das, wozu man eigentlich einen Staat hat, also die | |
Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, mit Brot, mit Wasser, mit | |
Medikamenten. Wie es aussah, gelingt ihnen dies trotz aller Widrigkeiten | |
erst einmal recht gut. Unglaublich, was Menschen schaffen, wenn sie an | |
einem Strang ziehen. | |
Wahrscheinlich wären die Libanes:innen dankbar für auch nur eine | |
Vorspeisenportion von dem Staat, den ein kleines Segment vornehmlich | |
schwäbischer [5][Demonstrant:innen am vorigen Wochenende in Berlin als so | |
unerträglich unterdrückerisch dargestellt hat.] Da sorgen unsere Behörden | |
für ein paar Regeln im Umgang mit einer Gefahr, die erst mal abstrakt | |
erscheint, aber dennoch real ist. Eine Maske tragen? Das ist Diktatur! Ach | |
je. | |
Nein, Covid-19 haben sich nicht Jens Spahn oder Angela Merkel ausgedacht, | |
liebe Hygiene-Demonstrant:innen, um ihre Macht über euch auszuweiten. Sie | |
hatten auch ohne das Coronavirus genug Probleme. | |
Auch in den USA gibt es viele, die nichts vom Staat halten. Der | |
konservative Lobbyist und Besteuerungsgegner Grover Norquist sagte einmal, | |
er wolle den Staat so klein kriegen, dass er ihn in der Badewanne ertränken | |
kann. Donald Trump hat ihn als Präsident jedenfalls so weit der | |
Lächerlichkeit preisgegeben, das heute kaum jemand darüber traurig wäre, | |
wenn sein Regierungsapparat gurgelnd im Abfluss verschwände. | |
Da kann Joe Biden, sollte er Trump im November tatsächlich aus dem Weißen | |
Haus verdrängen, jede Hilfe gebrauchen, um zu retten, was zu retten ist. | |
Eine schlaue Frau möge mit ihm ins Weiße Haus einziehen! Dazu müssten | |
einfach nur die Hälfte der Wähler:innen in den USA einen Tag lang an einem | |
Strang ziehen. Das sollte doch zu schaffen sein. | |
9 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Schaaf | |
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