# taz.de -- Sozialproteste im Libanon: Gegen die Korruption vereint | |
> Tausende Menschen fordern ein Ende der Politik für Reiche im Libanon. | |
> Ministerpräsident Saad Hariri bietet ihnen nun ein Reformpaket an. | |
Bild: Seit fünf Tagen im Protest-Modus: Demonstrant*innen in Beirut rufen „R… | |
BEIRUT taz | Das „Große Theater“ in der Beiruter Innenstadt hat schon lange | |
keine Fensterscheiben mehr, die Eingänge sind mit Barrikaden versperrt. | |
Seit das Gebäude vor 30 Jahren im Bürgerkrieg zerstört wurde, steht es | |
leer. Jetzt haben sich Menschen erstmals Zugang dazu verschafft. Eine junge | |
Frau sitzt auf der Fensterschwelle und hält ein Pappschild hoch, „Vereint | |
gegen Korruption!“ steht darauf. | |
Das Bauunternehmen des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri hatte | |
das einstige Theater 1990 nach Bürgerkriegsende gekauft. [1][Dessen | |
Umgebung hat er privatisiert und dort eine noble Shoppingmeile gebaut]. Das | |
Gebäude steht symbolisch für den Kampf der Libanesen gegen die Politik, die | |
seit Jahren die wirtschaftliche und politische Elite bevorzugt. Von dem | |
korrupten System profitieren Abgeordnete, politische Parteien, | |
Großunternehmer, Bauträger und Bankiers. | |
Nun holen sich die Menschen ihre öffentlichen Plätze zurück. Vor allem aber | |
fordern sie das Geld zurück, das die Politiker ihnen „gestohlen“ haben. | |
Seit fünf Tagen protestieren rund eine Million Menschen gegen die | |
Unfähigkeit der Regierung, einen Staatsbankrott abzuwehren, und eine | |
Politik, die zulasten der Armen geht – nicht aber in die Taschen der | |
Reichen langt. | |
In der Innenstadt Beiruts, nicht weit vom Stacheldrahtzaun und der Polizei, | |
die das Regierungsgebäude abschirmen, lehnen Hanun, 37, und seine Frau | |
Mimi, 28, an einem Auto. „Wir wollen den Sturz der Regierung“, sagt Hanun. | |
„Ich habe keine Arbeit, muss aber 250.000 Lira (150 Euro) für Miete | |
zahlen.“ Gelegentlich arbeite er als Fischer. Das Ehepaar hat die Kinder, | |
sieben und anderthalb Jahre alt, zum Protest mitgenommen. „Ich möchte eine | |
gute Zukunft für meine Kinder. Wir wollen leben.“ | |
## Kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch | |
„Leben“, das heißt: soziale Gerechtigkeit, bezahlbare Schulen und | |
Krankenhäuser, ein solides Stromnetz, öffentlicher Nahverkehr und günstige | |
Telekommunikation. Doch der Staat kann sich all das nicht leisten. Der | |
Libanon steht kurz vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die | |
Staatsschulden von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des | |
Bruttoinlandprodukts. | |
Die Ansage des Informationsministers, [2][eine Steuer auf WhatsApp-Dienste | |
erheben zu wollen], hat das Fass am Donnerstag zum Überlaufen gebracht. Sie | |
war die jüngste Ankündigung in einer Reihe von politischen Entscheidungen, | |
um dem Staatsbankrott zu entkommen, meist zulasten der Bevölkerung. | |
Tausende schlossen sich sogleich einem Protest rund um den zentralen | |
Märtyrerplatz in Beirut an. Dabei zündeten Protestierende zwei im Bau | |
befindliche Luxusbauten an und legten ein Feuer vor der Blauen Moschee und | |
einer orthodoxen Kirche – Ikonen für gelebte Koexistenz von 18 | |
Religionsgemeinschaften im Land. | |
In ihrer Wut gegen die Regierung sind die Menschen über politisch-religiöse | |
Grenzen hinweg vereint. Der Slogan „Kullun iani kullun“ (Alle von ihnen | |
heißt alle von ihnen), der sich als Hashtag in den sozialen Medien und | |
Graffiti-Tag auf Wänden verbreitet, drückt das aus: Alle Regierenden sollen | |
gestürzt werden, egal welcher Fraktion sie angehören. | |
## Arme und Arbeitslose begehren auf | |
Den Massenprotest am Freitag beendete die Polizei in Beirut gewaltsam mit | |
Tränengas und Festnahmen. 2015 gingen die Menschen zuletzt gegen die | |
Regierung auf die Straße. Damals forderten sie eine Lösung für das | |
Müllproblem. Während vor vier Jahren hauptsächlich Menschen | |
zivilgesellschaftlicher Bewegungen auf die Straße gingen, sind es dieses | |
Mal vor allem die Armen und Arbeitslosen, die aufbegehren. | |
Als Reaktion auf die Proteste kündigte Ministerpräsident Saad Hariri am | |
Montag die Verabschiedung von Reformen an. Sie umfassen die Kürzung der | |
Gehälter aktueller und ehemaliger Beamter um 50 Prozent, einen nahezu | |
ausgeglichenen Haushalt für 2020, die Privatisierung des | |
Kommunikationsnetzes und die Instandsetzung des Elektrizitätssektors, der | |
ein jährliches Defizit von 2 Milliarden US-Dollar aufweist. Hariri sagte, | |
er unterstütze vorgezogene Parlamentswahlen, wenn das die Forderung des | |
Volkes ist. | |
Präsident Michel Aoun äußerte sich nach fünf Tagen andauernder Proteste | |
erstmals: Sie seien Ausdruck des Schmerzes des libanesischen Volkes, aber | |
es sei unfair, alle Regierungsmitglieder der Korruption zu beschuldigen. Er | |
wolle das Bankgeheimnis gegenwärtiger und ehemaliger Beamter aufheben. Die | |
Reformen werden viele Protestierende nicht beruhigen. Sie sind weiter auf | |
der Straße, schwenken die libanesische Flagge, rufen „Revolution“. | |
21 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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