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# taz.de -- Gesellschaft und Spannungen im Libanon: Es kann funktionieren
> 30 Jahre nach dem Bürgerkrieg zerfällt der Libanon in seine Gruppen. Doch
> überall gibt es Menschen, die nach einer gemeinsamen Erzählung suchen.
Bild: Hat der Libanon die Spannungen, die ihn einst in den Kollaps stürzten, �…
Beirut taz | Der Platz liegt im Dunkeln. Keine Laternen, die ihn säumen,
keine Reklamen, die etwas Licht spenden. Der Platz ist nicht einmal ein
richtiger Platz, mehr eine langgezogene Verkehrsinsel, die sich zwischen
den beiden Richtungen einer dicht befahrenen Straße erstreckt. Der Platz
liegt im Dunkeln, doch die Frauen haben ihr eigenes Licht mitgebracht. Es
flimmert aus Videokameras, Fotoapparaten, Smartphones und Taschenlampen und
fällt in großen Tropfen mal auf das eine, mal auf das andere Gesicht. Ernst
sehen sie aus, diese Gesichter, ernst und aufgeladen mit Energie und Stolz.
Im Chor rufen sie: „Wir brauchen keinen Vater, der uns unterdrückt“, dass
sie Freiheit wollen, Gerechtigkeit, die feministische Revolution.
Sie halten Plakate in die Höhe, auf einem hockt ein mächtiger Schnauzbart
zwischen den Beinen einer Frau. „Deine Ehre findest du nicht zwischen
meinen Beinen“ steht daneben. Dutzende Frauen sind an diesem Abend nach
Beirut-Downtown gekommen, mitten in die libanesische Hauptstadt, um zu
demonstrieren. Sie verbindet etwas, sie eint die Betroffenheit über die
Geschichte von Israa Ghrayeb, einer jungen Frau aus Bethlehem, die von
ihren männlichen Familienmitgliedern so schwer misshandelt wurde, dass sie
schließlich ihren Verletzungen erlag.
Die Frauen in Beirut haben sich den Protesten in Palästina angeschlossen,
die an diesem Abend zeitgleich stattfinden. „Wir erleben es alle, das
Patriarchat ist überall“, sagt Roula Seghaier, eine der Organisatorinnen.
„Unabhängig von der Gruppe, unabhängig der Religion, wir sind alle mit
derselben Diskriminierung, derselben Gewalt konfrontiert. Da macht es
keinen Sinn, dass wir uns trennen.“
Deshalb stehen sie da und demonstrieren, rufen mit einer Stimme. Frauen mit
und ohne Kopftuch, Frauen mit langen und kurzen Haaren, Frauen aus Syrien,
Palästina und dem Libanon, Schiitinnen, Sunnitinnen, Christinnen. Im
Libanon ist das keine Selbstverständlichkeit. Weniger, dass die Frauen
demonstrieren, eher, dass sie es gemeinsam tun. In einem Land, das 30 Jahre
nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs, in dem sich Libanes*innen
gegenseitig töteten, noch immer gespalten ist. Gespalten in Konfessionen,
ethnische Gruppen, religiöse Communitys. In „sects“, wie es im Englischen
heißt, was ein viel besserer Begriff ist als jene, die im Deutschen
existieren, weil er nicht nur religiöse Unterschiede einschließt.
## Sind die Spannungen überwunden?
Vor 30 Jahren, im Oktober 1989, wurde das Friedensabkommen von Ta’if
unterzeichnet, das den Bürgerkrieg offiziell beendete. Zuvor hatten mehr
als 15 Jahre verschiedene Fraktionen in unterschiedlichen Konstellationen
gegeneinander gekämpft, hauptsächlich arabische Nationalisten gegen
prowestliche Christen, Palästinenser gegen Libanesen.
Der Frieden von Ta’if regelte auch die paritätische Sitzverteilung von
Christen und Muslimen im Parlament, Präsident des Landes muss ein
maronitischer, also katholischer Christ sein, der Ministerpräsident ein
Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiit.
Doch was ist dieser Frieden heute wert? Hat der Libanon die Spannungen, die
ihn einst in den Kollaps stürzten, überwunden?
An der Straße in Beirut, die früher eine Grenze war, stehen Gaby Jammal und
Assaad Chaftari. Sie blicken hoch zu dem Haus, in dem vor dem Bürgerkrieg
palästinensische Familien lebten, christliche und muslimische. In
Nachbarschaft, in Freundschaft. Als der Bürgerkrieg ausbrach, im April
1975, begannen sie, einander zu bekämpfen. Das Haus steht noch immer, doch
zur Straße hin existiert nur noch das Gerippe. Würde es noch Wohn- und
Schlafzimmer geben, man sähe direkt hinein. Einschusslöcher überziehen das
sandfarbene Gemäuer, die alte osmanische Eleganz, wie Pestbeulen. Green
Line, Grüne Linie, wurde diese Straße im Krieg genannt, die Beirut teilte,
wie Berlin, nur ohne Mauer.
Das Haus der Palästinenser ist heute das einzige an der Damaskus-Straße,
das noch zerstört aussieht, wie ein Mahnmal für den Krieg in einem Viertel
von Hochhäusern.
## Die Fighters For Peace
Gaby Jammal und Assaad Chaftari sind um die 60 Jahre alt, kleine Männer, in
beide Gesichter hat sich das Leben gedrückt, der Krieg. Früher hätten sie
gedacht, damit seien ihre Gemeinsamkeiten erschöpft. Chaftari, ein
gläubiger Christ, kämpfte als hochrangiges Mitglied im Geheimdienst der
christlichen Miliz bei den libanesischen Streitkräften, Jammal auf
palästinensischer Seite, mit 12 Jahren schon lernte er den Kampf an den
Waffen. „Für mich war klar, die Palästinenser fallen im Libanon ein“, sagt
Chaftari, und Gaby Jammal steht neben ihm, nickt dem Boden zu und sagt:
„Hätte ich Assaad damals getroffen, ich hätte ihn erschossen. Und ich hätte
es gerne getan.“ Assaad sagt: „Natürlich.“
„Und heute, seht uns an, sind wir immer zusammen“, schließt Gaby noch an.
„Nicht immer, manchmal gehe ich auch zu meiner Frau“, und dann lachen
beide, laut und lange.
Sie nennen sich Fighters For Peace, fünfzig ehemalige Kämpfer für den
Frieden sind sie mittlerweile, sie gehen an Schulen oder organisieren
Veranstaltungen, bei denen Menschen über ihre Kriegserfahrungen sprechen
können. Denn immer mehr von ihnen wollen reden, da tut sich etwas in der
libanesischen Gesellschaft, das spüren sie.
Die Ex-Kämpfer wollen auch die 15-Jährigen kriegen, ihnen erzählen, dass
Krieg, so reizvoll er ihnen auch gerade erscheinen mag, nur Leid schafft
und niemals Lösungen. Um ihnen zu sagen, wie schwierig es war, zu erkennen,
dass sie falsch lagen. „Ich habe lange gebraucht, das Biest in mir zu
finden“, sagt Assaad Chaftari. Er wirkt, als treibe ihn das noch heute um,
streicht sich immerzu über die Glatze, die Arme, fummelt am Saum seines
T-Shirts, drückt seine Fingerspitzen zusammen. „Ihr könnt mich alle
verurteilen. Die schlimmste Strafe bin ich mir selbst“, ist nur einer
dieser Sätze, die er dann noch sagt.
## Was heute gilt, kann morgen anders sein.
Ein libanesisches Sprichwort lautet: Wer glaubt, er habe den Libanon
verstanden, dem hat man ihn nicht richtig erklärt. Was heute gilt, kann
morgen anders sein. Die Hauptstadt Beirut schimmert und glitzert, schmiegt
sich jung und kraftvoll ans Mittelmeer, da geht alles. Und gleichzeitig
steckt der Libanon in einer tiefen wirtschaftlichen Krise, hat eine der
höchsten Schuldenquoten weltweit. [1][Seit Wochen gehen Menschen auf die
Straße], protestieren wieder gemeinsam gegen eine Ungerechtigkeit, die sie
alle angeht.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag fanden die größten Demonstrationen
seit Jahren statt, weil auf die Nutzung von Kurznachrichtendiensten wie
Whatsapp eine Steuer erhoben werden soll. Reifen brannten, Beirut brannte.
Der Klientelismus, die Korruption, die Menschen haben genug. Einerseits.
Andererseits wählen die Libanes*innen alle vier Jahre ihr Parlament, das
ist weit häufiger als in den meisten anderen Ländern des Nahen und
Mittleren Ostens. Der Libanon ist kein islamisches oder christliches Land,
sondern eines für 18 verschiedene Religionsgemeinschaften, und das sind nur
die anerkannten.
Doch egal, mit wem man spricht, sei es der ehemalige Kämpfer, die
Frauenrechtsaktivistin, der libanesische Journalist, der
Entwicklungshelfer, die NGO-Mitarbeiterin, die Politikerin oder der
Taxifahrer, sie alle sagen: Das größte Problem der libanesischen
Gesellschaft ist der Sektarismus.
## Spannungsgeladenes Zusammenleben
„Mit dem Sektarismus im Libanon ist es wie mit dem Klimawandel und der
internationalen Gemeinschaft: Alle beklagen ihn und sagen, man müsse etwas
dagegen unternehmen, aber dann macht doch niemand was“, sagt Nahostexperte
Daniel Gerlach.
Er ist Chefredakteur des Nahost-Magazins zenith und hat den englischen, von
„sect“ abgeleiteten Begriff „Sectarianism“ in seinem Buch „Der Nahe O…
geht nicht unter“ übersetzt und definiert als: „eine von Ressentiments
geprägte Geisteshaltung, die sich in einer Überbetonung der ethnischen oder
religiösen Identität von Einzelnen oder Gruppen innerhalb eines staatlichen
Gemeinwesens äußert. Sie verfolgt nicht die Überwindung dieser Gräben,
sondern deren Vertiefung. […]“
Gerlach sagt auch: „Das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen hat im
Libanon nie spannungsfrei funktioniert.“ Der Staat sei nicht in der Lage,
das aufzulösen, vielmehr ziehe er sich immer weiter zurück. Während des
Bürgerkriegs hätten die Menschen erlebt, dass staatliche Institutionen
praktisch aufgehoben wurden, dass Soldaten des Militärs nebenher als
Söldner ihr Geld verdienten. Nach dem Krieg besetzte Syrien den Libanon für
weitere 15 Jahre, schuf ein Schattenregime, höhlte den Staat weiter aus.
„Dort, wo der Zentralstaat schwach ist, wo er zerfressen wird von
Korruption und Klientelismus, besinnen sich Menschen auf das, was
Sicherheit schafft. Und das ist die eigene Herkunft, die Identität,
definiert über eine Gemeinschaft“, sagt Gerlach. Sie schafft, wo der Staat
versagt.
## Die sects fädeln ihren Einfluss in den Alltag
Die staatliche Versorgung etwa sei absolut mangelhaft, „Müll, Strom, um all
das kümmern sich vor allem Privatleute. Und die haben dann wiederum kein
Interesse daran, den Staat zu stärken“, sagt Gerlach. Hinzu kommt der
Einfluss von Saudi-Arabien auf den sunnitischen Premierminister Saad Hariri
oder der von Iran auf die schiitische Hisbollah; große Mächte, die an
diesem kleinen Land ziehen und zerren, in die eine wie andere Richtung, und
eine Hülle zurücklassen.
Der Sektarismus findet parallel zu all dem immer statt, oft unsichtbar,
unbewusst, da, wo Leben passiert, in dem Konglomerat von Handlungen, aus
denen sich Alltag zusammensetzt. Wer wählen will, wählt nicht dort, wo er
wohnt, sondern dort, wo seine Eltern und seine Familie herkommen. Auf diese
Weise separieren sich auch die ohnehin schon aufgeteilten Stadtviertel
immer stärker voneinander. Ehen sind nur innerhalb der religiösen
Gemeinschaft üblich und möglich, eine Zivilehe gibt es im Libanon nicht.
Vor allem Christen wollen daran nichts ändern, haben sie doch in den
vergangenen Jahren demografisch am stärksten verloren und bangen um Status
und Privilegien.
Die sects fädeln ihren Einfluss in den Alltag, die Entscheidungen, das
Leben derer, die zu ihnen gehören. Sie definieren, was gut ist und was
schlecht, richtig und falsch, die Zukunft, Gegenwart und die Vergangenheit.
Auch das Schulsystem des Libanon ist entlang der sects gegliedert. Die
religiösen Communitys haben die Möglichkeit, eigene Schulen zu gründen, und
dieser private Sektor wurde über die Jahre immer größer. Nur knapp 40
Prozent der libanesischen Schüler*innen gehen noch an öffentliche Schulen.
Private wie öffentliche Schulen müssen das offizielle Curriculum lehren,
private können aber eigene Inhalte hinzufügen – was Lehrern an öffentlichen
Schulen wiederum nicht erlaubt ist.
## Menschen, die gegen die Spaltung kämpfen
Der Sektarimus der libanesischen Gesellschaft beginnt mit der Geburt, und
er setzt sich rasch und stetig fort. Doch es gibt Menschen, die gegen die
Spaltung kämpfen – und dabei so früh wie möglich ansetzen.
Um zum Büro der Lebanese Association for History (LAH) zu gelangen, muss
man, wie oft in diesem Land, an bewaffneten Soldaten vorbei, die einen aber
einfach durchwinken, und der Schäferhundmischling, der neben dem
Armeehäuschen im Schatten liegt, hebt zwar ruckartig den Kopf, blickt
Besuchern dann aber nur träge aus staubigen Augen hinterher. Nayla Hamadeh
ist die Präsidentin der NGO und gekleidet wie eine Geschäftsfrau, der Saum
ihres senfgelben Kleides schaukelt um ihre Waden, ihre Füße stecken in
weißen Turnschuhen mit glitzernder Spitze.
Die LAH ist eine Gruppe aus Pädagog*innen, Aktivist*innen und
Geschichtslehrer*innen, die wollen, dass sich der Geschichtsunterricht an
libanesischen Schulen gründlich verändert. Dass er hineinreicht in die
jüngere Vergangenheit des Libanon, dass er tatsächlich vermittelt anstatt
nur zu verharren in dem, was bekannt ist. So sind die Ereignisse des
Bürgerkriegs bis heute nicht Teil des offiziellen Geschichtslehrplans,
libanesische Geschichtsbücher enden im Jahr 1943 mit der Unabhängigkeit von
Frankreich. Israel existiert nicht, den Bürgerkrieg, die 90.000 Toten,
20.000 Vermissten, 800.000 Flüchtlinge hat es nicht gegeben.
Hamadeh blickt den langen Tisch entlang, an dem sie sitzt, und sagt: „Wenn
ein Thema, von dem alle betroffen waren, so ausgeklammert wird, werden
Konflikte vertieft, Spannungen immer weiter hinausgezögert.“
## Da, wo Stimmen sein müssten, ist Stille.
„Wir haben keinen nationalen Diskurs zum Bürgerkrieg, keine Narrationen.“
Viele kennen bis heute nur die Erzählung ihrer eigenen Fraktion, das Leiden
der eigenen Leute, sind noch immer blind für die Gegenseite. „Wir benötigen
nicht die eine Darstellung, aber wir wollen, dass Menschen mit
unterschiedlichen Erzählungen ins Gespräch kommen.“ Die LAH hat
Lehrer*innen aus all diesen Sektoren zusammenbringen können, für die
meisten das erste Mal. Dass über den Bürgerkrieg nicht gesprochen wird,
dass er in Schulbüchern nicht vorkommt und im Unterricht nur dann, wenn
Lehrer*innen dieses Risiko eingehen wollen, hätten sie alle erzählt,
berichtet Nayla Hamadeh. „Sie haben sich innerhalb der Lehrerschaft in die
Ecke gestellt gefühlt. Als wäre ihre Arbeit gefährlich.“
Dabei wäre es für den Libanon wichtig, ein Ende zu finden. Für einen
Anfang, einen befreiten. Solange das nicht passiert, „findet Geschichte für
uns nicht in der Vergangenheit statt, sondern in unserer Gegenwart“, sagt
Hamadeh.
Doch zu viele Mächtige im Libanon haben daran kein Interesse. „Dann müssten
die herrschenden Familien ja ihre eigene Geschichte aufarbeiten“, sagt
Nahostexperte Gerlach. „Da können sie nur verlieren. Und sich mit denen
anlegen möchte auch niemand.“
Etwas zu verlieren hätten einige der mächtigsten Politiker des Libanons. Da
wäre etwa der Staatspräsident Michel Aoun: Ein maronitischer Christ – und
einst Oberbefehlshaber der libanesischen Armee während des Bürgerkriegs.
Später lehnte er das Friedensabkommen ab, ging ins Exil und wurde in den
USA von neokonservativen Politikern unterstützt, bei Plänen zur
„Demokratisierung der arabischen Welt nach amerikanischem Vorbild“.
## Die Politik schlichtet nicht, das machen andere
Etwas zu verlieren hätte auch Parlamentspräsident Nabih Berri, der neben
diesem Amt noch Vorsitzender der schiitischen Amal-Bewegung ist, er führte
im Bürgerkrieg die gleichnamige Miliz an. „Wenn gegen den heute
demonstriert wird, rücken prompt seine Leute aus“, sagt Gerlach. Da, wo die
libanesische Politik schlichten müsste, spaltet sie.
Zu schlichten, das versuchen deshalb andere. So hat etwa die NGO „Nahnoo“,
arabisch für „wir“, fünf Jahre dafür gekämpft, einen Beiruter Stadtpark
wieder zu eröffnen. Noch heute stehen Soldaten vor den Eingängen des Parks,
aber zumindest lassen sie einen hineingehen, wenn man fragt und dann noch
ein wenig diskutiert. Noch immer ist nur der Parkeingang auf der Seite des
christlichen Viertels geöffnet, nicht der gegenüberliegende für Muslime.
Man könne nicht gleich alles haben, meinen die Aktivist*innen, sie machen
einfach weiter. Damit es Orte gibt, an denen sich Libanesinnen und
Libanesen als Mitbürger*innen begegnen können.
„Wir sollten nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten betonen“,
sagt auch Zohra Shawahn (Name geändert). Die 32-Jährige arbeitet als
Projektmanagerin beim von der Bundesregierung geförderten Zivilen
Friedensdienst im Libanon, berät unter anderem ein Projekt, das
libanesische und syrische Frauen in Baalbek, einer Stadt im Osten des
Landes, zusammenbringt. 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge hat der Libanon
aufgenommen, bei einer Bevölkerung von 6,2 Millionen. Das bringt die
Gesellschaft weiter aus dem Gleichgewicht, denn auch da flackern Konflikte
und Vorurteile auf. „Die Libanesinnen sagten anfangs zum Beispiel, die
syrischen Frauen nähmen ihnen die Männer weg. Heute sagen sie ihren
Männern, dass sie später nach Hause kommen und gehen miteinander ins Kino“,
sagt Shawahn.
Auch an Shawahns Familiengeschichte lässt sich die „Herkunfts-Besessenheit“
des Libanon, wie sie es nennt, feststellen: Shawahns Mutter ist Libanesin,
der Vater Palästinenser, doch schon er wurde im Libanon geboren. Shawahns
Großeltern flohen 1948 aus Palästina, lange lebte die Familie in einem
Flüchtlingscamp. Und obwohl die Shawahns seit nunmehr 71 Jahren im Libanon
wohnen, gilt Zohra nicht als Libanesin, sondern als Palästinenserin. „Wenn
ein Staat so fragil ist, dass er jederzeit kollabieren könnte, dann kann er
es sich nicht leisten, ein Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung
zu verändern“, sagt Daniel Gerlach. „Die Anerkennung der Palästinenser, d…
hauptsächlich sunnitische Muslime sind, würde das Konfessionsgefüge ganz
dramatisch verändern.“
## Das „inter-sect-ionale“ Leben
Zohra Shawahns Eltern haben wie so viele andere im Bürgerkrieg gelitten,
„ihr Leben war lange Zeit geprägt von Angst und Furcht“, sagt Shawahn. Sie,
die palästinensische Sunnitin, sei bestimmt in keinem extremistischen
Elternhaus groß geworden. „Aber auch ich wurde dazu erzogen, Christen und
Schiiten nicht zu mögen.“ Heute hat sie Freund*innen aus jeder Community,
lebt alleine in einer Wohnung im christlichen Viertel von Beirut,
unverheiratet, die Mutter natürlich entsetzt. „Ich habe das irgendwie
selbst überwunden, so zu denken.“
Shawahn sagt, nicht nur ihr gelinge das. Auf einem individuellen Level
funktioniere das viel häufiger, das „inter-sect-ionale“ Leben, die
Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Auch, wenn die Politik sie
nicht unterstütze, sondern lieber verhindere. Die Nachbarschaften,
Freundschaften, Beziehungen gebe es trotzdem.
Es funktioniert bei Frauen in Baalbek, die gemeinsam ins Kino gehen und
einander Schwestern nennen.
Es funktioniert in der Stadt Tripoli, wo einst verfeindete Gruppen heute
miteinander Fußball spielen.
Es funktioniert an einem Abend wie dem in Beirut, wenn Frauen auf die
Straße gehen, um miteinander füreinander zu demonstrieren.
Transparenzhinweis: Die Reise, an der die Autorin teilgenommen hat, wurde
vom Zivilen Friedensdienst organisiert und finanziert.
19 Oct 2019
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## AUTOREN
Hanna Voß
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