# taz.de -- Libanon in der Krise: Proteste kippen „WhatsApp“-Steuer | |
> Gegen die Wirtschaftskrise und die Korruption: Tausende gingen in der | |
> Nacht zu Freitag nicht nur in Beirut auf die Straße. | |
Bild: Selfie vor brennender Reifenbarrikade in Beirut | |
BEIRUT taz | Am Donnerstagabend haben [1][im Libanon] spontan tausende | |
Menschen gegen die Regierung und die anhaltende Wirtschaftskrise | |
demonstriert. Der Plan des Informationsministers, eine Steuer von 6 | |
US-Dollar pro Monat auf Kurznachrichtendienste wie WhatsApp zu erheben, hat | |
das Fass zum Überlaufen gebracht. Es war die jüngste Ankündigung | |
politischer Entscheidungen zu Lasten der Zivilbevölkerung, um einen | |
Staatsbankrott abzuwehren. | |
Das Land steht kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Staatsschulden | |
von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des | |
Bruttoinlandproduktes. Die Bevölkerung bekam die Finanzkrise bereits Ende | |
September zu spüren, als es Liquiditätsengpässe an baren US-Dollar im Land | |
gab. Tankstellen gaben zweitweise kein Benzin und Banken keine Dollar mehr | |
aus. In Dollar werden meist höherpreisige Beträge bezahlt | |
Wechselstuben hoben darauf den Umtauschkurs von libanesischen Pfund zu | |
Dollar an – obwohl die libanesische Währung eigentlich seit 1997 fest an | |
den Dollar gebunden ist und damit Stabilität garantiert sein soll. | |
Eine mögliche Steuer auf Internetkommunikation über Facebook, WhatsApp oder | |
Skype trifft die Menschen hart. Denn Telefondienste sind kostspielig. | |
Alleine um eine libanesische Telefonnummer zu erhalten, muss man monatlich | |
zahlen. Die billigste Option ist deshalb für viele eine WhatsApp-Flatrate | |
für 4 Dollar im Monat, über die sie dann telefonieren. | |
## Familiendynastien dominieren Wirtschaft und Politik | |
Die Gewinne der Telekommunikationsanbieter fließen an die | |
Familiendynastien, die seit der Unabhängigkeit auch politisch das Sagen | |
haben. Denn die Telekommunikationsbranche befindet sich größtenteils in | |
staatlicher Hand. | |
Die Demonstranten blockierten in mehreren Städten Straßen mit brennenden | |
Reifen oder Müllcontainern. Erst hatten sich nur ein ein paar Hundert Leute | |
spontan in der Innenstadt von Beirut versammelt. Schnell verbreiteten sich | |
gegen 22 Uhr Bilder und Videos der Protestierenden per WhatsApp und | |
Twitter, sodass sich Tausende den Protesten rund um den zentralen | |
Märtyrerplatz undvor dem Regierungsgebäude anschlossen. | |
Es wurden zwei im Bau befindliche Luxusbauten angezündet. Laut der Zeitung | |
Daily Star starben dabei zwei Menschen. Protestfeuer wurden auch vor der | |
Blauen Moschee und einer orthodoxen Kirche angezündet – Ikonen für die | |
gelebte Koexistenz der 18 Religionsgemeinschaften im Libanon. Das sollte | |
zeigen, dass Menschen aller Klassen und Religionen in ihrer Wut vereint | |
sind. Sie riefen „Revolution“ und forderten „Nieder mit der Regierung“ … | |
Anlehnung an die Proteste in Ägypten, Tunesien oder Syrien im Jahr 2011. | |
Dabei wurde die libanesische Regierung erst im Januar nach einem | |
achtmonatigen Ringen und einer Reform des religiösen Proporzsystems | |
gebildet. Neun Jahre hatte es keine Wahlen gegeben. Sie waren wegen des | |
Kriegs im Nachbarland Syrien und der Reform zur konfessionellen Stabilität | |
verschoben worden. | |
Während sich dem Protest in der Beiruter Innenstadt viele Frauen | |
anschlossen, blockierten junge Männer auf Motorrädern in den südlichen | |
Vororten die Straßen. „Dieses Land ist komplett ruiniert. Wir wollen leben, | |
wir brauchen Gerechtigkeit“, schrie ein Demonstrant. | |
„Wir sind nicht hier, um gegen die WhatsApp-Steuer zu demonstrieren. Wir | |
wollen Wasser, Elektrizität und Brot“, sagte der 21-Jährige Ali. Er suche | |
Arbeit und protestiere gegen die hohe Arbeitslosenrate. | |
## Regierung gibt erstmal nach | |
Als Reaktion auf die Proteste ließ Ministerpräsident Saad Hariri den | |
Vorschlag der WhatsApp-Steuer zurücknehmen. Das Bildungsministerium ordnete | |
die Schließung von Schulen und Universitäten an diesem Freitag an. Auch | |
Banken bleiben geschlossen. | |
Bereits seit Ende September protestieren einige Libanes*innen sonntags in | |
Beiruts gegen Korruption, den drohenden Staatsbankrott und die | |
Fiskalpolitik. Inzwischen wird auch in anderen Städten protestiert. Es ist | |
der größte Protest im Land seit der Müllkrise 2015. Dabei [2][ist die | |
Müllentsorgung noch immer ungelöst]. Jetzt stehen auch die Wälder im Norden | |
des Landes seit Tagen in Flammen. Die Waldbrände konnten bisher nur mit der | |
Hilfe Zyperns und der lokalen Bevölkerung eingedämmt weren. Die | |
Wasserwerfer, die das Feuer bisher nicht stoppen konnten, nutzte die | |
Regierung am frühen Freitagmorgen, um den Protesten in der Innenstadt | |
vorerst ein Ende zu setzen. | |
18 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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