# taz.de -- Frauenbewegung in Deutschland: Schlendernd zum Protest | |
> Wenn Frauen in anderen Ländern für ihre Rechte auf die Straße gehen, | |
> finden das viele bewundernswert. Doch hier passiert – ziemlich wenig. | |
> Warum nur? | |
Bild: Gründe, auf die Straße zu gehen, gibt's genug: Zwei Demonstrantinnen am… | |
Vor einem Jahr gingen zum Internationalen Frauentag am 8. März in Berlin | |
Tausende auf die Straße, um klarzumachen: „Frauen*rechte sind | |
Menschenrechte“. Es gab starke Reden, Glitzer, gute Musik und viele | |
energetisierende Mitstreikende. 20.000 Demonstrant*innen sollten | |
kommen. Es erschienen 12.000. | |
Das ist zwar mehr als in den Vorjahren – so richtig viel aber ist es nicht. | |
Warum blieb auch ich eigentlich zu Hause? Das frage ich mich, als ich den | |
Tag in Gedanken Revue passieren lasse. Ich rief vermutlich meine Schwester, | |
Mutter und einige Freundinnen an und wünschte ihnen einen guten Frauentag. | |
Wahrscheinlich war es ein stinknormaler Sonntag in einer beginnenden | |
Pandemie. | |
Dabei war ich eine der fehlenden 8.000 Frauen, die sich die | |
Organisator*innen des Frauenkampftags auf den Berliner Straßen | |
gewünscht hätten, die es sich dafür aber lieber auf dem Sofa gemütlich | |
machten. | |
So geht es wohl vielen: Gefühlt posten weitaus mehr Menschen am | |
Frauenkampftag „The Future is female“ auf Instagram, als auf die Straße zu | |
gehen. Das massentaugliche Etikett Feminismus bringt zwar die Oberfläche | |
zum Glänzen – aber die gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, | |
müffeln noch immer nach Patriarchat. | |
Dabei gibt es einiges zu beklagen. Gut, in Deutschland ist keine | |
nationalistische Staatsmacht am Ruder wie etwa in der Türkei – deren | |
Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan machte schon 2012 klar, [1][dass er | |
Abtreibung für Mord hält]. Heute ist es übrigens für einen Großteil der | |
Frauen in der Türkei faktisch unmöglich, Abbrüche zu bekommen. | |
[2][Sedef Erkmen], Autorin eines Buchs über Abtreibungen in der Türkei, | |
schreibt, dass sich die meisten Ärzt*innen in öffentlichen Krankenhäusern | |
weigern, den Abbruch vorzunehmen, auch wenn Abtreibungen bis zur zehnten | |
Woche legal sind. Damit werden Frauen in die Illegalität getrieben, und nur | |
wohlhabende Frauen können sich überhaupt Abtreibungen in Privatkliniken | |
leisten. | |
## Drei Kinder mindestens | |
In der Türkei gehört es ebenfalls zur staatlichen Linie, Frauen in ein | |
konservatives Familienmodell (drei Kinder mindestens, bitte, und der | |
Ehemann ist das Oberhaupt der Familie) zu zwängen. Wenn am Frauentag seit | |
Jahren mehrere zehntausend Frauen auf die Straßen gehen und riskieren, | |
verhaftet und mit Tränengas beschossen zu werden, ist ihre bloße Präsenz | |
ein geschrienes Nein gegen die Regierung und deren konservatives | |
Frauenbild. | |
Genau wie die jüngsten Proteste in Polen. Die wochenlangen politischen | |
Demonstrationen unzähliger wütender und entschlossener Frauen konnten die | |
Verschärfung des Abtreibungsverbots zwar nicht verhindern. In Erinnerung | |
bleiben die starken Bilder der Demonstrant*innen dennoch. | |
Dass hierzulande viele leicht anhimmelnd auf die Frauenproteste im Ausland | |
schauen, ist verständlich. Sie berühren auch mich: Ich will wissen, wie es | |
den Frauen in anderen Ländern geht, was ihre Probleme sind, was sie | |
schmerzt. Und dann mache ich weiter in meinem Alltag, weil es hier schon | |
nicht so schlimm ist. | |
## Alles eine Frage der Entscheidung | |
Zumindest nicht schlimm genug, wie es mir die Mittelschichtsversion meines | |
Selbst vorgaukelt: Ich bin eine Frau, die im Berufsleben steht, ein | |
florierendes Sexualleben und Kinder haben könnte – oder auch nicht. Alles | |
eine Frage der Entscheidung, kein Politikum. | |
Das glänzende Feministinnen-Etikett lässt mich glauben, dass ich es wie | |
viele Zeitgenossinnen geschafft habe. Ich muss nicht mehr ständig auf die | |
Straße gehen, um für meine und die Rechte meiner Geschlechtsgenossinnen zu | |
kämpfen – es geht ja auch so irgendwie. | |
Das ist auch so, weil ein Abtreibungsrecht, wie jüngst in Polen | |
verabschiedet, in Deutschland derzeit kaum möglich scheint – eine | |
grundlegende Verbesserung hin zu mehr reproduktiven Rechten gibt es aber | |
auch nicht. Frauenärzt*innen dürfen Infos über Schwangerschaftsabbrüche | |
nicht auf ihren Webseiten teilen. Aber ohne ausreichende Infos ist es für | |
viele Frauen schwer, die ihnen zustehende medizinische Versorgung zu | |
bekommen. | |
## Mich wird es schon nicht treffen | |
Eine Hebamme zu finden, eine frauenärztliche Untersuchung zu bekommen oder | |
ohne Umschweife einen Abtreibungstermin zu kriegen, kann echt kompliziert | |
sein. Erst recht, wenn ich als geflüchtete Frau in einer Unterkunft lebte | |
oder wenig Deutsch spräche oder auch, ganz banal, auf dem Land wohnte. | |
Tue ich aber nicht – wie viele Frauen in diesem Land. So wie viele denke | |
ich, mich trifft es schon nicht. Dass medizinische Versorgung auch an | |
finanzielle Ressourcen gebunden ist, ist klar. Nicht nur als junge oder | |
mittelalte Frau will ich gut versorgt sein, sondern auch im Alter. | |
Da kommen die Einschläge schon näher: laut dem Armutsbericht 2020 des | |
Paritätischen Wohlfahrtsverbands sind mehr als die Hälfte der Menschen im | |
Rentenalter bitterarm. Die Armut bei Rentner*innen hat seit 2006 um 66 | |
Prozent zugenommen, Frauen sind viel häufiger als Männer davon betroffen | |
oder werden es sein – ich auch übrigens. | |
## Wir dümpeln vor uns hin | |
Ich habe das lange nicht wahrhaben wollen. In meinem Freundinnenkreis gibt | |
es keine Spitzenverdienerinnen, wir dümpeln so vor uns hin. Ist auch okay – | |
erst mal. Ich wusste lange gar nicht, dass geringfügige Beschäftigung eine | |
„Frauendomäne“ ist. Und seit einem Jahr werden Frauen in eine absurde Form | |
der Aufopferung ohne Gegenleistung gezwungen: Homeschooling, Hausarbeit und | |
Homeoffice, alles zusammen. Geht gar nicht, ohne zu sagen: Ich krieg die | |
Krise. | |
Für mich jedenfalls war der Gang auf die Straße zum Frauenkampftag am 8. | |
März bisher ein kraftloser Akt. Wie ein Händedruck, der ohne konkretes | |
Versprechen für die einzelne Frau bleibt. Das galt, solange die | |
Mittelschichtsblase für Frauen bequem war. Ich glaube, spätestens mit der | |
Pandemie ist sie geplatzt. | |
8 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Gesetzentwurf-in-der-Tuerkei/!5092546 | |
[2] https://www.duvarenglish.com/women/2020/08/16/abortion-practically-banned-i… | |
## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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