| # taz.de -- Armenien nach dem Krieg: Frauen müssen an die Macht | |
| > Nach dem Krieg erlebt Armenien ein politisches Erdbeben. Männer | |
| > dominieren die Öffentlichkeit. Das Land braucht eine Frauenbewegung. | |
| Bild: Etwas Hoffnung: Im Lager für Geflüchtete aus Bergkarabach prüft ein M�… | |
| Wo sind sie geblieben, die Frauen in Armenien? Sie sind von der Straße | |
| verschwunden. Dabei bräuchte das postsowjetische Land gerade jetzt eine | |
| starke Frauenbewegung, denn die Südkaukasusrepublik steckt derzeit wohl in | |
| einer ihrer tiefsten politischen Krisen seit der Unabhängigkeit im Jahr | |
| 1991. Über Monate schon demonstrieren vor allem Männer in der Hauptstadt | |
| Jerewan. Alte Männer. Wütende Männer. Männer, die brüllen und voller | |
| Sehnsucht Stalin oder [1][Lawrenti Beria] zitieren. | |
| Männer, die bei jeder Wahl ihre Partei wechseln und Stimmen kaufen. Aber | |
| auch Männer, die ihr Land lieben. Männer, die sich tief gedemütigt fühlen, | |
| weil sie durch den jüngsten Krieg ein Stück „ihrer“ Heimaterde verloren | |
| haben, für die sie vor dreißig Jahren mit Blut bezahlt haben. Seit dem | |
| [2][Ende des 44-tägigen Krieges] am 9. November 2020 um die Region | |
| Bergkarabach kommt es immer wieder zu Protesten gegen die Regierung. | |
| Premierminister Nikol Paschinjan wird für die bittere Niederlage gegen | |
| Aserbaidschan verantwortlich gemacht. Ihm geben die Leute die Schuld an der | |
| schmachvollen Kapitulation, weil er das Waffenstillstandsabkommen | |
| unterschrieben hatte. Für die Armenier*innen bedeutet das nicht nur | |
| große Gebietsverluste, sondern es geht um nichts Geringeres als die | |
| Existenz ihrer Heimat, ja ihrer Identität schlechthin. Armenien wird in | |
| diesen Wochen von einem politischen Erdbeben erschüttert. | |
| Die oppositionellen Kräfte mobilisieren immer wieder Menschen gegen den | |
| „Verräter Paschinjan“. Damit nicht genug, ist nun ein offener Machtkampf | |
| zwischen der armenischen Regierung und dem eigenen Militär entbrannt. | |
| Erstmals [3][fordern auch führende Vertreter der Armee öffentlich den | |
| Rücktritt von Regierungschef Paschinjan]. Sogar die Armenische Apostolische | |
| Kirche stellt sich erstmals offen gegen die Regierung und fordert den | |
| Rücktritt von Paschinjan. | |
| ## Sündenbock für den verlorenen Krieg | |
| Noch vor knapp drei Jahren war er im ganzen Land als Held gefeiert worden. | |
| 2018 waren Hunderttausende wochenlang auf die Straße gegangen und hatten | |
| Paschinjan im Zuge der [4][„Samtenen Revolution“] zur Macht verholfen. | |
| Diese friedliche „Samtene Revolution“ war nur dank des Engagements von | |
| Frauen möglich. Bis 2018 hatte Armenien nie Frauenproteste erlebt. Endlich | |
| aber zogen sie auf die Straße und setzten sich ein für radikale Änderungen, | |
| die dann auch kamen. | |
| Es waren Mütter mit Kinderwagen, Studentinnen, Rentnerinnen und Frauen in | |
| Rollstühlen, die die Bilder der Straßenkämpfe prägten. Viele trauten sich | |
| zum ersten Mal, öffentlich zu protestieren. Das patriarchalische Land | |
| zeigte auf einmal ein anderes Gesicht. Paschinjans Versprechen, mit der | |
| Korruption aufzuräumen, war der große Motor der Massenbewegung. Er hielt | |
| es. Paschinjan beendete die Herrschaft von Oligarchen und Kriminellen, die | |
| das Land mehr als 20 Jahre lang ausgeraubt und ausgeplündert hatten. | |
| Die Hoffnung auf mehr Demokratie, auf Freiheit, Gleichberechtigung und | |
| Solidarität blieb jedoch unerfüllt. Die Frauen wurden wieder abgedrängt ins | |
| Abseits der Öffentlichkeit. Nur eine einzige Frau schaffte es in das | |
| Regierungskabinett von Paschinjan. Die politische Kultur Armeniens bleibt | |
| weiter von Manipulation, Verleumdung und vor allem Rache geprägt. Wer eine | |
| offene Rechnung mit Paschinjan hat, schließt sich der Opposition an. | |
| Dort haben sich 17 politische Parteien und Bündnisse zusammengeschlossen, | |
| unter anderem Gruppen wie „Blühendes Armenien“, die Republikanische Partei | |
| des früheren Präsidenten Sersch Sargsjan, sowie die Armenian Revolutionary | |
| Federation Daschnaktsutjun, die bis zum Machtwechsel 2018 an der Regierung | |
| beteiligt waren. Auch Armeniens Ex-Präsident Robert Kotscharjan will wieder | |
| zurück in die große Politik. | |
| ## Frauen sollten solidarisch sein | |
| Ihm hängt der Ruf als „politischer Gangster“ an, außerdem ist er eng mit | |
| dem russischen Präsidenten Wladimir Putin befreundet. Kotscharjan treiben | |
| zudem persönliche Motive zur Rache an Paschinjan. Die beiden führen einen | |
| alten Krieg. Als Paschinjan an die Macht kam, ließ er zuallererst | |
| Kotscharjan festnehmen. Zehn Jahre zuvor war es umgekehrt. | |
| Nach der gefälschten Präsidentschaftswahl 2008 gingen Tausende auf die | |
| Straße. Kotscharjan ließ die Proteste von Sicherheitskräften brutal | |
| niederschlagen. Zehn Menschen kamen zu Tode. Paschinjan, der damals die | |
| Demonstranten anführte, wurde ein versuchter Umsturz der verfassungsmäßigen | |
| Ordnung in Armenien vorgeworfen. Er musste für zwei Jahre ins Gefängnis. | |
| Dort dürfte er wohl mehr Zeit verbringen, sollte die heutige Opposition | |
| wieder an die Macht kommen. Davor hat Paschinjan mit gutem Grund Angst. | |
| Deswegen sagt er, die samtenen Zeiten seien vorbei, und deutet damit an, | |
| dass er ab jetzt eine härtere Gangart gegenüber seinen Gegnern einschlagen | |
| wolle. Und wo sind Frauen? Die Tränen vieler von ihnen sind nach dem Krieg | |
| noch kaum getrocknet. Tausende suchen Trost an den Gräbern ihrer Söhne, | |
| Ehemänner und Brüder. Sie sorgen sich um die Jüngeren, deren noch frische | |
| Wunden vielleicht nie heilen werden. Sollten Armeniens Frauen wieder auf | |
| die Straße gehen? Nein. | |
| Diese Männer, die ausschließlich auf Rache sinnen und einen erbitterten | |
| Machtkampf führen, verdienen das nicht. Stattdessen sollten Frauen eigene | |
| politische Parteien gründen, um sich auf eine vorgezogene Wahl | |
| vorzubereiten. Frauen sollten unbedingt solidarisch sein und ihre Stimme | |
| nur Frauen geben. Das wäre die einzige Perspektive für einen realen und | |
| langfristigen Machtwechsel. Doch in einem patriarchalischen Land wie | |
| Armenien, in dem die Mehrheit bereit zu sein scheint, die Geschicke erneut | |
| einem Autokraten anzuvertrauen, wird das wohl Illusion bleiben. Leider. | |
| 1 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.rbth.com/geschichte/82138-lawrenti-beria-nkwd-atomwaffen-mutmass… | |
| [2] /Konflikt-im-Suedkaukasus/!5723940 | |
| [3] /Krise-in-Armenien/!5754146 | |
| [4] /Armenischer-Dissident-Paschinjan/!5497337 | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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