# taz.de -- Historiker über Krise in Armenien: „Machterhalt als Selbstzweck�… | |
> Neuwahlen könnten dem Land zumindest eine Atempause verschaffen, meint | |
> Georgy Derlugian. Einen Militärputsch hält er für wenig wahrscheinlich. | |
Bild: Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan: in weiten Teilen der Bevölker… | |
taz: Herr Derlugian, seit Monaten gehen in Jerewan Tausende auf die Straße. | |
Sie fordern den Rücktritt von Regierungschef Nikol Paschinjan, den sie | |
[1][für die Niederlage im Krieg um Bergkarabach verantwortlich machen.] | |
Könnten die Proteste die Regierung zu Fall bringen? | |
Georgy Derlugian: Die Regierung, genauer gesagt Nikol Paschinjan, hat zwei | |
Trümpfe in der Hand. Eine vom Vorgängerregime geerbte undemokratische | |
Verfassung, die der Maxime folgt: Machterhalt als Selbstzweck. Auch | |
Paschinjan kann unter dieser Verfassung theoretisch lebenslang im Amt | |
bleiben. Und er ist in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch populär. | |
Was sind die Gründe dafür ? | |
Dazu trägt die Verbindung zwischen seinen Gegnern und dem vorherigen | |
oligarchischen Regime bei, das 2018 durch die „Samtene Revolution“ gestürzt | |
wurde. So gesehen profitiert Paschinjan auch von den heutigen | |
Massenprotesten, weil viele Menschen vor allem dafür demonstrieren, dass | |
die alte Garde nicht wieder an die Macht kommt. | |
Wie stehen die Chancen für die Opposition? | |
Ihre Chancen schmelzen wie der Schnee in der Märzsonne. Die heutige | |
Opposition, die vor Paschinjan das Land regiert hat, kann nicht auf | |
verfassungsmäßige Weise gewinnen. Die Ironie der Geschichte dabei ist, dass | |
die Verfassung ja ihr Werk ist. Die Opposition kann Paschinjan nur durch | |
einen sehr massiven Protest, eine externe Intervention vor allem von | |
Russland oder durch [2][einen Militärputsch] stürzen. | |
Welches Szenario wäre am ehesten denkbar? | |
Die Kundgebungen von oppositionellen Kräften erreichen nicht das | |
erforderliche Ausmaß. Russland, das heißt Wladimir Putin und seine Umgebung | |
mischen sich nicht ein, da Moskau offensichtlich eine Wiederholung der | |
Szenarien in der Ukraine und in Belarus fürchtet. Bliebe noch das Militär. | |
Es gibt jedoch keine Tradition von Militärputschen in den Staaten der | |
ehemaligen Sowjetunion. Das gilt auch für Armenien, wo die Armee gerade den | |
Krieg gegen Aserbaidschan verloren hat. Mit Waffengewalt gegen die eigene | |
Bevölkerung vorzugehen, könnte zu einem Ausbruch der Empörung führen, der | |
nicht mehr zu kontrollieren ist. | |
Sie sagen, Russland mische sich nicht ein. Heißt das, Paschinjan passt dem | |
Kreml doch ganz gut ins Konzept? Anders formuliert: Was für eine politische | |
Elite in Jerewan bevorzugt Moskau? | |
Wir können die Logik der Moskauer Entscheidungen nur im Umkehrschluss | |
rekonstruieren. Bisher gab es keine offensichtliche Einmischung. Wenn das | |
so wäre, würden wir beide über etwas ganz anderes diskutieren. In Moskaus | |
Logik siegt die Geopolitik über die Ideologie. Nikol Paschinjan ist kein | |
Agent des US-Milliardärs Georges Soros und dessen angeblicher | |
Weltverschwörung, wie immer unterstellt wird. Er erfüllt weiter alle | |
Verpflichtungen mit Russland, genauso wie seine Vorgänger. So hat er zum | |
Beispiel ein Kontingent armenischer Soldaten für gemeinsame Operationen mit | |
Russland nach Syrien geschickt. Genauso verhält es sich mit den Bedingungen | |
der militärischen Kapitulation gegenüber Aserbaidschan, die Putin zum | |
größten Teil persönlich ausgearbeitet hat. Russland muss nun ein neues | |
Machtgleichgewicht im Südkaukasus herstellen, um seine militärische Präsenz | |
in Bergkarabach mit Zustimmung Aserbaidschans sicherzustellen, einen | |
direkten Krieg mit dem türkischen Premier Erdogan zu vermeiden und | |
gleichzeitig den Westen aus der Region zu drängen. Putin hat keine | |
Sympathien für Paschinjan, aber darum geht es nicht. Was zählt, ist reine | |
Realpolitik. | |
Was könnte ein Ausweg aus der politischen Krise sein? | |
Vorgezogene Wahlen. Das würde die Lage erst einmal beruhigen. Neuwahlen | |
würden Nikol Paschinjan höchstwahrscheinlich den Sieg bringen, | |
möglicherweise aber keine klaren Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Dann | |
könnte die Krise jedoch zu einem chronischen Zustand werden. | |
Welche Perspektiven sehen Sie?? | |
Entweder bleibt Armenien ein armes, dysfunktionales Land mit autoritären | |
Tendenzen. Oder wir schaffen es, die Wirtschaft zu modernisieren und uns | |
technologischem Fortschritt zu öffnen. | |
Welche Rolle spielt die armenische Diaspora? | |
In der Bevölkerung gibt es eine starke Nachfrage nach einer dritten Kraft, | |
die regierungsfähiger sowie weniger anfällig für Korruption und Populismus | |
ist. Da kommt die Diaspora ins Spiel. Ihr Potenzial ist riesig. Die | |
Diaspora besteht zum großen Teil aus sehr erfolgreichen Armenier*innen | |
im Westen und auch in Russland, der Ukraine und anderen postsowjetischen | |
Ländern. In den katastrophalen 1990er Jahren verließen etwa eine Million | |
Menschen das Land, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, oft die am besten | |
ausgebildeten und erfolgreichsten. Das waren Ingenieur*innen, Ärzt*innen, | |
Professor*innen und Unternehmer*innen. Jetzt gibt es viele | |
Armenier*innen, die aus den USA oder Russland bereit sind, nach Armenien zu | |
kommen und dort ein neues Leben aufzubauen. So wie ich. | |
11 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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