| # taz.de -- Die neue Bürgerrechtsbewegung in den USA: Zeiten des Aufruhrs | |
| > In den USA wollen am Wochenende wieder viele AktivistInnen demonstrieren. | |
| > Sechs von ihnen erzählen, was sie antreibt. | |
| Bild: Die Bewegung macht vielen Menschen in den USA Hoffnung | |
| ## Nicole Rodriguez, 19, und Joyce Ling, 25, haben sich in New York bei den | |
| Demos kennengelernt | |
| Nicole Rodriguez und Joyce Ling waren eigentlich voll auf ihre Zukunft | |
| fokussiert. Rodriguez auf ihr Studium, Ling auf ihre Arbeit. Doch das war | |
| vor dem Tod von George Floyd am 25. Mai. Die beiden jungen Frauen aus dem | |
| New Yorker Stadtteil Queens lernten sich Ende Mai bei einer Demonstration | |
| in ihrem Bezirk kennen. | |
| Die 19-Jährige und die 25-Jährige waren einem Aufruf der Gruppe | |
| Black-Lives-Matter gefolgt. Seither sind die beiden unzertrennlich. Beide | |
| kommen aus Einwandererfamilien: Rodriguez’ Familie stammt aus Ecuador, | |
| Lings aus China. | |
| Nicole Rodriguez war 12 Jahre alt, als Black-Lives-Matter entstand. Damals | |
| war gerade der weiße Wachmann freigesprochen worden, der in Florida den | |
| unbewaffneten schwarzen Teenager Trayvon Martin auf dem Heimweg zu seiner | |
| Großmutter erschossen hatte. „Ich war ein ruhiges, schüchternes Mädchen“, | |
| sagt sie. | |
| In den vergangenen Wochen hat sie eine radikale Kehrtwende vollzogen. Zu | |
| Hause hat sie laute Diskussionen mit ihrer älteren Schwester, die die | |
| schwarzen AktivistInnen kritisiert, und mit ihrer Mutter, die Verständnis | |
| für die Polizisten zeigt. Rodriguez will die Polizei abschaffen. Manchmal | |
| kommt es ihr so vor, als ob sie und der Rest ihrer Familie in | |
| unterschiedlichen Ländern lebten. | |
| Joyce Ling ist vor einem Jahr zu Hause ausgezogen. Dass ihre Eltern sich in | |
| diesen Wochen Sorgen um sie machen, erklärt sie mit den „traditionellen | |
| Medien“. Bei dem halben Dutzend Demonstrationen, an denen die Tochter seit | |
| Mai teilgenommen hat, gab es nirgends Gewalt. An manchen Tagen finden in | |
| New York vier oder fünf Demonstrationen gleichzeitig statt. Ling wählt auf | |
| Instagram aus, zu welcher sie geht. | |
| Sie hat ihre Eltern immer für tolerant gehalten. Inzwischen sieht sie die | |
| elterliche Mahnung, kein Date mit einem schwarzen Mann zu haben, in einem | |
| anderen Licht. Ling kennt auch Rassismus, der gegen sie gerichtet ist: | |
| Zuletzt spürte sie ihn zu Anfang der Pandemie, als der US-Präsident von dem | |
| „chinesischen Virus“ sprach und KundInnen nicht von ihr bedient werden | |
| wollten. | |
| Queens ist eines der gemischtesten städtischen Gebiete des ganzen Landes. | |
| In ihren Schulen hatten die Frauen weiße, „braune“ („brown“) und schwa… | |
| KlassenkameradInnen. Aber erst in jüngster Zeit steht die „Schwarze | |
| Erfahrung“ im Zentrum ihrer Wahrnehmung. Bei Zoom-Konferenzen hat das | |
| Unternehmen, in dem Ling arbeitet, Schwarze KollegInnen über ihren Alltag | |
| berichten lassen. | |
| Auf der Straße herrscht Konsens darüber, dass die Führung der Bewegung | |
| Schwarz sein muss. Alle anderen – die „braunen“ („brown“) und die wei… | |
| AktivistInnen – sind VerstärkerInnen. „Dies ist ihr Moment“, sagt Ling �… | |
| ihre Schwarzen MitstreiterInnen. Rodriguez fügt hinzu: „Die Leben von allen | |
| zählen erst dann, wenn auch Schwarze Leben zählen.“ | |
| In den zurückliegenden Wochen gab es auch Erfolgserlebnisse für die | |
| Bewegung. So hat der Bundesstaat New York in Windeseile das Gesetz 50-A zu | |
| Fall gebracht, mit dem die Polizei jahrzehntelang Informationen über | |
| gewalttätige Beschäftigte unter Verschluss halten konnte. | |
| Die beiden sind stolz darauf, Teil der Bewegung zu sein, die binnen weniger | |
| Tage zustande gebracht hat, woran zuvor Generationen in New York | |
| gescheitert waren. Doch mit kleinen Reformen wollen sie sich nicht | |
| zufrieden geben. Ihr Ziel ist die Abschaffung der Polizei. | |
| „Was wollen wir?“, ruft die bis vor Kurzem schüchterne Nicole Rodriguez mit | |
| lauter, fester Stimme. Die Menge antwortet: „Gerechtigkeit.“ Autofahrer | |
| hupen zur Unterstützung. Eine Frau holt eine Packung Wasserflaschen aus dem | |
| Kofferraum und verteilt sie an DemonstrantInnen. „Wann wollen wir | |
| Gerechtigkeit?“, ruft Joyce Ling. Die Menge antwortet: „Jetzt!“ | |
| ## Damiana Dendy, 25, erlebt in Washington zum ersten Mal eine von | |
| Schwarzen angeführte Bewegung | |
| Manchmal fassen Leute Damiana Dendy in ihr dichtes lockiges Haar. Oder sie | |
| fragen sie, wie sie „das“ bloß gewaschen kriegt. Wenn sie in einer „sehr | |
| weißen“ Umgebung ist, kommt es auch vor, dass sie stellvertretend für die | |
| komplette Schwarze Community sprechen soll. „Die Leute“, sagt die | |
| 25-Jährige am Telefon, „haben einfach keine Ahnung.“ | |
| Sie nennt sich „biracial“. Ihre Mutter ist weiß, ihr Vater schwarz. Dieser | |
| Hintergrund hat sie dazu gebracht, viel über die Beziehungen zwischen | |
| schwarz und weiß nachzudenken. | |
| Sie ging schon als Jugendliche zu Bürgerrechtsgruppen, kämpft für die | |
| Rechte von MieterInnen und ist Mitglied der Demokratischen Sozialisten | |
| Amerikas (DSA), einer linken Partei, die seit der Wahl von Donald Trump von | |
| der Bedeutungslosigkeit auf stolze 66.000 Mitglieder angewachsen ist. | |
| Bis zur Pandemie arbeitete sie in der US-Hauptstadt für die Gewerkschaft | |
| Unite Here, die Personal aus dem Tourismus, der Gastronomie und von den | |
| Läden an Flughäfen organisiert. Aber nachdem binnen weniger Wochen 95 | |
| Prozent der 300.000 Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos wurden und keine | |
| Mitgliedsbeiträge mehr kamen, musste auch die Gewerkschaft ihren | |
| Beschäftigten kündigen. Seit April ist Dendy arbeitslos. | |
| Als sie im Mai das Video von George Floyds letzten Minuten sah, wusste | |
| Dendy: „Das wird sich für immer in mein Gedächtnis graben. Diese | |
| Selbstverständlichkeit, diese Routine, mit der der Polizist auf dem Nacken | |
| seines gefesselten und völlig wehrlosen Opfers kniet.“ | |
| Es war eine Zeit, in der die Stimmung ohnehin von Trauer und Schwere | |
| geprägt war. Allwöchentlich erfuhr sie von KollegInnen, die an dem Virus | |
| gestorben waren. Andere überlegten, wie sie nach Ablauf der staatlichen | |
| Hilfen Ende Juni finanziell über die Runden kommen können. Unterdessen tat | |
| der republikanische Chef des Senats, Mitch McConnell, so, als wäre alles in | |
| Ordnung. Und in Minneapolis begegnete die Polizei den DemonstrantInnen mit | |
| Gewalt. | |
| Die junge Frau lebt 40 Minuten Fußweg vom Weißen Haus entfernt. Seit George | |
| Floyds Tod geht sie an vielen Abenden dorthin. Sie tut es immer allein. Am | |
| 1. Juni wurde sie im Lafayette Park von einer Tränengaspatrone am Kinn | |
| getroffen. Zum Glück explodierte die erst, nachdem sie auf den Boden fiel | |
| und Dendy sie wegtrat. | |
| Es war einer der chemischen Kampfstoffe, die die Polizei einsetzte, um | |
| friedliche DemonstrantInnen von dem Platz zu vertreiben, damit Donald Trump | |
| ihn überqueren und mit Bibel posieren konnte. Am nächsten Tag ging sie | |
| wieder auf eine Black-Lives-Matter-Demonstration und blieb wieder bis 2 Uhr | |
| morgens auf der Straße. | |
| Dendy erlebt zum ersten Mal eine Bewegung, die von Schwarzen Leuten | |
| angeführt wird. Alles vorangegangene – auch die Frauenproteste gegen Trump | |
| und die Klimabewegung – war mehrheitlich weiß. Diese Gelegenheit will sie | |
| nutzen. | |
| Sie demonstriert gegen Polizeigewalt und Rassismus. Sie hält die Polizei | |
| für nicht reformierbar. Und sie will ihre Abschaffung. Aber zugleich | |
| demonstriert sie auch gegen die nächtliche Ausgangssperre, die die schwarze | |
| Bürgermeisterin der Hauptstadt, die Demokratin Muriel Bowser, verhängt hat. | |
| Eine Ausgangssperre wegen der Pandemie hätte Dendy verstanden. Das hätte | |
| die AfroamerikanerInnen der Stadt vor Ansteckung schützen können. Denn mehr | |
| als drei Viertel der Todesopfer in Washington sind Schwarze, obwohl sie | |
| weniger als die Hälfte der Bevölkerung sind. Aber für eine Ausgangssperre, | |
| um Protest zu verhindern, hat sie nur Worte der Verachtung übrig. | |
| ## Mary Hooks, 38, gehört zu den führenden Stimmen der Protestbewegung in | |
| Atlanta. Sie sagt, die Polizei in den USA sei eine rassistische Institution | |
| und das Kernproblem – und will sie abschaffen | |
| taz am wochenende: Frau Hooks, Sie sind in der antirassistischen Bewegung | |
| in Georgia sehr aktiv. Welches Grundübel bekämpfen Sie? | |
| Mary Hooks: Das Grundproblem ist für mich die weiße Vorherrschaft, die in | |
| das System und in die Institutionen des Landes eingebettet ist. Es ist | |
| Kapitalismus, der auf Rassismus basiert, wir nennen das „racialized | |
| capitalism“. Schwarze, insbesondere Arme aus der Arbeiterklasse, sind | |
| besonders stark von Covid-19 betroffen. Sie sind zugleich die Opfer von | |
| Polizei- und von Staatsgewalt. Und sie sind die Leute, die trotz Corona | |
| weiterhin ihre Arbeit als wesentliche Beschäftigte tun, obwohl sie Löhne | |
| bekommen, von denen sie nicht leben können. | |
| Die neue Bewegung greift viele Themen der Bürgerrechtsbewegung der | |
| sechziger Jahre wieder auf. Sind die Älteren denn gescheitert? | |
| In den Sechzigern wollten sich manche Schwarze wirklich integrieren – sie | |
| wollten den Amerikanischen Traum. Anschließend gab es jede Menge gewählte | |
| schwarze Politiker. Aber sie haben sich leider auf kleine Reformen | |
| beschränkt. Die Ursachen haben sie nicht bekämpft. Martin Luther King hat | |
| gewarnt, wir würden uns in „ein brennendes Haus integrieren“. | |
| Sie leben in Atlanta. Die Stadt hat eine Schwarze Bürgermeisterin und – bis | |
| zu ihrem Rücktritt nach den tödlichen Schüssen auf Rayshard Brooks – auch | |
| eine Frau an der Spitze der Polizei. Macht das keinen Unterschied? | |
| Wenn Politiker Karriere machen wollen, gehen sie Kompromisse ein, die jenen | |
| Gemeinschaften schaden, die am Stärksten leiden. Da macht es keinen | |
| Unterschied, ob sie schwarz oder weiß sind. Wenn sie einmal gewählt sind, | |
| fühlen sie sich verpflichtet gegenüber Konzernen, Immobilienhändlern, | |
| Tourismusunternehmen und der republikanischen Regierung von Georgia. | |
| Wen wählen Sie denn im November? | |
| In diesem Land geht es immer um das kleinere Übel. Wir müssen | |
| sicherstellen, dass der weiße rassistische Fanatiker nicht wieder gewählt | |
| wird. Joe Biden hat Schaden für schwarze Gemeinschaften angerichtet. Sein | |
| Gesetz zur Strafjustiz hat sehr viele Schwarze hinter Gitter gebracht. Aber | |
| seine Basis sind nicht weiße rechte Milizionäre und Nationalisten. | |
| Sie haben erklärt, dass Sie die Finanzen der Polizei kürzen wollen. Warum? | |
| Das ist der erste Schritt zur Abschaffung der Polizei. An manchen Orten | |
| bekommt die Polizei fünfzig Prozent des Budgets, während Sozialdienste | |
| gekürzt werden. Wir wollen, dass das Geld in die schwarze Gemeinschaft | |
| investiert wird. | |
| Wenn Sie die Polizei abschaffen, sähen Sie sich mit mehrheitlich weißen, | |
| schwer bewaffneten Männern konfrontiert, von denen viele politisch weit | |
| rechts stehen. | |
| Wir kennen die weiße Bürgerwehr in diesem Land. Aber wir wissen auch, dass | |
| die Polizei uns nicht vor ihr beschützt. Die Polizei ist eine rassistische | |
| Institution. Sie ist das Kernproblem. | |
| Wie wollen Sie dann – beispielsweise – mit Vergewaltigern umgehen, so ganz | |
| ohne Polizei? | |
| Wir müssen das Patriarchat abschaffen, eine der ältesten Formen von | |
| Unterdrückung. Die Polizei, so wie wir sie kennen, hat Vergewaltigungen | |
| nicht gestoppt. Wir müssen uns selbst schützen. | |
| Zur Antirassismusbewegung gehören auch auffallend viele Frauen sowie queere | |
| und trans Personen. Woran liegt das? | |
| Wir waren schon früher aktiv. Aber wir waren noch nie so sichtbar wie | |
| jetzt. Wir kennen die Angst vor der Polizei. Denn wir leben eben an den | |
| Schnittstellen zwischen „Rasse“, Klasse und Geschlecht. Mit unserer Arbeit | |
| haben wir weitere queere und trans Menschen angezogen, die an anderen | |
| Themen arbeiten als weiße schwule Mainstream Männer. | |
| Vielerorts in den USA sind jetzt auch mehr Weiße als sonst bei | |
| antirassistischen Protesten auf der Straße. Was erwarten Sie von ihnen? | |
| Weiße spielen eine wichtige Rolle bei der Abschaffung von weißer | |
| Vorherrschaft, Patriarchat und den anderen Institutionen, die so viel | |
| Schaden angerichtet haben. Sie können die Bewegung unterstützen. Wir haben | |
| jahrelang darauf hingearbeitet, dass Weiße im Namen von Black Lives | |
| mobilisieren. Manchmal sind ein paar Tote nötig, um zu erkennen, dass etwas | |
| faul ist. | |
| Bislang sieht es aus, als hätte die Bewegung keine Führung. | |
| Wir haben jede Menge Führungsfiguren. Aber es ist zu gefährlich, einzelne | |
| davon an die Spitze zu bringen. Wir haben oft gesehen, was passiert, wenn | |
| wir einen einzelnen – meist einen schwarzen Mann – an der Spitze von | |
| Tausenden haben. Die USA killen ihn. Das haben sie mit Malcolm (X), mit | |
| Martin (Luther King) und mit Medgar (Evers) gemacht. | |
| ## Elijah Norris, 24, setzt sich in Minneapolis für friedliche Demos ein | |
| Elijah Norris sah das Video noch vor dem Aufstehen am frühen Morgen des 26. | |
| Mai. Auf seinem Handy. Im Bett. Die Worte „kaltblütiger Mord“ kamen ihm in | |
| den Sinn. Bis zu der Gedenkkundgebung um 17 Uhr am Tag nach dem Tod von | |
| George Floyd wollte er nicht warten. Zusammen mit FreundInnen fuhr der | |
| 24-Jährige vor die dritte Polizeiwache der Twin Cities Minneapolis und St. | |
| Paul. Zu dem Ort, an dem die Täter in Uniform arbeiteten. Dort verlangten | |
| sie Entlassungen und Anklagen. Als die Randale begann, verließ er die | |
| Demonstration. | |
| Seither ist Norris täglich im Einsatz. „George Floyd war ein Wendepunkt“, | |
| sagt er im Telefongespräch, „danach kann es kein Zurück mehr geben.“ Er | |
| geht zu Mahnwachen. Betet. Weint. Und fährt von einer Demonstration in den | |
| Twin Cities zu nächsten. Er versucht, andere davon abzuhalten, Steine zu | |
| werfen. Warnt sie vor den Konsequenzen für ihr eigenes Leben. | |
| Als nach der Polizeiwache Nummer drei auch Geschäfte in Flammen aufgingen, | |
| griff Norris erneut zum Handy. Dieses Mal saß er in einem Auto und filmte | |
| sich, während er sein Facebook-Publikum warnte, in Stadtteile zu gehen, wo | |
| geplündert wird. „Nehmt nur an Demonstrationen teil, deren Organisatoren | |
| ihr kennt“, riet er. Die Randalierer nennt er „Infiltrierte“ und | |
| „Außenseiter“. | |
| In späteren Videos rief er zu friedlichen Demonstrationen auf. Nach | |
| wenigen Tagen entschied Norris, sein Studium auf Eis zu legen und eine | |
| Organisation mit dem Namen Project Restore Minnesota zu gründen. Er | |
| sammelte Spenden aus anderen Städten – Lebensmittel und Windeln – und | |
| verteilte sie in den Quartieren von Minneapolis und St. Paul, die am | |
| meisten betroffen sind. | |
| Eine weiße Kirche lud ihn zu einem Versöhnungsgespräch mit ihrer Gemeinde | |
| ein. Auch ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung von Martin | |
| Luther King sind die meisten Kirchen nach Hautfarben getrennt. Der Pastor | |
| der First Evangelical Free Church eröffnete die Veranstaltung auf dem | |
| Parkplatz (seine Kirche ist wegen der Pandemie geschlossen) mit den Worten: | |
| „Wir müssen uns entschuldigen.“ | |
| Norris redete über „400 Jahre Plünderungen und Morde“ und darüber, dass … | |
| für einen, der so aussieht wie er, „nie Gerechtigkeit und Freiheit“ gegeben | |
| hat. Anschließend ging er mit den weißen ChristInnen zu der | |
| Straßenkreuzung, an der George Floyd gestorben ist, um gemeinsam acht | |
| Minuten und 46 Sekunden lang zu schweigen. | |
| „Ein guter Anfang“, findet Norris nach der Begegnung, „wenn wir erst einm… | |
| im Gespräch sind, ist ‚Rasse‘ kein Thema mehr.“ Norris will glauben, dass | |
| es jetzt anders wird. Seine Begründung: „Dieses Mal haben wir die | |
| Aufmerksamkeit der Weißen.“ | |
| Als er als Zwölfjähriger mit seiner Familie aus der schwarzen Innenstadt | |
| von Chicago nach Minnesota zog, spürte er zum ersten Mal den Unterschied | |
| zwischen schwarz und weiß in seinem Land. Es war ein Kulturschock. In | |
| Chicago durften die Kinder die Schulbücher nicht mit nach Hause nehmen, | |
| weil es nicht genügend gab. An dem neuen Wohnort der Familie, einer | |
| mehrheitlich weißen Siedlung am Rand der Twin Cities, gab es nagelneue | |
| Bücher in Hülle und Fülle. | |
| An seiner Highschool hatte er dunkel- und hellhäutige Freunde. Aber als er | |
| als Student an die in einer ländlichen Gegend gelegene Winona Universität | |
| wechselte, riefen ihm vorbeifahrende Autofahrer „schwarzer Affe“ und | |
| „Nigger“ zu. Im 2016er-Wahlkampf Trumps wurden sie lauter. Da tauchte in | |
| immer mehr Vorgärten die Fahne der Konföderierten auf. „Man muss stark | |
| sein“, sagt er über das Leben als schwarzer Mann im eigenen Land. | |
| ## Zoe Bambara, 19, hat sich nach dem Tod von George Floyd politisiert. Sie | |
| hat am Stone-Mountain-Denkmal in Atlanta protestiert. „Wir müssen aufhören, | |
| ein Sklavenhalterregime zu feiern“, sagt sie | |
| „Geh zur Hölle“, riefen PassantInnen der jungen Frau zu, als sie vor dem | |
| Ort der Neugründung des Ku-Klux-Klans demonstrierte, einer der | |
| Haupttouristenattraktionen von Georgia. Sprüche wie „Gott hasst dich“ | |
| fielen. Ein anderer Spruch war: „All lives matter“, erzählt Zoe Bambara. | |
| Sie sagt: „Die schwarzen Leben sind in Gefahr. Aber das wollen sie nicht | |
| hören.“ | |
| Bis Ende Mai lernte die 19-Jährige an der Kosmetikschule in Atlanta. Ihre | |
| politischen Aktivitäten beschränkten sich auf Nachrichten in den sozialen | |
| Medien. Nach George Floyds Tod organisierte sie mit anderen jungen Leuten | |
| eine Demonstration gegen Polizeigewalt und Rassismus vom Centennial Olympic | |
| Park zum Kapitol des Bundesstaates. Es wurde ein großer Erfolg. | |
| Bambara gab erste Interviews. Und sie machte gleich weiter. Sie wagte sich | |
| an Stone Mountain heran, das weltweit größte Denkmal zu Ehren der | |
| Konföderierten. Auf der Spitze des Felsmassivs hat sich 1915 der weiße | |
| Geheimbund Ku-Klux-Klan neu gegründet. Auf einer Seite des Felsens sind | |
| ganz groß die drei Führungsfiguren des Sklavenhalteregimes eingraviert, das | |
| den Bürgerkrieg verloren hat: Jefferson Davis, Robert E. Lee und Stonewall | |
| Jackson. Zu Füßen des Felsens ist ein Freizeitpark. | |
| Bislang haben die meisten KritikerInnen von Stone Mountain in Atlanta die | |
| Schultern gezuckt. „Dies ist der Süden“, sagen sie resigniert, „da muss … | |
| sich entscheiden, welche Kämpfe man anfängt.“ Der Park bringt Touristen, | |
| Arbeitsplätze und Geld. Aber Bambara will nicht mehr mit den Schultern | |
| zucken. Was werden soll, weiß sie noch nicht. Aber was sie weiß, ist: „Wir | |
| müssen aufhören, ein Sklavenhalterregime zu feiern.“ | |
| Für den Umgang mit der eigenen Geschichte ist Deutschlands Umgang mit dem | |
| Holocaust ihr Vorbild. „Deutschland hat aus dem Holocaust und aus dem Krieg | |
| gelernt“, glaubt sie. | |
| In den USA hingegen sieht sie eine jahrhundertelange Kontinuität von | |
| Rassismus und Gewalt: Von der verfassungsgebenden Versammlung von 1787, die | |
| SklavInnen nur als Dreifünftel-Personen betrachtete, über die Segregation, | |
| die auf die Sklaverei folgte, bis hin zum redlining (Diskriminierung auf | |
| dem Immobilienmarkt, die AfroamerikanerInnen den Zugang zu „weißen“ | |
| Wohngegenden verwehrt, Anm. d. Red.). | |
| Bei ihrer Protestaktion stand neben ihr ein junger Schwarzer Mann mit einem | |
| geschulterten Gewehr. „Er ist ein Freund“, sagt die junge Frau, „er kommt | |
| zu meinem Schutz und zur Beruhigung meiner Familie mit. Ich bekomme so | |
| viele Drohungen.“ In Georgia ist das offene Tragen von Schusswaffen | |
| erlaubt. Zoe Bambara hat „einen Vater und einen Stiefvater, Brüder und | |
| Onkel und so weiter“, und sie will diese Männer vor Polizeigewalt und | |
| Rassismus schützen. | |
| Aber sie hatte auch eine Großmutter namens Toni, die gestorben ist, lange | |
| bevor Zoe Bambara zur Welt kam – eine schwarze Feministin, die Bücher | |
| geschrieben hat. Sie will nun in die Fußstapfen ihrer Großmutter treten – | |
| und studieren. Bambara will sich dafür einsetzen, dass Schwarze | |
| gleichbehandelt werden. Den Moment hält sie für günstig: „Wir werden die | |
| Geschichte verändern.“ | |
| 20 Jun 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
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