# taz.de -- Wiederaufbau nach Explosion in Beirut: Militär und Polizei fehlen | |
> Während die Menschen Steine schleppen, ist der Staat beim Wiederaufbau | |
> abwesend. Bald könnte sich das ändern – aber die Libanes*innen trauen | |
> ihm nicht. | |
Bild: Eine Gruppe StudentInnen helfen bei den Aufräumarbeiten in Beirut am 11.… | |
BEIRUT taz | Auf dem Balkon eines hellgelben Hauses mit weißen Rundbögen | |
im Beiruter Viertel Mar Mikhael stehen Helfer*innen und werfen Säcke mit | |
Ziegelsteinen hinunter. Darunter steht Sabine Soueidy und gibt | |
Anweisungen. „Es gibt einen Spruch: Beirut lag viele Male am Boden. Aber | |
wir bauen es wieder auf.“ | |
Das alte Haus, das die 23-jährige Politikstudentin seit dem Morgen von | |
Schutt, Asche und Wandsteinen befreit, ist eines der ältesten Häuser in dem | |
Stadtviertel. Die Straße war eine Flaniermeile mit Bars, Cafés und | |
Restaurants. Doch in der vergangenen Woche kamen die Leute nicht zum | |
Ausgehen, [1][sondern zum Aufräumen]. | |
Am 4. August detonierten [2][2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen] der | |
libanesischen Hauptstadt. 170 Menschen kamen um, 6.000 wurden verletzt, | |
rund 250.000 verloren ihr Zuhause. Fensterscheiben sind zerschlagen, | |
Glasscherben liegen auf den Straßen; Stühle, Bilderrahmen, Blumentöpfe sind | |
durch die Druckwelle auf die Straße gefallen, Balkone und Hauswände | |
eingestürzt. In den Tagen nach der Explosion kommen deshalb Hunderte | |
Freiwillige in die zerstörten Viertel. | |
In dem Viertel Gemmayzeh steht ein senfgelbes Haus, dessen schwarze | |
Metalltüren und Balkongitter mit Rechtecken im Art-déco-Stil verziert sind. | |
Das Gebäude aus der Kolonialzeit begrüßt die Gäste sonst mit einem kleinen | |
Springbrunnen, doch am Eingang liegen Tonscherben, Textilien und | |
Holzstreben. Der 26-jährige Architekt Bahaa Baschnak setzt einen Helm auf | |
und tritt ein. „Hallo, wir arbeiten mit einer Solidaritätsinitiative. Wir | |
schauen, wie wir Menschen helfen können, wie sie betroffen sind, und | |
wollten nach ein paar Informationen fragen.“ | |
## Freiwillige sammeln Daten darüber, was gebraucht wird | |
Baschnak fragt nach der Zahl der beschädigten Räume, wie lange das ältere | |
Ehepaar bereits in dem Haus wohnt und seit wann das Mietverhältnis besteht. | |
„Was benötigen Sie am dringendsten? Essen, Medizin, Reparaturen, Kleidung | |
oder Unterkunft?“, fragt er und gibt die Antwort des 77-Jährigen Bewohners | |
in ein Formular auf seinem Handy ein. „Reparaturarbeiten.“ | |
Bahaa Baschnak ist einer der freiwilligen Architekt*innen, die in | |
Eigeninitiative die Menschen nach ihren Bedürfnissen fragen und eine | |
soziologische Studie erstellen. Sie sammeln Daten über den Grad der | |
Zerstörung, die historische Bedeutung der Häuser und die Menschen, die | |
darin wohnen. Die Analyse des sozioökonomischen Geflechts soll bei der | |
Planung des Wiederaufbaus helfen. | |
Nach der Phase der ersten Beobachtungen sollen professionelle | |
Architekt*innen und Ingenieur*innen die Schäden genauer untersuchen | |
und bestimmen, welche Gebäude renoviert und wie sie wiederaufgebaut werden | |
sollten. „Natürlich brauchen wir einen Plan, wie wir all diese Schäden | |
beheben können“, sagt Baschnak. „Aber wir sollten diese Planung nicht der | |
Regierung überlassen.“ | |
Wie alle freiwilligen Helfer*innen, die Essen kochen, Scherben aufsammeln | |
oder psychologische Unterstützung leisten, arbeiten auch die | |
Architekt*innen ohne die Legitimation des Staates. Sie haben das | |
Vertrauen in die Regierung verloren und glauben nicht daran, dass diese | |
beim Wiederaufbau hilft. Im Gegenteil: „Natürlich würden sie gerne das tun, | |
was sie auch nach dem Bürgerkrieg in der Innenstadt getan haben: alle | |
Menschen aus dem Gebiet evakuieren und es verändern: Seine Geschichte und | |
soziale Struktur zerstören und stattdessen Hochhäuser bauen.“ | |
## „Wir wollen die Menschen vor der Räumung schützen“ | |
1994, nach dem Ende des Krieges im Libanon, gab ein neues Gesetz einer | |
einzigen Immobilienfirma das Recht, die Innenstadt Beiruts neu zu planen. | |
Die Gesellschaft für die Entwicklung und den Wiederaufbau von Beirut, | |
genannt Solidere, ist eine Aktiengesellschaft. Ihr größter Anteilseigner | |
ist die Familie des damaligen Premierministers Rafik Hariri. Mit ihr | |
startete Hariri das größte urbane Entwicklungsprojekt der 90er Jahre. | |
„Sie haben die Leute aus der Innenstadt vertrieben, und nun ist sie leer, | |
sie ist nicht für die Leute bestimmt, sondern gehört Solidere“, erklärt | |
Imad Amer, ebenfalls Mitglied des Architekt*innen-Komitees. „Jetzt wollen | |
wir dieses Szenario nicht erneut erleben. Wir trauen den Unternehmen, der | |
Regierung und der Oligarchie dieses Landes nicht, und wir wollen die | |
Menschen vor der Räumung und den Bulldozern der Bauträger schützen.“ | |
Barbesitzer*innen und Hausbewohner*innen haben deshalb große Plakate | |
an die Hausfassaden gehängt. Darauf steht in roter Signalfarbe: „Wir | |
bleiben.“ | |
16 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Julia Neumann | |
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