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# taz.de -- Roman „Jahre mit Martha“: Liebesgeschichte mit Sonderzeichen
> In seinem Roman „Jahre mit Martha“ erzählt Autor Martin Kordić die
> Biografie eines migrantischen Bildungsaufsteigers.
Bild: Kordić' Roman „Jahre mit Martha“ nimmt die Lebenswirklichkeiten der …
Frau Professor Gruber macht im Badeanzug Gymnastik, bevor sie mit
Kopfsprung im Pool verschwindet. Der 15-jährige Jimmy, für die Sommerferien
als Gartenhelfer engagiert, sägt mit freiem Oberkörper Holz. Spannung liegt
in der Luft – bis sie eines Tages ganz allein sind, im Anwesen in
Heidelberg …
Der Schüler und die Professorin. Was die Anlage zu einer verschwitzten
„Reifeprüfungs“- Fantasie hätte, kommt bei Martin Kordić verblüffend
unpeinlich daher. Denn die Spannung zwischen dem ungleichen Liebespaar in
seinem Roman „Jahre mit Martha“ entspringt weniger einem erotischen
Klischee als einiger Situationskomik – Frau Gruber kann beim ersten Treffen
vor Scham nicht pinkeln in Jimmys beengter Wohnung – und einem großen
Klassenunterschied.
Jimmy heißt in Wirklichkeit Željko Draženko Kovačević, was wegen der vielen
Sonderzeichen nie cool sein wird. Der Sohn von Kroaten aus der Herzegowina,
dessen Mutter drei Putzjobs hat und dessen Vater auf Baustellen malocht,
wohnt mit zwei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen.
Um sich zu bilden, sammelt er Lektüre aus Altpapiercontainern. In der
Bibliothek der Grubers findet er erstmals Zugang zu einer Welt, die ihm qua
Herkunft verschlossen ist: „Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine
Eltern noch annehmen würden – hier sah ich alles, was ich von ihnen nie
würde bekommen können.“
## Das Ungleichgewicht bleibt
Zu mehr als Küssen am See kommt es zwischen ihm und der 25 Jahre älteren
Akademikerin zunächst nicht. Erst als es Jimmy nach München an die Uni
geschafft hat, bekommt die Beziehung auch eine sexuelle Komponente. Das
Ungleichgewicht zwischen den beiden aber bleibt. Die ältere Frau gibt den
Ton an: Sie bezahlt, sie bestimmt, sie choreografiert seine Erregung. Und
Jimmy unterwirft sich.
Mit zunehmender Entfernung zu seinem Herkunftsmilieu wird der Student immer
einsamer und anfällig für manipulative Figuren wie den schillernden
Literaturdozenten Alex Donelli, der ihn erst protegiert und dann fallen
lässt. Den Tag seiner Uni-Abschlussfeier verbringt Jimmy nur mit Martha –
und wird sich zum ersten Mal des Preises bewusst, den ihn sein
Bildungsaufstieg gekostet hat.
„Seit heute war ich ein Kovačević mit einem akademischen Abschluss. […]
Trotzdem war ich an diesem Tag von einer Traurigkeit umhüllt. […] Meine
Eltern fehlten. Mein Bruder fehlte. Meine Schwester fehlte. Meine Cousinen
und Cousins fehlten. Meine ganze große Familie fehlte.“
## Lebenswirklichkeit der Migrantenkinder
Erkennbar steht „Jahre mit Martha“ in einer noch jungen Tradition von
Romanen, die, endlich, die Lebenswirklichkeiten der BRD-Migrantenkinder in
den Blick nehmen. Wie findet man seinen Platz in einer Gesellschaft, die
Kindern mit „Sonderzeichen-Nachnamen“ höchstens eine Gärtnerausbildung
zugesteht, wie der Mann vom Arbeitsamt, der Jimmys zehnte Gymnasialklasse
besucht? Wie viel Anpassung ist nötig, um Erfolg zu haben – und wie groß
ist die Gefahr des Verrats an der eigenen Herkunft?
All diese Fragen verhandelt auch das Buch „Jahre mit Martha“, dessen
gesellschaftspolitische Fragestellung der Autor gleich zu Beginn
ausformuliert: „Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass
wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“
Möglicherweise lässt der Hanser-Lektor Martin Kordić, auch er Sohn eines
Kroaten, hier Elemente seiner eigenen Biografie durchscheinen. Doch „Jahre
mit Martha“ ist nicht in erster Linie autobiografisch, noch verfolgt es ein
im engeren Sinne klassenkämpferisches Anliegen. Jimmy, der sich irgendwann
wieder Željko nennt und am Ende doch Gärtner wird, ist kein klassischer
angry young man – dafür entzieht er sich zu sehr üblichen Zuschreibungen
männlich-migrantischer Adoleszenz.
Genauso wenig hat Kordić ihn als Opfer einer migrantenfeindlichen
Klassengesellschaft angelegt. Jimmy-Željko ist schillernd: auf seine
eigene, poetisch-literarische Art: anpassungsbereit, aber eigensinnig, ein
bisschen bi, aber engagiert im konservativen Fußballverein Kroatia
Vorderpfalz, ein Michael-Jackson-Fan mit Faible für melancholische Lyrik.
Ein beeindruckend vielschichtiger Charakter in einem schönen Roman.
8 Sep 2022
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Roman
Migration
Liebespaar
Erotik
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Klassengesellschaft
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Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Roman
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Kolumne Transit
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