# taz.de -- Neue Gedichte von Esther Kinsky: Ein Lied über die Ewigkeit | |
> Esther Kinskys vielschichtiger Gedichtzyklus „Heim.Statt“ umkreist einen | |
> zentralen Komplex der Menschheitsgeschichte: Auswanderung, Flucht und | |
> Gewalt. | |
Bild: Grenzen überwinden, die der Länder, auch die der Sprachen: Esther Kinsky | |
Esther Kinsky bleibt mit ihrer Kunst nah am Boden. Sie hat schon mehrfach | |
geologische Schichten untersucht, das Material der Erde, und es mit | |
überraschenden Effekten dem Material der Sprache ausgesetzt. Dadurch | |
entsteht eine sehr charakteristische ästhetische Reibungsfläche. | |
Auch Kinskys neuer Gedichtband „Heim.Statt“ ist in solcher Weise | |
Konzeptkunst. Er besteht aus sieben Langgedichten, die in unterschiedlichen | |
geografischen Zonen angesiedelt sind, und im Zusammenklang entsteht ein | |
großes Thema: Auswanderung, Flucht, Gewalt, Verlust der Heimat – Letztere | |
wird aber gleichzeitig auch in kleinste, sinnlich spürbare und leuchtende | |
Facetten aufgeteilt. | |
Es sind entlegene Gegenden: der Norden Schottlands oder dünn besiedelte | |
[1][Landstriche in Polen,] und ein besonderes Zentrum liegt in | |
Südosteuropa, wo deutsche, italienische und slawische Dialekte und Sprachen | |
ineinander übergehen. | |
## Karges Leben der Frauen | |
Man kann in den einzelnen Langgedichten inhaltliche Momente bestimmen, auch | |
wenn sie nicht auserzählt, sondern durch klangliche Mittel wie Reihungen, | |
Alliterationen, Assonanzen evoziert werden: die schlechten | |
landwirtschaftlichen Bedingungen in Schottland, die Armut in Polen, das | |
karge Leben der Frauen im Karstgebiet, wo die Männer nur im Sommer nach | |
Hause kommen. | |
Im Mittelpunkt des Geschehens steht aber auch die Dynamik der Sprache | |
selbst. Sie macht die existenziellen Dimensionen erst sichtbar. Das Starre, | |
Unabänderliche tritt durch Partizipialkonstruktionen und | |
Substantivierungen zutage, und durch die Kombination der jeweiligen | |
Ursprungs- mit der deutschen Sprache entstehen eigentümliche Effekte. | |
Das englische „sea“, das Meer, taucht in der schottischen Sphäre in | |
verschiedenen Zusammenhängen auf, deutsche und englische Wörter | |
durchdringen sich so, dass „sea“ auch als der deutsche Imperativ „sieh!“ | |
gelesen werden kann, „vom rand her sea“. Das Aussichtslose wird beredt, und | |
die Passage endet mit den Zeilen: „decipher / the interstices / sprich zu | |
mir / meer.“ | |
Interstices, Zwischenräume: dies sind die Fluchtpunkte, die | |
Lebensmöglichkeiten. Dass die Sprachen ineinandergreifen, ist Programm. Es | |
gibt in diesen Gedichten keine einzelnen Länder, sondern Schicksale. Und | |
sie werden zusammengesehen durch einen [2][poetischen Blick,] der nichts | |
Romantisches hat, sondern etwas unabdingbar Zeitgenössisches. | |
## Schroffe Zeilenbrüche | |
Man muss sich in diese Texte, die zum Teil mehrstimmig sind, langsam | |
hineinlesen. Sie thematisieren sich mitunter auch selbst: „Mergel die | |
altwand aus bröckelnder schrift wohin mit den schritten knöcheltief | |
schlurfend bis stolpernd in senken aus unreifem gestein (…)“. Rhapsodische | |
lyrische Prosa und schroffer, spröder Zeilenbruch wechseln sich oft ab. | |
Und der Gesamttitel „Heim.Statt“ bildet einen Schlüssel für die | |
sprachlichen Bewegungen. Die Trennung mitten im Wort, die Trennung der | |
vertrauten, innigen Bezeichung „Heimstatt“ in zwei auseinanderfallende | |
Teile weist auf einen grundlegenden Gegensatz. Die Texte des Bandes stehen | |
anstelle einer Heimat, statt einer Heimat, aber vielleicht finden sie etwas | |
Entsprechendes in ihrem eigenen Suchen und Voranschreiten. | |
In einem zerklüfteten Gebiet voller Minderheiten, im Nordosten Italiens, wo | |
das Slowenische, das Friaulische und Alpendialekte wie direkt aus dem | |
Mittelhochdeutschen aufeinanderstoßen, entfaltet Esther Kinsky eine | |
vielgestaltige Binnenwelt aus Sträuchern, Beeren, Vögeln und menschlichen | |
Werkzeugen. Und auch im Langgedicht „Nist“ fließen zwei verschiedene | |
Sprachen zusammen. | |
Die Zeilen drehen sich um eine Bauernmagd, es fällt ein früherer Ortsname | |
„Grundischken“. Aus der Zeile „Gänsegret i pieśn o wiecznej“ (Gänseg… | |
ein Lied über die Ewigkeit) lässt sich eine deutsch-polnische Zeitlosigkeit | |
herauslesen. Die Magd träumt davon, sich in einen Vogel zu verwandeln und | |
sämtliche Grenzen zu überwinden, und damit sind keineswegs nur politische | |
gemeint; es geht auch um die Grenzen der Sprache. | |
Das deutsch-polnische Sprachspiel gestaltet sich gegen Ende so | |
(„Skrzydelka“ heißt „Flügel“): „Andrzejki hat einen singfink besche… | |
ein paar flügel / aus wachs / weiße gebildchen gefiedergerillt / skrzydelki | |
ein flirrsprich zur nacht / ein skrzydelgeschirr für den ritt (…)“ | |
## Siebenmal Balkanroute | |
Das Rhythmische verbindet sich in diesen Gedichten mit bestimmten Bildern, | |
die wiederkehren und selbstständige Motivkomplexe bilden. Der Text entwirft | |
seinen eigenen Sinnzusammenhang und stellt ihn der vorgefundenen | |
Wirklichkeit entgegen. So entsteht ein immer dichter werdendes Netz mit | |
literarischen Bezügen. Und die Dichterin intensiviert das noch dadurch, | |
dass jedem der sieben Langgedichte eine Art Appendix nachgestellt wird, und | |
jeder trägt dabei dieselbe Überschrift: „Balkanroute“. | |
Die aktuelle Flüchtlingsthematik, die dieses Wort benennt, wird in den | |
kurzen Texten aber nur indirekt aufgegriffen. Sie weitet sich aus auf einen | |
Zeitraum von mehreren Jahrtausenden. Einzelne Motive werden auf dieser | |
Route in verschiedenen Durchläufen, vom Mittleren Osten bis zum Balkan, | |
variiert, vom zentralasiatischen Khorasan bis ins klassische Griechenland. | |
Es geht um antike Mythen wie denjenigen von Orpheus und Eurydike und um die | |
Angst vor dem Sprachverlust, um die Nachtigall und um die Schwalbe, um die | |
Rosenfelder bei Szeged oder den persischen Dichter und Astronomen Omar | |
Khayyam aus dem 11. Jahrhundert. Auf diese Weise weitet sich der Horizont. | |
Und die vielschichtige, die vielgestaltige Kunst mindert nicht, sondern | |
verstärkt die Dringlichkeit. Das ist eine der zentralen Botschaften dieses | |
Buches. | |
26 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Böttiger | |
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