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# taz.de -- Lyrik von Silke Scheuermann: Wohldotierte Poetik der Weltferne
> Silke Scheuermann veröffentlicht nach einem knappen Jahrzehnt mit
> „Zweites Buch der Unruhe“ einen neuen Lyrikband.
Bild: „In meinen Erinnerungen ist immer Winter. Sie sagten, / eine Märchenge…
Als der gutmütige, aber gestresste Buchhalter Manny in der Serie „Black
Books“ die seinerzeit populäre Achtsamkeitsfibel [1][„The Little Book of
Calm“] verschluckt, erstickt er wundersamerweise nicht daran, sondern
findet zu einer nervtötenden Gelassenheit. Erst als er einer
Hooligan-Truppe seine Weisheit zuteilwerden lässt und daraufhin verprügelt
wird, verpufft sein Zwang, Weisheitssprüche abzusondern.
Etwa zur Zeit der Erstausstrahlung der Trilogie (2000) um die drei Geeks
Manny Bianco, Fran Katzenjammer und Bernard Black erwarb [2][Silke
Scheuermann] erste Meriten als Lyrikerin; wurde bald zum Shooting Star der
Lyrikszene und zur gefeierten Romanautorin und Essayistin. Seit einem
knappen Jahrzehnt hat Scheuermann keinen Gedichtband mehr vorgelegt.
Allenfalls einzelne Motive wie Tierethik, KI-Schelte und Konsumkritik
ähneln in ihrem neuen Lyrikband entfernt den derzeit dominanten
Diskurspositionen; mit dem Unterschied, dass [3][eine Reflexion auf
Politiken und Räume des Sprechens] in keinem Gedicht ihres sechsten Bandes
zu finden ist.
Diskurse rund um Identitäten (Queerness, Klassismus) auf den simplen
Dualismus Mensch/Maschine herunterzubrechen, bedeutet in Zeiten
gesellschaftlicher Backlashs: eine angejahrte Lyrikbeflissenheit zu
promoten. Das ist natürlich nicht verwerflich, aber es ist bloß
Werkpolitik. Nach der Pause muss Kontinuität her!
## Die Sprache der inneren Wirklichkeit
Eine ganze Reihe ästhetischer Parameter haben sich in den letzten Jahren
indes verschoben, beispielsweise muss sich Scheuermanns „Wir“ nach der
eigenen Sprechposition fragen lassen: Wird hier nicht ein disperses
Publikum mit einer eurozentrischen Gemeinschaft identifiziert? Eine Antwort
darauf könnten Scheuermanns Frankfurter Poetikvorlesungen von 2018 bieten:
„Mir gefällt in diesem Zusammenhang die auf Paul Valéry zurückgehende Idee,
dass Poesie eine Sprache innerhalb der Sprache sei, aber eine mit größeren
Freiheiten, weil sie sich nicht auf die äußere, sondern eine innere
Wirklichkeit beziehe. Diese innere Wirklichkeit erlebt jeder Autor anders,
und er muss dafür eine neue Sprache (…) und vor allem neue Bilder finden –
solche, die möglichst unvergleichlich sind, aber doch nicht
unverständlich“.
Hermetik und Kommensurabilität gehen eine paradoxe Verbindung ein; trotzdem
kommt eine solche wohldotierte Poetik der Weltferne zu erstaunlichen
Findungen: „Das Dorf“, „Die Lampe“ und „Die Möwe“, die sich einer
Clip-Ästhetik annähern, die an Rammstein erinnert, kriegen einen, weil es
sich um emphatische Nachschriften zur Schwarzen Romantik handelt: „In
meinen Erinnerungen ist immer Winter. Sie sagten, / eine Märchengestalt
hätte das Dorf erträumt. (…) Ich war in hellblauen Briefen unterwegs zu
dir, / aber die Schneekönigin hatte dich lange vor mir erwischt. (…) Ich,
die ich Draußen / bevorzuge wie alle meiner Art, lasse mich auf einer
Stuhlkante nieder. Sieh mal, eine Möwe, sagt jemand“.
Dringlich wird es auch, wenn Parallelen zu Brechts „Buckower Elegien“
gezogen werden, oder wenn Fernando Pessoa, der zum Klischee geronnene
Sonderling, als virtuell reisende Plaudertasche imaginiert wird: „Pessoa,
der seine eigene These bestätigt, / Existieren sei Reisen genug, der /
quasitelepathisch seinen Möglichkeitssinn austestet, / zuerst die
Freiheitsstatue, / und zehn Sekunden später direkt / vor den Taj Mahal
teleportiert wird“.
## Rilke statt Virtual Reality
Leider desinteressiert an der popkulturellen Virulenz von Virtual Reality –
aufwühlend in Szene gesetzt in dystopischen Serien wie „Real Humans“
(2012–2014) –, dockt Scheuermanns „Liebesgedicht an alle Liebesgedichte“
direkt bei einer bürgerlichen Rilkelektüre an, inklusive einer behaupteten
Feier des Numinosen bei ästhetizistisch verbrämter Verachtung für alles
Maschinelle.
Der Umgang mit KI kann aber doch auch ganz unverhoffte Perlen
hervorbringen! [4][Hannes Bajohrs Digitalpoesie] zeigt das ein ums andere
Mal. Eine derart neckisch erzeugte Unruhe tut niemandem weh. Gedichte
müssen indes kein [5][Diskurs-Pogo] sein. Für Silke Scheuermann sind sie
ein Tool fortgeschrittener Kontemplation. Es ist auch keine Kleinigkeit,
dass „Zweites Buch der Unruhe“ gegen die toxische Positivität einer
Gesellschaft anschreibt, deren bürgerliche Mitte zukünftig wohl „mehr Milei
und Musk wagen“ wird.
13 Aug 2025
## LINKS
[1] https://blackbooks.fandom.com/wiki/The_Little_Book_of_Calm
[2] /Klischee-Roman-ueber-Kunstszene/!5122450
[3] /Berliner-Kollektiv-bringt-mehrsprachige-Poesie-in-den-Spaeti/!6096089
[4] https://0x0a.li/de/
[5] /Jubilaeumskolumne-/!6102202
## AUTOREN
Konstantin Ames
## TAGS
deutsche Literatur
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