| # taz.de -- Neuer Roman von Katja Lange-Müller: Ungeliebte Kinder | |
| > Virtuosin des bösen Blicks: Katja Lange-Müllers Roman „Unser Ole“ ist e… | |
| > brillantes Kammerspiel, das von Einsamkeit und Abhängigkeit erzählt. | |
| Bild: Katja-Lange Müller in ihrer Wohnung in Berlin-Wedding | |
| In der [1][DDR] war der Schlagersänger Herbert Roth ein Star. Er tingelte | |
| im Robur-Kleinbus durch die Ferienorte im Thüringer Wald, war im Fernsehen | |
| zu Gast, und in einer wöchentlichen Radiosendung der „Stimme der DDR“ | |
| wurden Roths Lieder angeblich in Dauerschleife gespielt – darunter bestimmt | |
| sein Hit „Kleines Haus am Wald“, mit dem [2][Katja Lange-Müllers] neuer | |
| Roman „Unser Ole“ beginnt. | |
| Jedenfalls kommt Ida der Refrain in den Sinn, während sie ihren Koffer | |
| packt. „Kleines Haus am Wald / Morgen komm ich bald“, lauten die Zeilen, | |
| die sie in der Jugend oft gehört hat. Ida wird in ein solches Refugium am | |
| Waldesrand einziehen, doch eine Idylle wie im volkstümlichen Liedgut darf | |
| sie nicht erwarten. Wie immer sind es sorgsam ausgewählte Details, mit | |
| denen Lange-Müller eine Figur charakterisiert und zugleich den | |
| gesellschaftlich-historischen Kontext aufzeigt. | |
| Die attraktive Ida hat sich im Laufe ihres Lebens von Männern aushalten | |
| lassen. Das ging lange Zeit gut. Als die Mauer fiel und, wie sie selbst | |
| formuliert, auch bei ihr „der Lack ab“ war, hatte sie sich mit dem Geld | |
| eines „Langzeit-Sugardaddys“ künstliche Brüste machen lassen. Die straffe | |
| Oberweite ist seitdem ein körperliches Kapital, zu dem sie ein äußerst | |
| ambivalentes Verhältnis pflegt. Der gefühllose Busen wird jedenfalls zum | |
| Symbol für die unbefriedigenden Beziehungen, die Ida eingeht. | |
| Irgendwann bleiben die lukrativen Männerbekanntschaften jedoch leider aus. | |
| Noch jobbt sie als Seniorenmodel im Kaufhaus, doch im Grunde ist die | |
| 76-jährige Ida mittellos, muss ihre Wohnung bald verlassen. Gewissermaßen | |
| im letzten Moment lernt sie Elvira kennen, die Frau mit dem Haus am Wald, | |
| das der früh verstorbene Gatte hinterlassen hat. Die Witwe kann etwas | |
| Unterstützung im Haushalt gut gebrauchen. Denn sie kümmert sich um ihren | |
| geistig zurückgebliebenen Enkel, den ihre Tochter Manuela kurz nach der | |
| Geburt verstoßen hat. | |
| ## Ohne Moos nix los | |
| Ida lässt sich auf die „Dreier-WG“ mit gemischten Gefühlen ein, weil sie | |
| befürchtet, Elvira könne möglicherweise eine „lesbische Ader“ haben, doch | |
| sie hat keine andere Wahl. „Wird schon schiefgehen“, ermuntert sich Ida, | |
| die vor keiner noch so abgedroschenen Redensart zurückschreckt, was die | |
| Figur trotzdem nicht unsympathisch macht, sondern sie in ihrer | |
| Bodenständigkeit sprachlich treffend beschreibt. | |
| „Ohne Moos nix los“, könnte Idas Lebensmotto lauten, aber auf diesen Spruch | |
| wartet man vergeblich. Tatsächlich verbindet die Figuren in diesem Roman | |
| eine bittere Abhängigkeit vom Vermögen, das andere einmal verdient haben. | |
| Die Folge sind Lebenslügen und Konstellationen des Zusammenlebens, in | |
| denen die Menschen auch in Gesellschaft einsam sind. | |
| Es gehört zur literarischen Kunst [3][der vielfach ausgezeichneten | |
| Autorin,] dass nicht nur Charaktere und Einzelszenen stimmig entwickelt | |
| sind. Die perfekt gebaute und doch nicht so leicht zu durchschauende | |
| Dramaturgie des Kammerspiels bietet zudem eine erstaunliche | |
| Spannungsgeschichte: Der Titelheld glänzt zunächst mit Abwesenheit. | |
| Ole haust unbeachtet in der Dachkammer, futtert Bockwürste und säuft | |
| literweise Cola. Dann stürzt Elvira die Treppe hinunter, und der Verdacht | |
| liegt nahe, dass der jähzornige Junge mit dem Tod der Großmutter etwas zu | |
| tun haben könnte. Doch Ole verweigert nicht nur die polizeilichen | |
| Befragungen, er reagiert auch völlig desinteressiert, als seine leibliche | |
| Mutter auftaucht. | |
| ## Gefühlskalte Mütter | |
| Damit drehen sich die Machtverhältnisse in der seltsamen Wohngemeinschaft | |
| erneut. Manuela möchte am liebsten nicht nur Ida, sondern auch den | |
| grobschlächtigen Sohn loswerden. Sie spekuliert auf eine Erbschaft, die ihr | |
| endlich ein Leben ohne Stütze ermöglicht. Mit der anstehenden Beerdigung | |
| befasst sich Manuela nur widerwillig. Die Lieblosigkeit der verstorbenen | |
| Mutter, unter der sie als Mädchen gelitten hatte, und die Scham über ihr | |
| eigenes Verhalten gegenüber Ole, lähmen sie weiterhin. | |
| Obwohl oder vielleicht weil Manuela nie erwachsen wurde, durchschaut sie | |
| schnell die prekäre Lage von Ida, die sich ebenfalls an einer gefühlskalten | |
| Mutter abgearbeitet hat. Statt aus den Erfahrungen gemeinsam zu lernen, | |
| statt endlich Empathie für das schwächere Gegenüber zu entwickeln, | |
| degradiert Manuela die Gefährtin der Toten zu einer Hausangestellten, die | |
| schuften muss, um nicht vor die Tür gesetzt zu werden. Dass allein Ole sich | |
| aus dem Geflecht der Abhängigkeiten zu lösen vermag, ist die kuriose Pointe | |
| dieses brillanten Buchs. | |
| In ihren vorangegangenen Romanen „Böse Schafe“ und „Drehtür“ hat Katja | |
| Lange-Müller gezeigt, wie wichtig die Wahl der Erzählperspektive für das | |
| Gelingen eines längeren Prosawerks ist. In „Unser Ole“ stellt sich die | |
| Berliner Schriftstellerin als allwissende Instanz vor: „Diese Geschichte | |
| ist nicht erfunden, schon gar nicht frei.“ Die Namen habe sie geändert, den | |
| Menschen „Gedanken in den Kopf und Wörter in den Mund gelegt“, auch um | |
| Spuren zu verwischen, „obwohl zwei von ihnen bereits verstorben sind, mich | |
| also ohnehin nicht mehr verklagen könnten“. | |
| Die Position, die mit dem Justiziablen spielt, könnte dazu führen, dass | |
| eine literarische Richterin über ihre Figuren herzieht. Doch das Gegenteil | |
| ist der Fall, die traurigen Heldinnen entblättern sich durch erlebte Rede | |
| und inneren Monolog von sich aus; der für die Charaktere angemessen | |
| schnoddrige Tonfall, der gewiss dem literarischen Naturell Lange-Müllers | |
| entspringt, lässt dabei von Beginn keine sentimentale Stimmung aufkommen. | |
| Mit „Unser Ole“ hat Katja Lange-Müller, eine Virtuosin des bösen Blicks, | |
| abermals bewiesen, wie zeitgemäß und erhellend ein psychologisch | |
| grundierter Realismus heute noch ist. | |
| 20 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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