# taz.de -- Neues Buch von Aslı Erdoğan: Schreiben ohne Angst vor Abgründen | |
> Sie haben sie ins Gefängnis gebracht: Die schonungslosen Kolumnen der | |
> türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan liegen nun endlich auf Deutsch | |
> vor. | |
Aslı Erdoğan ist schonungslos. Und zwar zuallererst sich selbst gegenüber. | |
Die türkische Schriftstellerin, die im Ausland stets mehr gehört und | |
gelesen wurde als in ihrer Heimat, befand sich viele Jahre auf der Suche | |
nach ihrem Platz in der Welt. Sie lebte in Genf, um als Kernphysikerin am | |
Cern-Institut zu forschen. Sie zog nach Rio de Janeiro, um ihre | |
Doktorarbeit abzubrechen und sich voll und ganz der Literatur zu widmen. | |
Doch ausgerechnet in den letzten Jahren, die wohl eines der dunkelsten | |
Kapitel der türkischen Geschichte darstellen, blieb sie in der Türkei. Um | |
den Abgründen nachzuspüren, die sich in dem porösen Boden eines zunehmend | |
repressiven Staats öffnen. Um über sie zu schreiben, ohne Angst, selbst in | |
ihnen verloren zu gehen. | |
Ihre Beobachtungen, die von Gräueltaten während der Ausgangssperren in den | |
kurdischen Gebieten (2015–2016) bis hin zur Putschnacht in Istanbul (Juli | |
2016) reichen, schrieb sie in Form von essayistischen Kolumnen für die | |
inzwischen verbotene prokurdische Zeitung Özgür Gündem auf. Als | |
Mitherausgeberin wurde sie im vergangenen Sommer im Rahmen der Razzien | |
gegen Oppositionelle verhaftet und kam erst über vier Monate später unter | |
Auflagen frei. Nun erscheinen die Kolumnen in einer hervorragenden | |
deutschen Übersetzung. | |
## Was Erdoğans Schriften so gefährlich macht | |
Erdoğans Schonungslosigkeit offenbart sich aber viel mehr noch in ihren | |
Texten. „Kann ich davon ausgehen, dass ich den Opfern, über die ich | |
schreibe oder schweige, überhaupt gerecht werde?“, fragt die Autorin sich | |
einmal. „Wenn ich versuche, in ihrem Schmerz den Schmerz der Menschheit zur | |
Sprache zu bringen, kann ich behaupten, zu wissen, was genau es ist, das | |
ich ihren Schmerzen gegenüber einfordere – Empathie, Respekt, | |
Gerechtigkeit, was auch immer?“ | |
Noch bevor Erdoğan die sie umgebende Welt mit kritischem Blick seziert, | |
konfrontiert sie stets den Zweifel an ihrer eigenen Rolle. Und vielleicht | |
ist es das, was ihre Schriften so gefährlich macht. Das Gefühl bei | |
Leser*innen, dass hier jemand Ehrlichkeit will um jeden Preis. | |
Gleich sechs Übersetzer*innen arbeiteten an dem Sammelband „Nicht | |
einmal das Schweigen gehört uns noch“, dessen türkische Originalversion | |
bisher nicht erscheinen konnte. Warum, das wird allen verständlich, die nur | |
ein paar Seiten aus dem Buch lesen und ein bisschen mitbekommen haben, wie | |
es heute um die Meinungsfreiheit in der Türkei steht. | |
## Der Glanz der Unnachgiebigkeit | |
Verkohlte Kieferknochen von 12-Jährigen, Menschen, die bei lebendigem Leib | |
in Kellern verbrannt werden – Aslı Erdoğan scheut kein schreckliches Bild, | |
das die Massaker an der kurdischen Bevölkerung anschaulich macht. Und doch | |
bleibt sie stets Schriftstellerin, berichtet nie als Reporterin. | |
Erörtet den Faschismusbegriff, meditiert im Regen vor einem Wellensittich | |
im Pet-Shop-Schaufenster, betrachtet das „Trümmerfeld“, zu dem das | |
Gedächtnis eines Vielvölkerstaats geworden ist, der keiner sein will: „Wenn | |
wir aus einer schreierischen Feindseligkeit heraus, […] in der | |
‚Geschichte‘ nur die Spuren vergangener Größe suchen, mangelt es | |
uns auf entsetzliche Weise an Mitgefühl dafür, was Menschen erlebt | |
und erlitten haben.“ | |
Dass der Glanz von Erdoğans Texten unmittelbar mit der von ihr forcierten | |
Unnachgiebigkeit zusammenhängt, offenbart sich gleich am Anfang des Buchs, | |
wo sie von der turbulenten blutigen Nacht zum 15. Juli 2016 erzählt. Auf | |
die Nachricht von dem Putsch hin begibt sie sich schnell nach Hause, um | |
dort festzustellen, dass sie eigentlich draußen sein will. Sie läuft den | |
Schussgeräuschen hinterher, bis sie schweigend und im blauen Kleid „Am Fuß | |
einer Mauer“ kauert, wo nichts mehr ist, was „das Gestorbensein noch vom | |
Nichtgestorbensein trennen würde“. | |
24 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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