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# taz.de -- Armutsforscher zur SPD-Spitze: „Hysterische Reaktionen“
> Christoph Butterwegge im Interview über die neue SPD, Ulf Poschardts
> Kritik der hässlichen Bonner Republik und sein Buch „Die zerrissene
> Republik“.
Bild: Als Deutschland für Poschardt Scheiße aussah, weil die SPD Egalität ve…
taz: Herr Butterwegge, Sie wollten am Montag in Frankfurt mit Norbert
Walter-Borjans Ihr neues Buch [1][„Die zerrissene Republik“] vorstellen. Am
Ende mussten sie es aber ohne ihn machen, weil er jetzt SPD-Vorsitzender
wird und keine Zeit mehr hatte. Wie nehmen Sie die Debatte um die neue
SPD-Führung war?
Christoph Butterwegge: Sowohl innerhalb der SPD als auch von den
Mainstream-Medien gibt es massiven Druck auf die neue Spitze – verbunden
mit dem absurden Vorwurf, Linksradikale übernähmen die Partei. Vielleicht
tragen aber gerade die hysterischen Reaktionen auf eine demokratische Wahl
dazu bei, dass in der SPD eine Aufbruchstimmung entsteht, vom „Agenda“-Kurs
abzurücken. Schließlich ist mit Olaf Scholz derjenige Minister gescheitert,
der als letzter Spitzenrepräsentant für diesen Kurs steht.
Mein Kollege Jörg Wimalasena von Zeit-Online hat getwittert: „Mir hat die
Zeitungslektüre der vergangenen Tage noch einmal vor Augen geführt, in
welcher intellektuellen und medialen Atmosphäre die Agenda 2010 gedeihen
konnte.“
Das gesamte Establishment ist durch die Entscheidung der SPD-Mitglieder
merklich aufgeschreckt und verunsichert. Dabei macht eine Schwalbe ja noch
keinen Sommer, auch wenn sie als Pärchen auftritt. Schließlich ist die SPD
keine andere Partei, als sie es vor vier Wochen war, nur weil Norbert
Walter-Borjans und Saskia Esken an der Spitze stehen. Die Befürworter der
Schwarzen Null, der neoliberalen Reformen und des Sozialabbaus werden aber
ungehalten, wenn ihr Kurs in Frage gestellt wird. Als Kritiker bekommt man
sofort den Unmut jener zu spüren, die von der wachsenden Ungleichheit in
Deutschland profitieren.
Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt hat vor wenigen Tagen ein [2][„Lob der
Ungleichheit“] geschrieben. Da kommen Sie auch drin vor …
… auf kuriose Weise.
„In Medien“ – also auch jetzt von uns – „werden Leute als Experten ho…
die schon als Bundespräsidenten-Kandidaten der Linkspartei gescheitert
sind“, schreibt Poschardt und meint damit Sie. 2017 sind Sie gegen
Frank-Walter Steinmeier angetreten.
Es war kein Scheitern, weil ich zu den 94 Stimmen der Linken in der
Bundesversammlung weitere 34 Stimmen auf mich vereint habe. Ich bin in
diese Wahl ja nicht mit dem Ziel gegangen, mehr Stimmen als der gemeinsame
Kandidat von SPD, CDU, CSU, FDP und Grünen zu bekommen, sondern wollte ein
dreistelliges Ergebnis schaffen. Sämtliche Kommentatoren haben mein
Abschneiden als persönlichen Achtungserfolg gewertet. Poschardts gehässiger
Satz zeigt nur, wie verschnupft Konservative und Neoliberale reagieren,
wenn sich jemand um das höchste Staatsamt bewirbt, der einen Finger in die
Wunde der Armut und Ungleichheit legt.
„Eine globale Oberschicht blickte schon damals entsetzt auf die
bundesdeutsche Eleganzarmut, in der die Jacobs-Kaffee-Reklame und die
Drombuschs die Speerspitzen bürgerlicher Arriviertheit repräsentierten“,
schreibt Poschardt über das Nachkriegsdeutschland. Wenn ich das richtig
verstehe, heißt das: Die Reichen hatten Geschmack, durften das aber wegen
des Gleichheitsanspruchs in Deutschland nicht zeigen – und deshalb sah
Deutschland einfach schrecklich aus.
In den fünfziger Jahren hat sich das westdeutsche Bildungs- und
Besitzbürgertum darüber aufgeregt, dass nun auch Proleten im Urlaub nach
Italien oder Spanien fuhren. Beim Konsum gab es scheinbar eine soziale
Nivellierung, was Helmut Schelsky mit seiner einflussreichen Formel der
„nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ zum Ausdruck gebracht hat. Dabei
handelte es sich nur um eine Pseudoegalität. Denn auf Angleichungen in der
Konsumsphäre zu schauen, lenkte davon ab, dass sich bei Familien, denen
große Unternehmen gehörten, ein enormer Reichtum anhäufte. Flick fuhr nicht
nach Rimini, dem Sehnsuchtsort vieler Bundesbürger.
Einen Punkt macht Poschardt, indem er auf den Gini-Koeffizienten bei
Einkommen eingeht, der sich von 2005 an bis heute kaum verändert hat – es
ist nicht alles ungleicher geworden. Hat er da denn nicht recht?
Es ist ein statistischer Taschenspielertrick, auf die Einkommen zu schauen.
Entscheidend für die Reichtumskonzentration ist nämlich das Vermögen. Beim
Einkommen beträgt der Gini-Koeffizient 0,29, beim Vermögen ist er auf 0,79
gestiegen und belegt die größte Reichtumskonzentration in der Euro-Zone.
Man kann von einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur in Deutschland
sprechen. Denn weit sind wir von den Vereinigten Staaten mit 0,82 nicht
mehr entfernt – allen ideologischen Verbrämungen der Bundesrepublik als
„Soziale Marktwirtschaft“ zum Trotz. Bei einem Gini-Koeffizienten von 1,0
würde einem Hyperreichen alles gehören.
Wie passt die deutsche Sonderkonjunktur inmitten der Eurokrise zu Ihrer
These?
Schon zuvor, etwa ab 2005, sank durch das Anziehen der Weltkonjunktur die
hohe Arbeitslosigkeit. Dies bewirkte aber keinen Rückgang der Armut, weil
infolge der „Agenda“-Reformen und der Hartz-Gesetze mehr prekäre
Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Auch die Lohnquote stieg nicht. Laut
DIW-Angaben sanken die Reallöhne von 40 Prozent der Beschäftigten im
Vergleich zu den 90er Jahren sogar. Es gab mehr Armut trotz Arbeit, aber
auch mehr Reichtum, denn niedrige Löhne bedeuten hohe Gewinne.
Die SPD steuert seit 2013 in der GroKo dagegen. Mit dem Mindestlohn, jetzt
mit der Grundrente. Reicht Ihnen das nicht?
Die Große Koalition macht keine Politik gegen Armut und Ungleichheit. Der
deutsche Mindestlohn ist zwar ein Fortschritt, aber immer noch der
niedrigste in ganz Westeuropa. Auch die Grundrente ist kein „riesiger Sieg“
der SPD, wie Olaf Scholz behauptet, sondern nur ein sozialpolitisches
Trostpflaster. 1,5 Millionen alte Menschen sollen mit höchstens 1,5
Milliarden Euro jährlich bessergestellt werden. Das sind durchschnittlich
80 Euro im Monat für jeden Grundrentner – kaum mehr als ein staatliches
Almosen. Die Armutsrisikoschwelle der EU liegt bei 999 Euro für einen
Alleinstehenden. Mit der Grundrente erreicht man im Bundesdurchschnitt
gerade mal 890 Euro. Die Grundrentner sollten einen Lohn für ihre
Lebensleistung erhalten, bleiben aber im Armutsbereich.
Sie übernehmen das SPD-Wording einer „Lebensleistung“, für die die
Grundrente ausgezahlt werden soll. Den Begriff verstehe ich so, dass
diejenigen, die die 35 Jahre Beitragszeit als Voraussetzung für die
Grundrente nicht erfüllen, also viele Hartz IV-Empfänger, keine
Lebensleistung vollbracht haben. Sie sehen in der Grundrente nicht das
Bedürfnis der SPD, erneut zwischen hart arbeitender Bevölkerung und
angeblich faulen Arbeitslosen zu unterscheiden?
Wenn man Menschen nach 35 Jahren Arbeit, Kindererziehung oder Pflege von
Angehörigen besserstellt, weil sie von ihrer Minirente nicht leben können,
wertet man damit niemanden ab. Auch wer die Anspruchsvoraussetzungen für
die Grundrente nicht erfüllt, hat eine Lebensleistung erbracht, die
angemessen honoriert werden muss. In einem reichen Land wie dem unsrigen
müssen alle Menschen in Würde leben können. Deshalb bin ich ja auch für die
Überwindung von Hartz IV und für höhere Regelbedarfe der Grundsicherung.
Zum Schluss noch einmal Poschardt: „Eine freie Gesellschaft produziert
Ungleichheit. Eine erfolgreiche Gesellschaft toleriert soziale Unterschiede
und besteht auf Chancengleichheit, die besonders vielen fleißigen Menschen
den Aufstieg zu Wohlstand und Reichtum ermöglicht.“ Wie sehen Sie das?
Eine kapitalistische Gesellschaft erzeugt Ungleichheit, die – wie ich in
meinem Buch belege – unter dem Einfluss des Neoliberalismus in
unerträglicher Weise gewachsen ist. Es geht auch gar nicht um
Gleichmacherei, sondern um die Verpflichtung des Staates, die Ungleichheit
zu verringern und für einen sozialen Ausgleich zu sorgen.
6 Dec 2019
## LINKS
[1] https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/pro…
[2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus203716604/Soziale-Unterscheide-E…
## AUTOREN
Martin Reeh
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