# taz.de -- Debatte: Drehbuch für den Sozialabbau | |
> Vor 25 Jahren wurde das Lambsdorff-Papier publik. Es markiert eine Wende: | |
> Der Neoliberalismus errang die öffentliche Meinungsführerschaft in der | |
> Bundesrepublik. | |
Die neoliberale Wende in Deutschland begann vor 25 Jahren mit dem | |
"Lambsdorff-Papier", das als Drehbuch zum Sozialabbau gedacht war. Nicht | |
nur die Kohl-Regierung folgte dieser Rezeptur, und die rot-grüne Agenda | |
2010 übertraf die Lambsdorff-Vorschläge sogar noch. | |
Am 9. September 1982 legte Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff | |
unter dem programmatischen Titel "Konzept für eine Politik zur Überwindung | |
der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" sein | |
Memorandum vor. SPD und FDP konnten sich damals nicht einigen, wie ihre | |
Regierung auf die wachsende Zahl der Arbeitslosen reagieren sollte. Da die | |
Liberalen weitreichende Kürzungen beim Sozialstaat verlangten und sich die | |
SPD mit diesen Plänen schwertat, suchte Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher | |
nach einer Möglichkeit, Helmut Schmidt zu stürzen und möglichst ohne | |
Neuwahlen einen Regierungswechsel herbeizuführen. | |
In der mehrwöchigen Regierungskrise spielte das Lambsdorff-Papier die | |
Schlüsselrolle. Schmidt bezeichnete es im Bundestag als "Dokument der | |
Trennung", das der FDP als Wegweiser zu anderen Mehrheiten diene: "Sie will | |
in der Tat eine Wende, und zwar eine Abwendung vom demokratischen | |
Sozialstaat im Sinne des Artikel 20 unseres Grundgesetzes und eine | |
Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft." Schmidt wurde drei Wochen später | |
durch ein "konstruktives Misstrauensvotum" abgewählt und Helmut Kohl wurde | |
zum Bundeskanzler einer CDU/CSU-FDP-Koalition. | |
Lambsdorffs Denkschrift war mehr als eine koalitionspolitische | |
Scheidungsurkunde, denn damit errang der Neoliberalismus die öffentliche | |
Meinungsführerschaft in der Bundesrepublik. Was den Marktradikalen bereits | |
in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald | |
Reagan gelungen war, schafften sie nach dem Regierungswechsel von Schmidt | |
zu Kohl nun auch hierzulande: Der Interventionsstaat wurde einer | |
Fundamentalkritik unterzogen und unter dem Beifall der Massenmedien eine | |
rigorose "Reform"-Politik eingeleitet, die rückwärtsgewandt und "modern" | |
zugleich ausfiel. | |
Zu den erklärten Zielen des Memorandums gehörten eine spürbare Erhöhung der | |
Kapitalerträge und eine "relative Verbilligung des Faktors Arbeit". Dort | |
wurde auch das neoliberale Dogma formuliert, wonach man die | |
Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber - in heutiger Diktion: die | |
"gesetzlichen Lohnnebenkosten" - verringern muss, um der | |
Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden. Erfolgversprechend sei nur eine | |
Politik, hieß es weiter, die der Wirtschaft durch Schaffung "möglichst | |
günstiger" Investititionsbedingungen wieder den "Glauben an die eigene | |
Zukunft" gebe. | |
Während den Unternehmen eine "Verbesserung der Ertragsperspektiven" und "in | |
besonderen Fällen auch gezielte Hilfen" versprochen wurden, ließ das | |
Lambsdorff-Papier keinen Zweifel daran, dass sich die ArbeitnehmerInnen und | |
Bedürftigen künftig selbst helfen statt noch auf den Sozialstaat hoffen | |
sollten. Man wollte einerseits die öffentlichen Ausgaben "von konsumtiver | |
zu investiver Verwendung" umstrukturieren und andererseits die sozialen | |
Sicherungssysteme "an die veränderten Wachstumsmöglichkeiten" anpassen | |
sowie "der Eigeninitiative und der Selbstvorsorge wieder größeren Raum" | |
geben. | |
Abschließend stellte das Lambsdorff-Papier fest, im wirtschaftlichen und | |
sozialen Bereich könne es gar keine wichtigere Aufgabe als die Bekämpfung | |
der Arbeitslosigkeit durch Wachstumsförderung geben: "Wer eine solche | |
Politik als 'soziale Demontage' oder gar als 'unsozial' diffamiert, | |
verkennt, daß sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des | |
wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient." Dieses | |
Argumentionsmuster haben Gerhard Schröder und Helmut Kohl immer wieder gern | |
benutzt: Der Wohlfahrtsstaat sei nur zu retten, indem er zunächst | |
zusammengestrichen wird. Als könnte das Soziale in seiner Substanz erhalten | |
werden, indem die Regierungspolitik es abwertet und Stück für Stück | |
zurückdrängt! | |
Das Lambsdorff-Papier listete detailliert fast alle "sozialen | |
Grausamkeiten" auf, welche die Kohl-Regierungen und ihre Nachfolger | |
verwirklichten: So war davon die Rede, dass die Bezugsdauer des | |
Arbeitslosengeldes auf 12 Monate zu begrenzen sei. Die stärkere | |
Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen findet sich ebenfalls bereits im | |
Memorandum des FDP-Politikers. Auch ein "demografischer Faktor" sollte | |
eingeführt werden, um die Rentenhöhe zu beschränken ("Berücksichtigung des | |
steigenden Rentneranteils in der Rentenformel"). Selbst die Anhebung des | |
gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre wurde schon im | |
Lambsdorff-Papier als die "einzige Möglichkeit" bezeichnet, wie einer | |
"weiter steigenden Belastung durch Steigerung der Lebenserwartung zu | |
begegnen" sei. | |
Erst das rot-grüne Gesetzespaket namens "Hartz IV" ging über den damals | |
provokant wirkenden Forderungskatalog des FDP-Wirtschaftsministers hinaus: | |
Lambsdorff dachte noch nicht daran, die Arbeitslosenhilfe gänzlich | |
abzuschaffen und durch ein auf Sozialhilfeniveau abgesenktes | |
Arbeitslosengeld II zu ersetzen. Aber auch hier wies der neoliberale | |
"Marktgraf" bereits den Weg: Lambsdorff forderte eine Verschärfung der | |
Zumutbarkeitsregeln für Erwerbslose. Zudem wollte er prüfen lassen, ob die | |
Arbeitslosenhilfe nicht von den Sozialämtern verwaltet werden könne. | |
Ein Mitverfasser des Lambsdorff-Papiers war Hans Tietmeyer, damals noch | |
Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium. Später machte er Karriere | |
als Bundesbankpräsident und leitete schließlich das Kuratorium der | |
"Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Diese Lobby-Einrichtung wurde | |
von den Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie mit 100 Millionen Euro | |
(über zehn Jahre gestreckt) finanziert und fungierte als ideologischer | |
Wegbereiter der rot-grünen Reformagenda. In einer Stellungnahme mit dem | |
Titel "Dieser Sozialstaat ist unsozial. Nur mehr Freiheit schafft mehr | |
Gerechtigkeit" verkündete Tietmeyer 2001 das neoliberale Credo seiner | |
Tätigkeit: "Es ist nicht sozial, sondern ungerecht, wenn leistungswilligen | |
Sozialhilfeempfängern durch starre Regeln die Chance genommen wird, auf | |
eigenen Beinen zu stehen. Es ist ebenso unsozial, die Menschen durch | |
Dauersubventionen abhängig zu machen, statt ihre Eigeninitiative und | |
Eigenvorsorge zu stärken. Es gefährdet schließlich den Wohlstand und die | |
soziale Sicherheit aller, wenn der Standort Deutschland wegen mangelnder | |
Flexibilität seine Wettbewerbsfähigkeit verliert." | |
In den Sozialerhebungen ist das Ergebnis dieser Politik abzulesen: Die | |
Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Einerseits leben | |
fast 2 Millionen Kinder in Hartz-IV-Familien von 208 Euro pro Monat, | |
andererseits beträgt das Privatvermögen der Aldi-Eigentümer Karl und Theo | |
Albrecht 37,5 Milliarden Euro. Für die Wähler-Klientel der FDP hat sich das | |
Lambsdorff-Papier offenbar rentiert. | |
6 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Christoph Butterwegge | |
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