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# taz.de -- Das Warten auf den Coronatest: Sehr löchriges Wir-Gefühl
> Warten auf den Coronatest: Den Tod zu ignorieren, kostet Mühe. Aber man
> kann sich ja noch über Lebende ärgern: Friedrich Merz oder Olaf Scholz
> etwa.
Bild: Ein positiver Coronatest in einem Berliner Testzentrum
Nur ein Infekt, es ist sicher nur so [1][ein Infekt]. Es ist schon nichts.
Oder? Seitdem sich Anfang der Woche erst Kopfschmerzen ankündigten, dann
Halskratzen und verstopfte Nase folgten, ahne ich, wie sich hypochondrisch
veranlagte Menschen fühlen müssen. Eigentlich bin ich eher robust
eingestellt, was meine eigene Gesundheit angeht – komm ich halbwegs aus dem
Bett, kann ich auch arbeiten –, doch nachdem einem dieser Tage ständig die
Seuche vor Augen steht, Atemnot, überfüllte Intensivstationen, schleicht
sich dann doch irgendwann die Frage in den Kopf, ob es nicht auch SYMPTOME
sein könnten.
Covid-Symptome. Schon das Wort löst bei vielen Schnappatmung aus, weswegen
ich noch nicht mal einkaufen gehen mag mit meiner drei Etagen tieferen
Erkältungsstimme. Also das Warten auf den [2][Test], der mir am Montag
Gewissheit geben soll, dass es einfach nur ein Infekt… Sie merken schon,
ich bemühe mich äußerlich um Fassung. Innerlich fühle ich mich fast wie
früher beim Warten auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests. Ist das nur
ein Schatten – oder breitet sich da vielleicht tatsächlich ein zweiter
Strich…? Das Gefühl dürften so ziemlich alle Leserinnen kennen, die selbst
einmal auf so ein blödes Kontrollfeld gestarrt haben – oder einer die Hand
gehalten haben, die abwechselnd den quälend langsamen Uhrzeiger und die
sich ausbreitende Flüssigkeit fixiert und sich dabei die Nägel abgekaut
hat.
Der Unterschied zwischen damals und heute besteht allerdings darin, dass
ich mich heute weigere, die „Und was wäre, wenn…?“-Frage auch nur
anzudenken. Es wird derzeit viel darüber gesprochen, wie schlecht unsere
Gesellschaft mit dem Tod zurechtkomme, wie unsichtbar das Sterben der
vielen auf den Intensivstationen, in den Altenheimen oder zu Hause
vonstattengehe, ohne dass man groß davon rede. Was das Sterben angeht, da
bin ich auch ganz fürs Verdrängen. Die letzten Minuten der Frau S. auf der
Intensivstation, ganzseitige Reportage. „Das Sterben meiner Mutter“als Doku
im Fernsehen. Bitte nicht. Es fehlt mir ja nicht an Empathie, ich kann es
nur schlicht nicht ertragen, das Sterben. [3][Der Tod] bleibt deshalb aus
meinem Blickfeld, soweit das geht (813 Tote von Donnerstag auf Freitag?
Schnell wegklicken), und in meine Timeline kommen nur Lebende.
Die allerdings können einen auch fertigmachen. [4][Friedrich Merz] zum
Beispiel, der am Montag erst den „in die Sozialsysteme eingewanderten“
Asylsuchenden die Schuld an wachsender Armut in Deutschland gab und dann
davon faselte, dass nicht etwa die krasse Ungleichverteilung von Vermögen
und Chancen im Lande schuld an der wachsenden Armutsquote sei, sondern die
Niedrigzinspolitik der EZB, die es anständigen SparerInnen verwehre, von
ihrem Geld zu profitieren.
Merz mag ein neoliberaler Grasdackel sein, aber er ist auch brillant. Armut
und Ungerechtigkeit sind Tatsachen in Deutschland. Diese anzusprechen, die
damit verbundenen negativen Gefühle zu adressieren – und dabei gleich zwei
mögliche Sündenböcke („die Ausländer“ und „Europa“) mitzuliefern, d…
erfolgreiche Gefühlsmobilisierung. Der Mann hat, leider, das Zeug zum
CDU-Vorsitzenden. Und bei dieser Aussicht schaudert es mich.
Denn so, wie dieses Jahr das Jahr des Füllhorns in Form von nie dagewesenen
staatlichen Milliardenhilfen für viele war, wird nächstes Jahr, wenn
irgendwann das Aufräumen nach der Pandemie beginnt, das Jahr der
Verteilungskämpfe anbrechen. Es werden sich dann wieder viele fragen, warum
die Umfragewerte in dieser Situation sich nicht bei der Partei bezahlt
machen, die doch nach eigenem Bekunden für die arbeitende Bevölkerung, für
die Gering- und Gerade-noch-normal-Verdiener einsteht, nämlich der SPD. Na,
vielleicht weil das große Wir der Sozialdemokratie, das Vizekanzler Olaf
Scholz vergangene Woche beim „Debattencamp“ der SPD ausbuchstabiert hat,
ein ganz schön löchriges Wir ist.
Der Müllwerker und die Verkäuferin, der Filialist in der Fußgängerzone und
das Gastronomenehepaar, auch das Stadttheater oder die fest angestellte
Konzertgeigerin, sie können sich freuen über Geld vom Staat. Aber die
vielen [5][Soloselbstständigen], die einst von der Schröder-Regierung als
flexible „Ich-AGs“ auf den Arbeitsmarkt gepusht wurden, die gehen zum
allergrößten Teil leer aus bei den November- und Dezemberhilfen. Niedrige
Fixkosten, wechselnde Auftraggeber, keine Gewerkschaft im Rücken? Tja, Pech
gehabt. „Indirekt betroffen“, heißt das dann. Nicht anspruchsberechtigt.
Die Kaltschnäuzigkeit, mit der die SPD Millionen von Menschen zeigt, dass
diese nicht in ihr organisiertes, fest angestelltes Wir passen, sät Frust.
Noch mehr Frust sät, dass diese üble Gerechtigkeitslücke der Coronahilfen
auch in vielen Medien ignoriert wird. Geerntet werden diese Gefühle
nächstes Jahr von denen, die sie geschickt zu kanalisieren wissen. Und das
ist ganz sicher nicht die SPD.
20 Dec 2020
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## AUTOREN
Nina Apin
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