# taz.de -- Exklusive Kurzgeschichte zum Fest: Und Mila tanzt | |
> Auch in Zukunft wird es Weihnachten mit den Großeltern geben. Doch es | |
> könnte das letzte Mal sein. Eine schaurige Weihnachtsgeschichte. | |
Bild: Pflegeroboter Pepper im Jahr 2019. Möchte er tanzen? | |
Am Morgen des 23. Dezember sieht Mila über die gelb gepflasterten Weiten | |
vor [1][den Toren Brandenburgs]. Sie hält Ausschau nach der Oma. Von Norden | |
her soll sie kommen, so hat die Mutter es gestern wieder gesagt, aus | |
Perleberg oder Neuruppin. | |
Dort hatte sie Süßigkeiten in Stiefeln versteckt, zum Nikolausfest, und | |
dann musste sie sich erholen, natürlich, in ihrem Alter ging das gar nicht | |
anders. Nun aber sei die Oma auf dem Weg, zu ihrer Stadt: [2][extra zu | |
Weihnachten], was für eine Ehre, das erste Mal seit zwanzig Jahren. Die | |
Mutter hat geklungen, als gäbe es nichts Schöneres. | |
Sie ist damit nicht alleine. Auch die anderen in der Stadt reden so. Alle. | |
Nur Mila nicht. Sie ist sieben, ihr ist egal, was vor zwanzig Jahren war. | |
Ihr geht es um morgen. Seit sie das erste Mal vom Kommen der Oma gehört | |
hat, vor genau zwei Wochen, fühlt sie ein hartes Pochen in sich, als liefe | |
Strom in starken Stößen durch sie hindurch. Das erste Pulsen kommt immer | |
tief aus ihrem Inneren, aus ihrer Mitte, es ist sanft, zärtlich fast. | |
Dann breitet es sich wellenförmig in ihr aus, über Brustkorb, Arme, | |
Oberschenkel, bis es eine Millisekunde später schmerzhaft in die Spitzen | |
von Zehen und Fingern fährt. Und dann wieder von vorn. Mila ist wütend. Das | |
sollte vollkommen unmöglich sein, so ist sie eigentlich nicht gemacht, das | |
hat die Mutter gesagt, nachdem Mila sie angeschrien hat, aber Mila ist seit | |
zwei Wochen wütend, das steht fest. Wenn die Oma nicht wäre, würde Mila | |
[3][dieses Weihnachten tanzen]. | |
## Schlechte Reime | |
Sie hat alles gelernt. Die Schritte. Die Sprünge. Die Pirouetten mit dem | |
Band. Sogar die ganze langweilige Geschichte des Tanzes. Hunderte der alten | |
Filme hat sie sich angesehen, über die Altenheime des 21. Jahrhunderts, in | |
denen die Pfleger:innen ihren Schützlingen während der Krankheit das | |
Masketragen und das Abstandhalten beibrachten. Bei denen, die sich kaum | |
noch etwas merken konnten und die wöchentlich, täglich alles wieder | |
vergaßen, funktionierte das Einprägen viel besser mit immer wiederkehrenden | |
Bewegungen und mit einem Lied. | |
Ein öder Text mit schlechten Reimen, erdacht von | |
Beschäftigungstherapeut:innen, aber leicht zu merken: „Nur ein Meter reicht | |
uns nicht aus, komm, wir machen anderthalbe draus. So weit kann das Virus | |
nicht fliegen, und am Ende werden wir siegen.“ Brüchige Stimmen und | |
kräftige, manche trafen die Töne, die meisten nicht, die endlosen | |
Schleifen, Mila hat sie sich alle angehört. | |
Es weht kein Wind heute am Vorabend der Weihnacht. Schnee fällt in dichten | |
Flocken. Sie setzen sich in Milas Haare, auf ihre bloßen Arme, ihre flachen | |
schwarzen Schuhe. Auf ihrem weißen Kittel verschwinden sie, werden | |
aufgesogen von der Farbe und dem Stoff. Mila kann von hier oben weit | |
gucken, sie ist extra hierher gegangen, zur höchsten Stelle der | |
Sicherheitsmauer, über dem einzigen Zugang zur Stadt. Noch immer ist | |
niemand zu sehen. | |
Wie Puderzucker auf einen frischen Eierkuchen legt sich der Schnee über das | |
Gelb der gepflasterten Felder. Die Farbe ihrer Steine symbolisiert das | |
reife Getreide, das hier früher wuchs, sie hat all die Namen gelernt: | |
Weizen, Roggen, Gerste, Hafer. Alte Menschen lieben es, über die Tiere und | |
Pflanzen ihrer Kindheit zu reden, das hatten ihnen die Mütter früh | |
beigebracht. | |
Mila hebt das rechte Bein, bis das Knie auf der Höhe ihrer Hüfte ist, dann | |
drückt sie Ferse und Fußballen des linken Fußes nach oben, bis sie nur noch | |
auf fünf Zehen steht. Sie senkt den Fuß wieder. Dann drückt sie ihn wieder | |
nach oben, mit aller Kraft, sie schnellt in die Luft, einen Meter über den | |
Zinnen der Mauer dreht sie sich einmal ganz um sich selbst und landet auf | |
ihren Zehenspitzen. Kein Wackeln, kein Zittern. Welcher Mensch könnte es | |
ihr gleichtun? | |
## Einmal vor, einmal zurück | |
Sie spürt das Pulsen ihrer Wut. Es wird nicht schwächer, aber auch nicht | |
stärker. Mila hat einen Plan. | |
Am Anfang hatte es in den Heimen zum Abstandslied nur eine einfache | |
Schrittfolge gegeben, einmal vor, einmal zurück, eine langsame Drehung, | |
viel mehr war von den greisen Tänzer:innen nicht zu erwarten gewesen, | |
jedenfalls nicht die akrobatischen Vorführungen von heute. | |
In manchen Heimen hatten die Betreuer:innen den Alten Maßbänder für den | |
Tanz gegeben, damit sie die anderthalb Meter sowohl in den Händen als auch | |
vor Augen hatten, sicher ist schließlich sicher. Mila hat sich für ihren | |
ersten Tanz in einer der automatischen Werkstätten sogar ein Maßband für | |
Schneider:innen aus der Ursprungszeit nachmachen lassen, beschichtetes | |
Leinen, die eine Seite rot gefärbt, die andere gelb. Manche der Mütter | |
standen auf dieses alte Zeug, sie konnten wahrscheinlich nichts dafür, so | |
waren sie eben gemacht. | |
Jetzt kommt jemand, weit hinten am Horizont. Zwei Wagen in Rot und Weiß. | |
Ohne Blaulicht, sie fahren also langsam. Sie würden trotzdem bald hier | |
sein. Die Oma würde bald hier sein. Mila ist bereit. | |
In den Datenbanken hatte sie unterschiedliche Angaben darüber gefunden, | |
wann und wie der Tanz zum ersten Mal zu Weihnachten aufgeführt worden war. | |
Aus Tagen nach dem ersten Sieg über die Krankheit gab es Filmaufnahmen, in | |
denen Politiker:innen in die Hände klatschten, während alte Menschen | |
den Abstandstanz neben geschmückten Weihnachtsbäumen aufführten. | |
Die Pfleger:innen, damals alles noch Menschen, klatschten ebenso, manche | |
weinten, ihre Tränen glitzerten im Licht wie die bunten Kugeln an den | |
Nadelzweigen. Vom zweiten Sieg gab es solche Videos wieder und dann vom | |
dritten und von allen folgenden Siegen auch, es wurden jedes Mal mehr. So | |
entstehen Traditionen. | |
## Der Mensch im Mittelpunkt | |
Noch einen Kilometer, vielleicht zwei. Die Wagen fahren versetzt. Im | |
vorderen liegt die Oma, begleitet von sechs Pfleger:innen. Im hinteren | |
sitzen weitere acht. Nur für den Fall, dass etwas passiert. | |
Mila hat mit der Mutter gestritten. Drei Mal. Du hast mir versprochen, dass | |
ich tanzen darf! Sie hat es gesagt, sie hat es geschrien. Ihr alle habt es | |
versprochen! Sie war auserkoren worden, weil sie die Jüngste ist. Die | |
Einzige der neuen Generation hier in der Stadt. Es werden kaum noch neue | |
Pfleger:innen gemacht. Für wen auch. | |
Die Mutter hat sie mit großen Augen angesehen. Sie versteht Mila nicht, das | |
hat sie noch nie. Erst der Mensch, dann die Maschine, so klar ist die | |
Regel, so einfach zu lernen, so leicht zu befolgen. | |
Beim vierten Gespräch hat Mila die Gehorsame gespielt. Warum kann die Oma | |
nicht zuerst tanzen und dann ich, hat sie gefragt, ganz ruhig, ganz brav. | |
Sie hat sich nach hinten gesetzt, wie es sich gehört, an die zweite Stelle. | |
Aber die Mutter hat das alte Leitbild zitiert: „Bei uns steht der Mensch | |
immer im Mittelpunkt.“ Immer. Die Mutter hat gesagt: Wenn die Oma kommt, | |
kümmern wir uns um sie. Dafür sind wir gemacht. | |
Danach war das Pochen in Mila so stark, dass sie dachte, sie würde | |
zerspringen. Sie ist davongerannt, zu den jüngeren Müttern. Die verstehen | |
sie wenigstens ein bisschen, eine hat sogar mal einen Witz über das | |
Leitbild gemacht. Aber dieses Mal haben sie nur vertröstet: Warte aufs | |
nächste Jahr. So schnell sehen wir keine Oma mehr. | |
Aber Mila will nicht warten. Sie springt höher und dreht sich schneller als | |
selbst die Beste der Mütter. Sie wird nicht dastehen und verzückt den Mund | |
aufreißen, weil ein Mensch durch den Festsaal wackelt wie eine kaputte | |
Puppe. | |
Die Wagen halten an, dreißig Meter vor der Mauer. Die Hintertüren des | |
ersten werden geöffnet, zwei Pfleger:innen in weißen Kitteln springen | |
heraus, Mila sieht sie an etwas ziehen, sie hört ein metallisches Ratschen, | |
Stimmen, Gelächter. Aus dem zweiten Auto steigt noch niemand. | |
Unter Mila, am Tor, versammeln sie sich jetzt, um die Oma zu begrüßen. | |
Einige singen: „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn’ ich dir? Oh | |
aller Welt Verlangen, oh meiner Seele Zier.“ | |
## Sollte sie nicht etwas fühlen? | |
Mila guckt weiter nur zu den beiden Wagen. | |
In der Stadt hätte sie nichts tun können. Die Oma wäre niemals allein, das | |
hört sie seit zwei Wochen in jedem Gespräch. Alles ist auf Sicherheit | |
gebaut, rutschfeste Rampen, trittfester Stein, jede Ecke abgerundet, jeder | |
Meter geprüft. Nur draußen ist es anders. Das ist Milas Chance. | |
Sie sieht die Oma jetzt. Die alte Frau geht gar nicht so langsam, wie Mila | |
sich das vorgestellt hat. Kleine, aber feste Schritte zwischen den | |
Pfleger:innen. Mila dachte, sie würde gebeugt laufen, gekrümmt wie die | |
Bäume im Stadtgarten, aber sie hält sich aufrecht in ihrem roten Mantel. | |
Zehn Meter vor der Mauer bleibt die Gruppe stehen. Die Oma hebt den Kopf. | |
Mila sieht das Gesicht unter der Kapuze, ein breites Gesicht, ein kantiges | |
Kinn, eine fleischige Nase und braune Augen. Der Blick trifft den von Mila | |
und verharrt. Mila starrt zurück. Sollte sie nicht etwas fühlen? Ist sie | |
nicht dafür gemacht? | |
Die Oma senkt den Kopf und läuft los. Die letzten Meter geht sie allein, | |
auch das ist eine Tradition, Mila hat nicht nachgesehen, wer die erfunden | |
hat. Ihre Augen folgen Omas Schritten. | |
Dafür dass in der Stadt auf so vieles geachtet wird, interessiert sich kaum | |
jemand für das, was vor der Mauer passiert. Mila konnte hier ein bisschen | |
polieren und da etwas schleifen, einen Stein locker machen oder auch zwei, | |
niemandem stieß das auf. Sie war allerdings auch nie zu lange draußen, | |
immer nur ein paar Minuten am Stück, eine Viertelstunde maximal, sie | |
verhielt sich klug. | |
Als die Oma wegrutscht, schließt sie zu ihrer eigenen Überraschung die | |
Augen. Den Schrei hört sie natürlich trotzdem. Mila wird tanzen. | |
24 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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