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# taz.de -- Die taz2-Weihnachtsgeschichte: Nittel Nacht
> Yossel und Benny wollen an diesem Abend einfach Schach spielen, Whisky
> trinken und Kuchen essen. Dann aber klopfts – und bald riecht alles nach
> Gouda.
Bild: „Inmitten des Wohnzimmers stand ein Schachbrett und eine Kanne Tee. Neb…
Der backsteinige Schornstein hustete Rauch aus, als Yossel die Holzstücke
ins Feuer warf. Das Klopfen an seiner Tür hatte er schon gehört, aber er
ließ sich Zeit, während Benjamin, oder Benny, draußen im Schnee stand und
fror, sich vereiste. Als Benny schon „Schmock“ in die Luft sprach und dabei
war, sich umzudrehen und wegzugehen, öffnete die alte Tür sich quietschend,
als hätte sie gejammert, und da stand sein Freund Yossel, jammernd, als
hätte etwas gequietscht. Benny schoss ein weiteres Wörtchen in die Luft und
trat ein.
Inmitten des Wohnzimmers stand ein Schachbrett und eine Kanne Tee. Neben
der Kanne wartete eine Flasche Whisky, die Benny hochhob und feststellte,
dass davon offensichtlich schon recht viel getrunken worden war. „Du
konntest einfach nicht warten, oder?“, sagte er. Yossel lächelte und
antwortete: „Du bist spät dran, Benny, du solltest mir dafür danken, dass
ich den ersten Zug nicht schon gemacht habe!“ „Ach“, erwiderte Benny,
setzte seinen Kapelush, den schwarzen Hut, ab und legte ihn auf einem Tisch
neben die Tür. „Und was war das, mich draußen erfrieren zu lassen? War das
nicht dein erster Zug?“
„Kuchen?“
„Ja, gerne.“
Sie saßen auf zwei grünen Sesseln voreinander. Einer spielte Weiß, der
andere spielte Schwarz. Es war Nittel Nacht.
Nicht mal fünf Züge waren gespielt, als die jammernde Tür wieder mit
Klopfen belastet wurde. Nun stand da eine Frau. Sie trug eine blaue
Kopfbedeckung und ihre weiten Klamotten versteckten ihre Figur. Ihre Haare
waren schwarz und ihre Brille war krumm. Ihre Augen waren
zusammengekniffen, als wäre es an der Zeit, einen neuen Sehtest zu machen.
Yossel stand vor ihr. „Ja?“, fragte er orthodox-jüdisch, weil er in dieser
Gegend Europas zu Recht etwas vorsichtig war, was fremde Menschen anging.
„Es tut mir leid, ich habe Hunger und da es Weihn…“ – er warf die Tür …
„Sag mal“, rief Benny hinter ihm, „sie hat doch gesagt, sie sei hungrig!�…
„Sag du mal: Ist das nicht zu märchenhaft? Zu… so.. Gott prüft uns, oder
so? Man denkt, weil wir solche Geschichten in unserer Tradition haben,
werden wir jetzt jeden Besuch eines hungrigen Fremden als eine Prüfung
Gottes sehen und sofort alle einlassen.“
„Aber ist das nicht genau das, was wir tun sollten?“, fragte Benny.
„Nicht heute. Ist doch Nittel. Heute kann sie bei den Christen nachfragen“,
sagte Yossel. Benny stand auf und ging zur Tür, Schmock.
Der Hausherr quietschte noch, es sei zu kitschig, zu Coen Brothers, komm
Benny mach das nicht, sie ist offensichtlich … „Hallo! Herzlich willkommen,
Entschuldige, das war gerade ein Missverständnis. Komm rein, magst du Tee?
Kuchen? Whisky?“
„Danke, das wäre sehr lieb“, sagte sie. Sie zog ihre Schuhe aus und der
Geruch eines sehr alten Goudas verbreitete sich im Raum. Yossels Augen
fingen Bennys Blick ab, um sich bei ihm wortlos zu beschweren.
Sie lief im Zimmer auf und ab und schaute sich interessiert alle Bücher an.
„Was sind das für Bücher? Was ist das für eine Sprache?“ „Hebräisch, …
ist der Talmud“, erklärte Benny geduldig. „Tal… was?“, fragte die Frau.
„Der Talmud. Er enthält Diskussionen zwischen Rabbinern und Dialogen
zwischen Figuren, manche von ihnen sind bekannter als andere, manche findet
man nur im Talmud.“ „Und was diskutieren sie?“ „Regeln und Gesetze. Aber
die Debatte entwickelt sich immer in eine eher philosophische Richtung.“
„Du bist dran“, schnitt nun Yossel die geduldigen Antworten seines Freundes
ab.
„Und was ist das?“, fragte die merkwürdige Frau mit den stinkenden Füßen
und strich über den Kapelush neben der Eingangstür.
„Nicht anfassen!“, schrie Yossel und verdrehte die Augen. „Benny, spielst
du noch?“
Benny spielte. Er lief mit seinem Springer genau in die ihm von der weißen
Dame gestellte Falle und das unglückliche Pferdchen wurde von der hungrigen
Königin ohne Umstände verzehrt. „Ach, ich habe nicht aufgepasst!“, sagte
er, was die Aufmerksamkeit der Dame mit der blauen Kopfbedeckung auf ihr
Spiel lenkte.
„Das macht ihr an Weihnachten?“, fragte sie.
„Wir feiern kein Weihnachten. Wir feiern Nittel Nacht. Und in dieser Nacht
spielt man Schach, ja.“
„Darf ich fragen, wer du eigentlich bist?“, spuckte der misstrauische
Yossel die Worte auf das Spielbrett. „Du hast doch gesagt, du hast Hunger,
oder? Hier ist ein Kuchen, du hast ihn nicht einmal angefasst.“
Sie setzte sich auf das Sofa und starrte in das Feuer. Die zwei alten Juden
schauten einander, dann sie und dann wieder einander an. „Wie ist dein
Name?“, fragte Benny.
„Jessi.“
„Jessi ist kein deutscher Name, oder?“, bohrte Yossel.
„Doch, es gibt auch Jessicas hier in Deutschland. Aber ich bin
Australierin. Weihnachten nach Australien zu fahren, ist nur sehr teuer und
deshalb bleibe ich hier“, sagte Jessi.
„Und was suchst du denn so weit weg von deiner Heimat?“, fragte Benny und
reichte ihr noch einmal den Teller mit dem Kuchen, den sie erneut ablehnte.
„Ich bin eine digital nomad“, sagte sie.
„Oy a broch“, flüsterte Yossel, „sie wird nie weggehen.“
Jessi erzählte weiter, mit was sie sich so beschäftigte und dass sie gerade
kaum Geld brauchte und wie es kam, dass sie hier an Weihnachten („Nittel“,
korrigierte einer von ihnen) an ihre Tür geklopft hatte. Die beiden sanken
in Verzweiflung. Sie erzählte von ihren drei Blogs und ihrem
Ethereum-Handel und Yossel fühlte, wie der Raum für die beiden bärtigen
Gelegenheitsschachspieler immer kleiner wurde, je mehr Raum sich der Gast
nahm. Selbst die Talmud-Bücher schienen ihn vorwurfsvoll fragend aus ihrem
Regal anzugucken.
„Ich habe einen YouTube Kanal, und dort kann ich besser erklären, was ich
mache. Darf ich euch ein Video zeigen? Ich brauche nur das WLAN-Passwort.“
„Das ist echt nicht nötig“, sagte einer der beiden. An diesem Punkt ist es
egal, welcher.
„Ich glaube, ihr könnt davon schon etwas lernen. Ist das der Router?“, und
schon tippte sie das Kennwort in ihr Handy.
Sie sprachen – nein – sie sprach von Marketing, von ihrer Reise nach
Thailand, von Sam Bankman Fried und noch mal von ihren Blogs. Irgendwann
stand der Hausherr auf und sagte laut, schrie fast, dass es jetzt reiche.
Dass sie sie für etwas ganz anderes gehalten hatten, dass es ihm leid täte,
aber dass sie nun weggehen müsse. Sie ging. Auf dem Weg nach draußen fragte
sie Benny noch, ob der Kapelush vom Flohmarkt war, so cool sei er einfach.
Dann war es wieder ruhig im Raum. Das Quietschen der Tür klang wie ein
Seufzer der Erleichterung und das plötzliche Platzen der Spannung brachte
beide zum Lachen.
„Und du dachtest, Gott hätte uns geprüft“, sagte Yossel.
„Na ja“, antwortete sein Freund, „eine göttliche Prüfung soll zwar nicht
einfach zu bestehen sein, aber das hier …“, und sie lachten. Yossel machte
eine Flasche Wein auf und sie spielten weiter Schach, es war Nittel Nacht.
Draußen war die Stadt still. Benny zündete eine Zigarette an und öffnete
das Fenster. Er saß auf dem Sessel, der noch den Geruch der Nomadin
verströmte, und blickte den Himmel an, wo die Wolken sich öffneten und
einige Sterne enthüllten. Er zog eine Wolke aus seiner Zigarette in seinen
Mund, schluckte sie runter, und sagte: „Denkst du nicht, sie ist …“
„Hör auf. Hör auf, immer nach Bedeutungen zu suchen. Es ist Nittel Nacht.
Zeit zu spielen und Spaß zu haben und nicht Angst vor Prüfungen.“
„Ja, aber … Jessi? Was soll das für ein Name sein? An Weihnachten? Denkst
du nicht …“, er seufzte, „es ist schon ähnlich wie …“ – sein Gegne…
jetzt so wild zu lachen, dass Benny auch lächeln musste.
Nachdem Yossel das Spiel wie immer verloren hatte, aßen sie den Kuchen. Und
dann war es auch schon wieder Mitternacht, und sie durften wieder studieren
oder – wichtiger – schlafen gehen, und so machten sie es auch. Der Kapelush
setzte sich auf Bennys Kopf. Mit der kalten Luft in seinen Lungen münzte
der Alte seinen Schuhabdruck schrittweise in den Schnee. Er dachte an Jessi
und ihre YouTube Videos: „Five Steps: Wie du dich lieben kannst wie deinen
Nächsten“, oder ihren TED-Talk: „Der Weg, die Wahrheit und das Leben: Wie
ich meine Daddy-Issues überwunden habe“, oder ihren Blogbeitrag: „Immer bei
dir, bis an das Ende der Welt: 10 Methoden, einen Stalker wegzukriegen.“
Die Enkel schliefen schon, als er reinkam. Er hängte seinen Mantel auf und
ging in die Küche. Einen Kräutertee vor dem Schlaf brauchte er, um die
fremden Gedanken durch das heiße Wasser zu verdampfen. Als er letztlich ins
Bett ging, blieb aber immer noch diese eine Frage offen: Warum hatte Jessi
sie besucht? Hunger war es offensichtlich nicht und der Zielgruppe für
ihren Nonsens entsprachen die beiden alten Männer auch nicht. Was also
hatte sie gewollt?
Im Laufe der nächsten Monate hörte es irgendwann auf zu schneien, der
Schnee schmolz, die Erinnerung an Jessi und die Nittel Nacht schmolz mit.
Nur kleine Steine auf dem Bürgersteig erinnerten daran, dass hier vor
Kurzem noch Schnee gelegen hatte. Eines Tages kam Yossel von der Arbeit
nach Hause und fand ein Geschenk in seinem Briefkasten. Er nahm seinen
Brieföffner und öffnete den Umschlag vorsichtig. Auf dem Papier glänzte das
Logo einer Anwaltskanzlei aus München, den Namen kannte er nicht.
Irgendjemand beschuldigte ihn, er habe in der Nittel Nacht, am 24. 12. im
christlichen Kalender, rechtswidrig Gebrauch von einem gewissen Torrent
gemacht, um etwas herunterzuladen. Es handelte sich um den Film „Der
Grinch“.
26 Dec 2023
## AUTOREN
Tomer Dotan-Dreyfus
## TAGS
Weihnachten
Judentum
Influencer
TV-Serien
wochentaz
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Weihnachten
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