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# taz.de -- Forscherin über Kinderarmut: „Sie sind von Armut erschöpft“
> Ein Viertel aller Berliner Kinder gilt als arm. Armutsforscherin Susanne
> Gerull erklärt, warum das so ist.
Bild: Armut sieht man den Kindern nicht an: Sie zeigt sich verschämt und wird …
taz: Frau Gerull, wann gilt ein Kind als arm?
Susanne Gerull: Wenn in der Politik von Kinderarmut die Rede ist, geht es
in der Regel nur um relative Einkommensarmut nach der 60-Prozent-Regel der
EU: Wer weniger als 60 Prozent als der Durchschnitt hat, gilt als
armutsgefährdet. Parallel dazu gibt es die Zahlen, wie viele Kinder in
Familien leben, die Grundsicherung bekommen. Einkommen ist natürlich ein
ganz wichtiges Schlüsselmerkmal von Armut, aber es greift insgesamt zu
kurz.
Was verstehen Sie als Wissenschaftlerin denn unter Kinderarmut?
Die wenigen Forschungsprojekte, die sich genauer damit beschäftigt haben,
gehen zum Beispiel mit dem Lebenslagen-Konzept weit darüber hinaus. Da
werden Lebensbereiche wie Arbeit, Wohnen, Bildung, Ernährung, Gesundheit,
Partizipation angeschaut, in denen ein Mensch oder in diesem Fall ein Kind
unterprivilegiert sein kann.
Hat Armut auch etwas mit Wahrnehmung zu tun?
Definitiv, das schlägt sich auch in Studien nieder: Es gibt Kinder, die
objektiv als arm gelten, denen es aber sehr gut geht und die sich auch
nicht als arm empfinden. Das hängt aber stark von den Ressourcen der Eltern
ab, da sind wir wieder bei Gesundheit, Bildung und so weiter. Und dann gibt
es andere, die in ganz desolaten Kontexten leben und dann noch in der
Schule gehänselt und gemobbt werden und deren Erzieher:innen und
Lehrer:innen auch nicht ausreichend fortgebildet sind, um damit gut
umzugehen.
Im Zuge der Recherche habe ich mit Kindern gesprochen, die nach den
gängigen Kriterien als arm gelten dürften. Sie hatten auch alle eine mehr
oder weniger genaue Vorstellung, was arm ist. Aber die wenigsten haben sich
selbst als arm beschrieben.
Das kann eine Bewältigungsstrategie sein: Ich will nicht als arm gelten,
also bezeichne ich mich auch nicht als arm. Wir kennen das aus dem Bereich
der verdeckten oder versteckten Armut bei Rentner*innen, die zum Beispiel
keine Grundsicherung beantragen, obwohl sie ihnen zustünde – weil sie dann
tatsächlich als arm gelten würden. Sich arm zu fühlen kann als Stigma
empfunden werden.
Hat eine Stadt wie Berlin auch Vorteile für arme Kinder?
Berlin bietet massenhaft Möglichkeiten, Freizeitangebote für sehr wenig
Geld oder mit dem Berlinpass kostenlos zu nutzen. Aber auch da ist die
Frage, ob die Eltern es schaffen, ihren Kindern den Zugang dazu überhaupt
zu ermöglichen. Wir haben hier das Problem der erschöpften Familien – den
Begriff hat der Magdeburger Professor Ronald Lutz geprägt. Diese Familien
haben theoretisch die Zeit, um sie mit ihren Kindern zu verbringen. Aber
sie sind von ihrer Armut so erschöpft, dass sie es nicht auf die Reihe
kriegen.
Was bedeutet das konkret für die Kinder?
Da gehen Kinder dann ungefrühstückt in die Schule und bekommen in
Einrichtungen wie der Arche mittags die erste Mahlzeit, weil die Eltern es
nicht schaffen aufzustehen. Das meine ich ganz ohne Schuldzuweisung,
deshalb finde ich den Begriff „erschöpft“ in diesem Zusammenhang auch so
passend.
Macht Armut schon Kinder krank?
Ganz klares Ja. Schon bei den Einschulungsuntersuchungen werden
Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, motorische Schwierigkeiten
festgestellt, die überproportional in armen Familien auftreten. Auch das
RKI legt regelmäßig Auswertungen zur Kindergesundheit vor – mit
dramatischen Ausschlägen sowohl bei somatischen Erkrankungen als auch bei
physischen Einschränkungen, die die Kinder dann auch ganz schwer wieder
aufholen können.
Die Idee einer sozialen Gesellschaft ist es ja, diese Herkunftsnachteile
von Kindern aufzufangen. Gelingt das in Berlin?
Darüber würde ich sogar noch hinausgehen: Der Staat hat nicht nur die
Verpflichtung, Nachteile auszugleichen, sondern auch präventiv gegen Armut
vorzugehen. Die EU hat Deutschland aber schon vor vielen Jahren ganz
offiziell dafür gerügt, dass die nachgewiesene Sozialvererbung – aus armen
Kindern werden arme Erwachsene und arme Eltern – nicht verhindert wird. Zum
Beispiel durch einen Abbau der sehr selektiven Bildungsprozesse, wo schon
nach der Grundschule ausgesondert wird. In ganz vielen Studien wurde immer
wieder nachgewiesen, dass Kinder mit gleichen Leistungen, die aber von
Armut betroffen sind, eben nicht die gleichen Empfehlungen für
weiterführende Schulen bekommen und dass sie nicht gleich gefördert werden.
Das ist in anderen Staaten anders. Deutschland kommt hier seiner
Verpflichtung der Armutsprävention einfach nicht nach.
Und wie steht Berlin da?
Was wir wissen, ist, dass die relative Einkommensarmut von Familien und der
Bezug von Sozialleistungen sich seit vielen Jahren auf gleichbleibend hohem
Niveau bewegt. Ein Drittel aller Familien in Berlin sind
Bedarfsgemeinschaften in der Grundsicherung. Es gibt keinen Anstieg, aber
wir kriegen es auch einfach nicht weiter runter. Und noch stärker sind
junge Erwachsene von Armut betroffen.
Die dann wieder Eltern werden.
Ganz genau.
Warum macht die Politik nicht mehr dagegen?
Anfang der 2010er Jahre gab es ein Bewusstsein für Kinderarmut und eine
ganze Reihe von politischen Maßnahmen wie steuerliche Vergünstigungen,
Kindergeldzuschlag. Da gab es vor allem bei den Kindern unter 14 einen
tatsächlichen Rückgang, das hat wirklich gefruchtet. Aber seitdem ist das
Thema aus dem Bewusstsein verschwunden und die Zahlen stagnieren.
Sie fordern seit Langem eine integrierte Armutsberichterstattung, in der
auch Lebenslagen jenseits von Einkommen mitberücksichtigt werden …
Damit ließen sich auch regionale Armutslagen viel besser abbilden und
gezieltere Maßnahmen ergreifen. Eigentlich ist die Vorbereitung der
integrierten Armuts- und Sozialberichterstattung im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, es sind Gelder dafür eingeplant. Aber das liegt total auf
Eis, da wird in dieser Regierungszeit nichts mehr kommen.
Ist das ein Vorwurf an die Sozialsenatorin?
Das Thema Armut kann nur ganzheitlich betrachtet werden, es berührt
Soziales, Arbeit, Gesundheit und Wohnen, also fast alle Ressorts. Der
Vorschlag der Landesarmutskonferenz war, dass das Projekt Armuts- und
Sozialberichterstattung direkt bei der Senatskanzlei, unter dem Regierenden
Bürgermeister mit einer Stabstelle angesiedelt wird. Sonst verweisen wieder
immer alle nur auf die Sozialverwaltung.
Müsste in einer rot-rot-grünen Landesregierung die Armutsbekämpfung nicht
ganz obenauf liegen?
Wir besuchen als Landesarmutskonferenz immer zu Beginn einer Regierungszeit
die Fraktionen. Und bis zuletzt haben wir von der SPD gehört, dass Armut
kein Thema ist, mit dem sie nicht so gern an die Öffentlichkeit gehen
wollen, weil sie das Image des armen Berlins nicht weiter befeuern wollen.
Immerhin gibt es seit 2017 eine Landeskommission zur Prävention von Kinder-
und Familienarmut … Darin ist die Landesarmutskonfernz auch vertreten und
dort wird zum Beispiel die Stärkung und der Ausbau bestehender Angebote in
den Bezirken diskutiert. Aber ihre Ergebnisse wird die Kommission
vermutlich auch erst zum Ende der Legislatur, das heißt im Herbst 2021,
vorlegen.
Ein Viertel aller Berliner Kinder gilt als arm, in manchen Bezirken ist es
sogar fast die Hälfte. Haben wir uns an diese irren Zahlen einfach gewöhnt?
Es ist so, dass Politik Druck braucht – aus der Gesellschaft, aus den
Medien. In dem Augenblick, wo das kein großes Thema mehr ist, passiert auch
wenig. Vor 10 Jahren war Kinderarmut das Skandalthema. Jetzt lese ich kaum
noch Berichte dazu in den Medien.
3 Oct 2020
## AUTOREN
Manuela Heim
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