# taz.de -- Neue Coronawelle in Deutschland: Armut macht krank | |
> Die erste Coronawelle ging eher von Party-Deutschen aus. Nun sind | |
> Menschen in prekären Verhältnissen betroffen. | |
Bild: Zweite Welle: Eine Corona-Teststation in Gütersloh | |
Schmutziger Waschbeton mit Graffiti, ein seit Jahren leerstehendes | |
Fleischgeschäft im Erdgeschoss, zum Innenhof Satellitenschüsseln und kleine | |
Balkons, auf denen Teppiche gereinigt werden: Der große Wohnblock nördlich | |
des Berliner Ostbahnhofs ist trotz seiner zentralen Lage keine gute | |
Adresse. Schon im Normalfall leben die Menschen, unter ihnen viele mit | |
Migrationshintergrund, hier dicht gedrängt, große Familien in kleinen | |
Wohnungen. In dieser Woche wurde es noch enger: Nachdem 44 BewohnerInnen | |
positiv auf Corona getestet wurden, wurden in dem Haus etwa 200 Menschen | |
unter Quarantäne gestellt. Von den vielen Kindern, die sonst vor dem | |
Gebäude spielen, ist seit Tagen nichts zu sehen. | |
Jetzt gibt es also wieder Massenausbrüche von Coronainfektionen und | |
Ausgangsbeschränkungen in Deutschland. Interessant dabei: Die | |
Lebensumstände der Menschen, die vor allem betroffen sind, sind anders als | |
bei den Erkrankungen von vor drei Monaten. | |
Die erste Coronawelle ging eher von finanziell besser gestellten Menschen | |
aus. Skitouristen brachten das neue Virus aus Ischgl in Tirol mit, | |
Geschäftsreisende aus Asien. Verbreitet wurde es dann oft bei zutiefst | |
bürgerlichen Festen, etwa dem Karneval im nordrhein-westfälsichen Heinsberg | |
oder dem Starkbierfest im beschaulichen oberpfälzischen Kreis | |
Tirschenreuth, wo am 18. März die bundesweit erste Ausgangssperre verhängt | |
wurde. | |
Dass die Infektionszahlen in Deutschland wieder steigen, ist eindeutig: | |
Zuvor waren die täglich gemeldeten neuen Coronainfektionen elf Wochen lang | |
kontinuierlich gesunken. Jetzt liegen sie mit etwa 600 am Tag immer noch | |
weit unter den 5.500, die zum Höhepunkt im April gemeldet wurden, es sind | |
aber fast doppelt so viele wie noch eine Woche zuvor. | |
Der Ausbruch unweit des Berliner Ostbahnhofs ist nach Ansicht des Robert | |
Koch-Instituts (RKI), an das alle deutschen Coronainfektionen gemeldet | |
werden müssen, ein typischer Fall. Bei den Ausbruchsgeschehen der jüngsten | |
Zeit sei klar zu sehen, „dass es Armut ist, dass es sozial prekäre | |
Verhältnisse sind, die hier sehr förderlich zur Ausbreitung von Covid-19 | |
beitragen“, sagt Ute Rexroth. | |
Sie ist beim RKI verantwortlich für Datenauswertung. Konkrete Zahlen dazu | |
kann das Amt zwar nicht liefern, denn zentral erfasst werden von | |
Infizierten nur Alter, Geschlecht und Wohnort, nicht aber Wohnsituation, | |
Religion oder ein möglicher Migrationshintergrund. Doch aus den Berichten | |
der örtlichen Gesundheitsämter gehe klar hervor, dass derzeit „ganz stark | |
die sozial prekären Wohnumfelder, also Armut“, ein entscheidender | |
Risikofaktor seien, sagt Rexroth. | |
Bei den Ausbrüchen unter ErnteehelferInnen und in der Fleischproduktion bei | |
Tönnies scheinen beengte Wohnverhältnisse ebenfalls eine wichtige Rolle | |
gespielt zu haben. 13 Tönnies-MitarbeiterInnen hätten in einem kleinen | |
Einfamilienhaus mit verschimmelten Räumen gelebt, berichtete etwa die | |
[1][Deutsche Welle]. | |
## Beengte Wohnverhältnisse | |
Und auch im Berliner Bezirk Neukölln hat es zuletzt vor allem die Armen | |
getroffen: Vor zwei Wochen verhängte das Gesundheitsamt dort eine | |
Komplettquarantäne über einen Gebäudekomplex aus sieben zusammenhängenden | |
Wohnhäusern. 369 Haushalte sind betroffen, bis vorigen Freitag wurden knapp | |
800 Menschen getestet, davon waren – Stand Mittwoch – 106 positiv, 45 davon | |
Kinder. | |
Was die Häuser eint: Viele der Familien dort gehören einer rumänischen | |
Pfingstlergemeinde an. Zwar gibt es bis heute keinen Beweis, dass ein | |
Gottesdienst der Gemeinde zum „Superspreading-Event“ wurde, wie | |
Boulevardmedien zunächst spekulierten, „aber zahlreiche Gemeindemitglieder, | |
die alle bei einem Gottesdienst waren, sind positiv“, sagte der Sprecher | |
von Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD). Zur Begründung, warum nicht | |
wie sonst nur betroffene Haushalte unter Quarantäne gestellt wurden, | |
sondern – erstmalig in Berlin – ganze Häuser, erklärte er, eine solche | |
„sozial-räumliche Eindämmungsstrategie“ habe das Robert Koch-Institut weg… | |
der „sehr beengten Wohnverhältnisse“ und der engen Kontakte der | |
BewohnerInnen untereinander empfohlen. | |
VertreterInnen von Roma-Verbänden überzeugt dies nicht, sie werfen den | |
Behörden Antiziganismus vor. „Ich glaube nicht, dass man sich getraut | |
hätte, ein ganzes Haus mit ‚Deutschen‘ unter Quarantäne zu stellen“, sa… | |
Milan Pavlovic vom Roma Informations-Centrum der taz. | |
Sozialberater im Bezirk, die mit der Zielgruppe rumänischer EU-BürgerInnen | |
arbeiten, haben ein derartiges Ausbruchsgeschehen offenbar kommen sehen. | |
Eine Mitarbeiterin eines Trägers, die aus Angst vor beruflichen | |
Schwierigkeiten anonym bleiben möchte, sagte der taz, man habe das | |
Neuköllner Gesundheitsamt fast zwei Wochen vor der verhängten Quarantäne | |
darauf aufmerksam gemacht, dass in einer rumänischen Pfingstlergemeinde | |
Covid-19 kursiere. „Wir haben gewarnt, dass es enge soziale Kontakte mit | |
Treffen in kleinen Wohnungen gibt und schnell etwas geschehen muss.“ | |
Dennoch habe das Amt zunächst auf die Kontaktverfolgung der positiv | |
Getesteten gesetzt statt auf Reihen-Tests in der Community. „Das | |
funktioniert aber nicht“, sagt die Beraterin. „Die Menschen trauen Externen | |
nicht, viele haben – aus gutem Grund – Misstrauen gegenüber Behörden und | |
würden ihre Kontakte niemals preisgeben.“ Weiter sagte sie, trotz der | |
Aufklärungsarbeit der Träger gebe es viel Unwissenheit in der Community | |
über Corona. Für viele sei ihre Gesundheit zudem nicht so wichtig wie der | |
Existenzkampf, man gehe auch krank zur Arbeit, aus Angst, sonst den Job zu | |
verlieren. | |
## Kultursensibilität angemahnt | |
Natürlich gelte all dies nicht für die gesamte Zielgruppe, betont sie: „Es | |
gibt auch Familien, die finanziell gut dastehen, ausreichend Wohnraum haben | |
und alles schnell verstehen.“ Dennoch hätten die Behörden ihrer Ansicht | |
nach früher und kultursensibel mit Sprachmittlern die Community informieren | |
und einbeziehen müssen – dann wäre der Ausbruch vielleicht nicht so schlimm | |
geworden. | |
Auch bei weiteren Ausbrüchen in Göttingen und Magdeburg und bei der | |
Masseninfektion beim Fleischproduzenten Tönnies in Gütersloh hat das | |
Coronavirus zuletzt vor allem Menschen getroffen, die in beengten | |
Verhältnissen wohnen und arbeiten. Könnte das auch daran liegen, dass viele | |
der jetzt Infizierten von wichtigen behördlichen Informationen, die über | |
Ansteckungsrisiken, Hygieneempfehlungen und risikominderndes Verhalten | |
aufklären, gar nicht erreicht wurden? | |
Felix Rebitschek beschäftigt sich mit solchen Fragen. Der Psychologe | |
forscht am Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam | |
zu Risikokommunikation und dazu, wie Menschen Entscheidungen, etwa zum | |
Umgang mit gesundheitlichen Risiken, unter Unsicherheit treffen. | |
Er sagt: „Uns fehlen hier schlicht noch die Daten, um beurteilen zu können, | |
ob tatsächlich nicht verfügbare, unzureichende, schlecht verstandene oder | |
falsche Informationen möglicherweise mit dazu geführt haben, dass sich so | |
viele Menschen angesteckt haben.“ Im Fall der Tönnies-Arbeiter halte er | |
dies allerdings für unwahrscheinlich. „Wer unter den höchst problematischen | |
Bedingungen leben und arbeiten muss, wie sie sich vielen der Beschäftigten | |
in der fleischverarbeitenden Industrie darstellen, der kann noch so | |
gebildet und gut informiert sein – vermutlich hat er kaum eine Chance, sich | |
nicht zu infizieren.“ | |
Und auch in Großsiedlungen mit vielen Bewohnern mit teils geringen | |
Deutschkenntnissen sei das Risiko, sich mit dem Virus anzustecken, in | |
erster Linie wegen der dort beengten Wohnverhältnisse hoch: Wer sich mit | |
vielen anderen einen Fahrstuhl, Treppenhaus oder Innenhof teilen müsse, der | |
sei statistisch betrachtet nun einmal weitaus stärker gefährdet, sich zu | |
infizieren als Menschen, die als Kleinfamilie im Einfamilienhaus lebten – | |
unabhängig von sprachlichen oder medizinischen Kenntnissen. | |
## Betroffene informieren sich anders | |
Die Annahme, die oft aus Ost- und Südeuropa zugewanderten Menschen in den | |
Corona-Hotspots von Göttingen oder Berlin-Neukölln seien per se schlechter | |
informiert und erkrankten deswegen häufiger, teilt der Wissenschaftler so | |
nicht. Häufig, sagt Rebitschek, spielten die Heimatmedien für sie eine | |
wichtige Rolle, um Risiken einzuschätzen und sich entsprechend zu | |
verhalten. „Jetzt wissen wir natürlich häufig nicht, was diese Medien | |
schreiben oder senden“, sagt er. Auch hier gebe es Forschungsbedarf. | |
In Neukölln immerhin, wo die Quarantäne an diesem Samstag nach zwei | |
Wochen endet, sind nach Angaben des Bezirks inzwischen | |
„Sozialarbeiter*innen sowie Sprachmittler*innen für die | |
verschiedenen Muttersprachen vor Ort im Einsatz“, zudem | |
„Integrationslots*innen“ und „Neuköllner Stadtteilmütter“ – das sind | |
ehemalige Flüchtlinge oder MigrantInnen, die zwischen Behörden und | |
Landsleuten vermitteln. | |
Und was die Ausbrüche in der Fleischindustrie betrifft: Auch da stoßen die | |
Lebens- und Arbeitsbedingungen der rumänischen ArbeiterInnen auf immer mehr | |
Kritik. | |
Die Sorge vor einem neuen Corona-Lockdown scheint etwas möglich zu machen, | |
was zuvor seit Jahren nicht passiert ist: Die Gesellschaft nimmt wahr, | |
unter welchen Bedingungen Menschen in diesem Land leben und arbeiten. Und | |
sie hat erstmals als Ganzes ein Interesse daran, etwas daran zu ändern. | |
26 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dw.com/de/das-verschimmelte-heim-der-t%C3%B6nnies-arbeiter/a-53… | |
## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
Heike Haarhoff | |
Susanne Memarnia | |
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