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# taz.de -- Kinderarmut in Berlin: Ohne Geld an den Gärten der Welt
> Jedes vierte Kind in Berlin ist von Armut betroffen. Was bedeutet das für
> Familien, welche Lösungen braucht es? Ein Besuch der Arche in
> Hellersdorf.
Bild: Rene Haase hat sein Leben lang gearbeitet. Heute reicht das Geld für ihn…
Berlin taz | Als Rene Haase vor zwei Jahren im Juni aufwacht, ist etwas
anders geworden. Er hievt sich von der Couch im Wohnzimmer hoch, die
Wendeltreppe hinunter in die Küche und kocht wie jeden Morgen Kaffee. Wenn
die Sonne in Hellersdorf im Osten Berlins, aufgeht, bekommt er es in seiner
Dachgeschosswohnung als Erstes mit. Vom Balkon aus sieht man in einiger
Entfernung die Marzahner Plattenbauten, unten vor dem Haus, in der
Parkanlage Gärten der Welt, blöken die Schafe. Grün ist es in Hellersdorf,
ruhig, „herrlich“.
An diesem Morgen fühlt sich der linke Arm von Rene Haase merkwürdig leblos
an. Als seine Tochter ihn sieht, fragt sie: „Papa? Was ist los mit dir?“
Rene Haase versucht, zu beschwichtigen. Nichts sei los. Dann bricht er
weinend zusammen. Als er kurze Zeit später im Krankenhaus von seinem
Schlaganfall erfährt, denkt der alleinerziehende Vater als Erstes an seine
Kinder. Wie soll es jetzt weitergehen? Wer macht ihnen das Essen? Wer holt
sie von der Schule ab?
Heute, zwei Jahre später, sitzt der 57-Jährige auf einer Holzvorrichtung
vor dem Kinderhilfswerk Arche in Hellersdorf. Er trägt ein mintblaues
T-Shirt der Marke S-Oliver, eine Jeans, Fliegerbrille auf dem Kopf. Seit
seinem Schlaganfall leben er und seine vier Kinder vom Jobcenter, dazu
bekommt er Krankengeld.
In den vergangenen Jahren hat sich nicht nur für Familie Haase viel
verändert. Erst kam die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine. Verlust
von Arbeitsplätzen, die steigenden Lebensmittelpreise – all das wirkt sich
auf ohnehin einkommensschwache Familien aus.
## Bundesweit mehr als 3 Millionen Betroffene, Tendenz steigend
Eine aktuelle Auswertung des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass im
vergangenen Jahr mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche
armutsgefährdet waren. Gegenüber dem Vorjahr nahm die Zahl der betroffenen
Minderjährigen um 146.000 zu, gegenüber dem Jahr 2020 sogar um 302.000.
[1][In Berlin ist die Armutsquote bei Kindern besonders hoch, jedes vierte
Kind ist betroffen].
Auch in Hellersdorf sind die Arbeitslosenzahlen durch die Pandemie deutlich
angestiegen, damit stieg auch die Kinderarmut. Ende 2020 waren hier laut
Sozialbericht 12.679 Personen arbeitslos gemeldet, eine Zunahme um 30
Prozent. Die Zahl der Arbeitslosengeld-I-Empfänger*innen hat sich gegenüber
2019 sogar fast verdoppelt. Die Agentur für Arbeit weist für dieses Jahr
zwar leicht rückläufige Zahlen auf. Doch sie sind mit 12.179 immer noch
deutlich höher als vor der Pandemie.
Längst ist bewiesen, [2][dass Armut krank macht]. Stresskrankheiten wie
Diabetes, Magengeschwüre oder Angststörungen sind die Folge. Menschen mit
geringem Einkommen und niedrigem sozialen Status tragen ein bis zu dreifach
erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Derweil
haben Kinder aus armen Haushalten eine viel geringere Chance,
Bildungsabschlüsse zu machen, die sie später materiell besser stellen als
Kinder, die nicht in Armut aufwachsen.
Auf dem Gelände der Arche in Hellersdorf erinnert an solche verstörenden
Risiken auf den ersten Blick nichts. Es ist flirrend heiß, warme Luft
sammelt sich unter den Sonnenschirmen und ein schwüler Wind schwingt sich
unter die Ärmel der nassgeschwitzten T-Shirts. Bälle wecken den Asphalt,
auf einem riesigen Trampolin machen Kinder Saltos, ein paar ältere
inspizieren den Bauch eines seitlich liegenden Karts. Für Erfrischung
sorgende Gartensprinkler zeichnen Regenbögen über die Köpfe.
## Kinder brauchen Bewegung, Ausflüge, Förderung und Zuwendung – dafür
braucht es Geld
Eingerahmt von schattenspendenden Bäumen sind die Menschen froh, dass nun
auch wieder Aktivitäten draußen möglich sind. In der Diskussion um
Kinderarmut werden diese immer wieder betont: Was Kinder bräuchten, seien
Ausflüge, ausreichend Bewegung, Austausch und bestärkende Eingebundenheit
in Vereinen und Organisationen, wo sie Selbstwirksamkeit, Gemeinschaft und
Zuwendung erfahren und ihre Fähigkeiten und Interessen gefördert werden.
Wie viel Geld Kindern für Aktivitäten in ihrer Freizeit zu Verfügung steht,
entscheidet über ihre Häufigkeit und ihre Qualität. Laut dem Paritätischen
Wohlfahrtsverband haben Familien, die zum ärmsten Zehntel gehören, 44 Euro
pro Monat für solche Aktivitäten der Teilhabe zur Verfügung. Preisbereinigt
seien das fast 30 Prozent weniger als vor zehn Jahren. Das reichste Zehntel
habe mit 257 Euro dafür fast sechs Mal so viel übrig – und damit knapp 15
Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.
Empörung über solch ungleiche Verhältnisse zeigt sich in der
Geschwindigkeit, mit der Wolfgang Büscher spricht. Der Pressesprecher der
Arche redet schnell. Er zählt einen Fall nach dem nächsten auf, in dem ein
Kind wegen der Situation seiner Eltern soziale und materielle Entbehrungen
erlebt.
## Höhere Kindergrundsicherung als Lösung für historische
Versorgungsnotlage gefordert
Die Arche hat vor Kurzem einen Hilferuf veröffentlicht. Ein Schulleiter
teilte mit, dass immer mehr Kinder ohne Frühstück in die Schule kämen.
Dieser Eindruck bestätigt sich auch in der Arche. Mitunter stehen über
1.000 Familien Schlange bei den Lebensmittelausgaben, so viele wie nie
zuvor in der Geschichte der Stiftung. „Zuletzt hat eine einzige
Lebensmittelausgabe 60.000 Euro gekostet, weil wir bis zu 1.200 Familien
mit Paketen im Wert von bis zu 60 Euro versorgt haben“, erzählt Büscher.
Neben einer Preisbremse auf Grundnahrungsmittel fordert die Arche eine
[3][Kindergrundsicherung] von 600 Euro. 300 davon sollen an die Schulen für
Bildungsmaterial gehen, die anderen 300 direkt an die Kinder.
„Wenn mit einer niedrigen Kindergrundsicherung gesagt wird, nur weil deine
Eltern kein Geld haben, hast du eben auch Pech gehabt, dann ist das ein
Verbrechen an Kindern in Deutschland“, sagt Bücher. Damit verweist er auf
FDP-Finanzminister Christian Lindner, der [4][„wenig Spielraum“ für die
finanzielle Umverteilung] zum Wohl armer Kinder sieht.
Erst 2025, so hat es die Ampel-Koalition beschlossen, kommt die neue
Kindergrundsicherung. Über die Finanzierung wird noch gestritten, sie soll
jedoch mindestens so hoch sein wie das bisherige Kindergeld, das sind
aktuell 250 Euro pro Kind im Monat.
## Kindergrundsicherung allein reicht nicht
Die bisherigen Pläne werden von Expert:innen als nicht ausreichend
kritisiert. Der Armutsforscher Christoph Butterwegge betont gegenüber der
taz: „Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind.“ Wenn man Minderjährige
aus ihrem Familienzusammenhang herauslöse, ohne den Eltern im Bürgergeld-,
Sozialhilfe- oder Asylbewerberleistungsbezug auskömmliche Leistungen zu
gewähren, sei die Kindergrundsicherung eine armutspolitische Sackgasse.
Butterwegge hält weitere Maßnahmen für nötig: Kostenlose Freizeitangebote
wie öffentliche Hallenbäder, Kultureinrichtungen oder Museen sowie
kostenlose warme Mittagessen in Ganztagsschulen.
Rene Haases Kinder toben auf dem Gelände der Arche. Seine Tochter Jane hat
sich einen Helm aufgesetzt und schwingt sich auf ein Dreirad. Sie ist eine
begabte Schwimmerin. Ob sie in der Zukunft an Wettkämpfen in anderen
Städten teilnehmen, mit auf Ferienausflüge fahren kann?
Das Geld ist bei den Haases knapp. Reduzierte Wurst wird beim
Lebensmittelgeschäft Wurst Lothar im Angebot gekauft, die Regale sind voll
mit Konserven, die heruntergesetzt waren, für weniger gute Zeiten. Die
Urlaubskasse ist leer. Wenig Geld zu haben fordert Organisationsgeschick
und Struktur: Wie viel habe ich noch zur Verfügung? Wie viel kann ich
ausgeben?
## Armut trotz lebenslanger Maloche
Wie viel Geld eine Familie hat, hängt nicht unbedingt davon ab, wie viel
die Eltern arbeiten. Das zeigt sich auch an Rene Haase. Er kennt das
Gelände der Arche noch aus der Zeit, als hier eine Grundschule war. In den
1990er Jahren brachte er morgens seine ältesten Kinder hin, heute holt er
die jüngsten hier bei der Arche ab. Rene Haase ist, wie rund ein Drittel
aller Berliner*innen mit Kindern, alleinerziehend und alleine für das
Einkommen verantwortlich.
Rene Haase ist ein Macher, ein Kümmerer. Er wächst in der DDR auf, in
Prenzlauer Berg. Als Ausbildungsberuf lernt er Betriebsschlosser im
Heizkraftwerk Klingenberg, das erst mit Steinkohle und dann mit Braunkohle
über 300.000 Haushalte in Berlin mit Strom versorgte. Er arbeitet dort in
den folgenden Jahren als Hausmeister, Tischler, Maler, macht den
Lkw-Führerschein, besucht Weiterbildungen. „Mit diesem Verständnis bin ich
aufgewachsen“, sagt Rene Haase. „In der DDR musste jeder alles machen.“
Mit der Wende überrollt eine Entlassungswelle das Kraftwerk. Haase wird vor
die Wahl gestellt: Abfindung und gehen oder dableiben mit der Gefahr,
entlassen zu werden. Wenn man ihn fragt, wie sich die Wiedervereinigung auf
sein Arbeitsleben ausgewirkt habe, sagt er, das Reden über Politik sei
nicht seins. Er nimmt die Abfindung und wird selbstständig.
Mit seiner ersten Frau bekommt er in diesen Jahren vier Kinder, drei Kinder
bringt sie bereits in die Ehe mit. Rene Haase ist viel in Berlin unterwegs.
Arbeiten für die Familie, für die Dachgeschosswohnung in Hellersdorf. Mit
seiner Teppichreinigung säubert er die Flure des Allianz-Tower am Treptower
Park, als Subunternehmer stellt er Toiletten auf dem Messegelände in
Charlottenburg auf.
Kurz vor seinem Schlaganfall putzt er mit seiner zweiten Frau nachts zwei
Kitas, um tagsüber die Kinder versorgen zu können. Vier weitere sind
mittlerweile dazu gekommen. Seine zwei Ehen werden geschieden, die Kinder
bleiben bei ihm. Die 26-jährige Tochter Conny sagt: „Papa bekommt immer zu
Mutter- und Vatertag Geschenke. Er war immer da.“
## Wut auf die Politik
Wie fühlt es sich an, das gesamte Leben durchweg gearbeitet zu haben, um im
Krankheitsfall festzustellen, nicht aufgefangen zu werden?
Rene Haase hat sich verändert. Sein Leben lang hat er über Arbeit
Anerkennung bezogen. Doch der Körper merkte sich das Heben und Schleppen,
die Gelenke gingen kaputt, körperliche Beschwerden traten auf den Plan.
Seine Nervenenden sind kürzer, brüchiger geworden. Er atmet schwer aus,
sein Blick ist angestrengt, ein Strich liegt schwer zwischen den
Augenbrauen. Früher habe er nicht so viel Angst gehabt, sagt er. Wenn er
früher Geld brauchte, habe er eben schneller gearbeitet. Wenn er schneller
arbeitete, konnte er mehr Aufträge annehmen, so kam mehr Geld rein.
Heute geht das nicht mehr. Manchmal zweifelt er, ob er alles richtig
gemacht hat. Als seine erste Frau nach der Trennung krank wird, habe sie,
ohne es ihm zu sagen, eine Zeit von seiner Rente gelebt. Wie wenig für ihn
und seine Kinder bleibt, bemerkt er erst, als er auf den Rentenbescheid
schaut: „Ich habe wirklich Angst, dass wir von der Rente nicht leben
können.“
Neben der Angst steht der Frust darüber, dass der Körper ihn im Stich
lässt. Und neben den Konzentrationsschwierigkeiten und den kaputten
Gelenken gibt es diese diffuse Wut. Sie richtet sich gegen die, die noch
weniger bekommen als er, denen er aber unterstellt, mehr zu haben. Er wirft
der Politik vor, zu lügen. Er will sich nichts verbieten lassen, besonders
nicht, was er sagen kann und was nicht. Ob das etwas mit den Erfahrungen in
der DDR zu tun hat? „Weiß ich nicht, kann sein. Ich kann das nie so
ausdrücken. Ich kann das nur fühlen“, sagt Rene Haase.
## Kürzungen bei sozialen Angeboten angekündigt
Familie Haase ist nicht alleine in ihrer Armut. Neben den Familien, die
ohnehin zur Arche kommen, nehmen durch den Krieg in der Ukraine vermehrt
ukrainische Mütter mit ihren Kindern das Angebot der Arche in Anspruch.
Auch andere Familien benötigen finanzielle und soziale Unterstützung.
Ihr Recht auf gute Ernährung, Bildung und Teilhabe fördert die Arche: „Wenn
Kinder, ob ukrainische, syrische, deutsche, iranische oder andere, am
System scheitern, dann sehe ich keine Perspektive für dieses Land“, sagt
Arche-Sprecher Wolfgang Büscher. Es müsse jetzt gehandelt werden. Nicht
morgen, nicht erst 2025.
Doch statt arme Menschen stärker zu unterstützen, sehen sich mehrere
Berliner Bezirke wegen der drohenden Haushaltskürzungen durch die neue
schwarz-rote Landesregierung dazu gezwungen, [5][Sozialleistungen massiv zu
streichen]. Davon betroffen sind so gut wie alle sozialen Angebote:
Stadtteilkoordination, Straßensozialarbeit, Angebote für Obdachlose,
Jugendangebote wie die Finanzierung von Jugendreisen für sozial
Benachteiligte und vieles mehr.
Die Liga der Wohlfahrtsverbände warnt vor einem „erheblichen Einschnitt in
das Berliner Sozialsystem“. Auf Dauer bedeute das „die soziale,
wirtschaftliche und politische Bankrotterklärung für Berlin“, so die Liga,
zu der unter anderem die AWO, die Caritas, die Diakonie und der
Paritätische gehören. Am Dienstag will der Senat die Eckpunkte des Entwurfs
für den Doppelhaushalt 2024/25 vorstellen, der voraussichtlich Ende des
Jahres im Abgeordnetenhaus beschlossen werden soll.
Auf der Couch von Rene Haase, im Wohnzimmer über den Dächern von
Hellersdorf, an den Gärten der Welt, ist die Enttäuschung eingezogen, die
manchmal die Sicht verhängt. In ein paar Monaten bekommt er auch kein
Krankengeld mehr. Das Jobcenter übernimmt in diesem Fall. Es überprüft
jetzt, ob Rene Haase überhaupt noch arbeitsfähig ist. Eine Kita in vier
Stunden putzen, wie damals, schafft er heute nicht mehr. Gar nicht mehr zu
arbeiten will er sich aber auch nicht vorstellen.
11 Jul 2023
## LINKS
[1] https://www.berlin.de/sen/jugend/jugend-und-familienpolitik/kinder-und-fami…
[2] /Folgen-von-Inflation-und-Krieg/!5867753
[3] /Eckpunkte-fuer-Kindergrundsicherung/!5910089
[4] /Lindner-zur-Kindergrundsicherung/!5923628
[5] /Sozialpolitik-in-Berlin/!5941856
## AUTOREN
Anna Kücking
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