# taz.de -- Kindergrundsicherung hilft nicht: Berlins Kinder bleiben arm | |
> Die Kindergrundsicherung wird in Berlin wenig ändern, schätzen | |
> Wohlfahrtsverbände. Für Asylsuchende könnte sich die Lage sogar | |
> verschlechtern. | |
Bild: Rund 26 Prozent der Kinder in Berlin wachsen in Armut auf | |
BERLIN taz | Spätestens wenn die Eltern kein Geld für den Schulausflug, den | |
Sportverein, Klassenfahrten, Kino, geschweige denn Urlaub in den Ferien und | |
auch nur das Eis haben, merken auch kleine Kinder, dass sie arm sind. Von | |
teuren Turnschuhen und Markenklamotten, einem neuen Laptop oder Smartphone | |
können sie nur träumen: Laut einer [1][Bertelsmann-Studie] fahren arme | |
Kinder seltener in den Urlaub, sind seltener in Sportvereinen, können | |
seltener Hobbys nachgehen und sie werden häufiger ausgegrenzt. | |
In Berlin ist etwa jedes vierte Kind, genau 26 Prozent, von Armut bedroht, | |
rund 235.000 Kinder und Jugendliche bis 24 Jahre (bis 18 Jahre: 182.000). | |
Kinderarmut ist Familienarmut, die Eltern gelten als armutsgefährdet. | |
Größte Risikogruppe sind mit 40 Prozent Alleinerziehende, davon sind | |
[2][wiederum 90 Prozent Frauen]. Aber auch Sozialleistungsempfänger, | |
Arbeitende oder Eltern mit mehreren Kindern sind bedroht. | |
Um der Kinderarmut entgegenzuwirken, hat die Ampelregierung im Bund am | |
vergangenen Mittwoch das nach Aussage der grünen Familienministerin Lisa | |
Paus „wichtigste sozialpolitische Projekt dieser Bundesregierung“ | |
beschlossen – die Kindergrundsicherung. Sie soll mehrere Sozialleistungen | |
vom Kindergeld über Bürgergeld bis zum Kinderzuschlag bündeln, und diese | |
sollen einfacher zu beantragen sein. Die Leistungen sollten erhöht werden. | |
Allerdings sind aus ursprünglich geplanten 12 Milliarden Euro gegen | |
Kinderarmut im Koalitionsgezerre vor allem mit dem neoliberalen | |
Finanzminister Christian Lindner nicht mal ein Viertel davon übrig | |
geblieben: 2,4 Milliarden Euro. Die Frage ist: Wie viel wird das in Berlin | |
gegen Kinderarmut bringen? | |
## Dauerhaft Lebensmittelpakete | |
Wolfgang Büscher ist der Sprecher der Arche, eines Kinder- und | |
Jugendhilfswerks, das kostenloses Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und | |
Ferienfreizeiten für Kinder aus armen Familien anbietet. Seit die | |
Lebenskosten wegen der Inflation stark gestiegen sind, geben die | |
Arche-Anlaufstellen in Berlin auch Lebensmittelpakete aus, inzwischen als | |
dauerhafte Maßnahme. | |
Büscher sieht bei der Kindergrundsicherung wenig Licht und viel Schatten: | |
„Es ist gut, das Leistungen gebündelt werden sollen. Viele unserer Eltern | |
wussten nicht, welche Leistungen sie wie beantragen können“, sagt er. Die | |
Formulare für die verschiedenen Sozialleistungen seien verwirrend. Als er | |
probeweise selbst versuchte, diese auszufüllen, sei er daran gescheitert | |
und habe dies nur mit Unterstützung geschafft. | |
„Aber die Höhe der Grundsicherung ist lächerlich! Sie bringt nach unseren | |
Berechnungen bei einer Familie mit 2 Kindern für das einzelne Kind nur 30 | |
Euro im Monat mehr“, sagt Büscher. Das Geld gehe direkt in Essen, Trinken | |
und Kleidung, an der Kinderarmut werde sich nichts ändern, schätzt er. „Die | |
Inflation ist bei Weitem höher, als 30 Euro pro Familie wettmachen können. | |
Für uns als Arche verändert sich damit nichts – außer dass die Eltern ein | |
kleines bisschen mehr Geld für Essen haben.“ | |
Was gegen Kinderarmut wirklich helfe, seien Investitionen in die Bildung | |
von Kindern und Chancengleichheit. Man müsse wegkommen von | |
Brennpunktschulen mit stinkigen Toiletten und Klassenzimmern im schlechten | |
Zustand, fordert Büscher. Es brauche mehr Geld für Bildungseinrichtungen | |
und eine bessere Aufteilung von Kindern auf Schulen, sodass eine soziale | |
Durchmischung stattfinde. „Einen Großteil der Kinder werden wir verlieren | |
ohne starke Ausbildung“, schätzt Büscher. Sein bitteres Fazit: „Wir werfen | |
die Kinder auf den sozialpolitischen Müllhaufen.“ | |
## Gegen strukturelle Armut | |
Dorothee Thielen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband formuliert es | |
diplomatischer: „Wir teilen das Ziel, struktureller Kinderarmut | |
entgegenzuwirken, sind aber skeptisch, ob das Gesetz wirklich dazu geeignet | |
istj“, sagt sie. Berlin sei besonders betroffen, weil es hier so viele | |
Anspruchsberechtigte gibt. Thielen sagt, sie habe Zweifel, ob es am Ende | |
wirklich weniger Bürokratie gebe, weil der über den Grundbetrag | |
hinausgehende einkommensabhängige neue Zusatzbetrag auch weiterhin | |
beantragt werden muss. Es hat sich lediglich die behördliche Zuständigkeit | |
vom Jobcenter zur Familienkasse verschoben. „Die Umstrukturierung ist eine | |
große Aufgabe für alle Beteiligten angesichts des schmalspurigen Umfangs | |
des Gesetzes“, sagt Thielen. | |
Ob die Beantragung am Ende besser funktioniere, müsse die Praxis zeigen, so | |
Thielen. Wichtig sei vor allem in Berlin, dass Online-Anträge nicht nur | |
verständlich, sondern auch mehrsprachig zur Verfügung stehen. „Damit keine | |
Familie im Gestrüpp der Bürokratie verloren geht, braucht es auch weiter | |
viele Beratungsangebote und ein Ende aller Barrieren“, fordert Thielen. | |
Die Kritik an der geringen Höhe der Grundsicherung teilt auch ihr Verband. | |
„Es ist nur ein ganz klein wenig mehr, als über das Bürgergeld jetzt schon | |
zur Verfügung steht und nicht hinreichend“, sagt Thielen – wenngleich sie | |
begrüßt, dass die Höhe der Sätze regelmäßig überprüft werden soll. „G… | |
in Berlin mit seiner Kinderarmutsquote von 26 Prozent ist es sehr wichtig, | |
dass von Armut bedrohte Kinder und Jugendliche materiell gut abgesichert | |
sind“, sagt sie. | |
Melanie Otto, Geschäftsführerin des Berliner Verbands alleinerziehender | |
Mütter und Väter, hat ebenfalls grundsätzliche Kritik. Auf taz-Anfrage sagt | |
sie: „Es handelt es sich aus unserer Sicht vor allem um eine | |
Verwaltungsreform, nicht jedoch um eine echte Reform, die bei den Familien | |
ankommt.“ Es müsse sichergestellt werden, dass die Voraussetzungen in der | |
Berliner Verwaltung erfüllt sind, um die Kindergrundsicherung wie geplant | |
einzuführen und umzusetzen. „Bei der Ausgestaltung – finanziell wie in der | |
Umsetzung – muss aus unserer Sicht stark nachgebessert werden, um bei | |
Familien und vor allem auch bei Alleinerziehenden anzukommen“, sagt Otto. | |
## Gar keine Grundsicherung | |
Sehr grundsätzlich ist die gemeinsame Kritik von 23 zivilgesellschaftlichen | |
Organisationen: Sie bemängeln, dass Kindern von Asylbewerbern keine | |
Kindergrundsicherung zusteht. In einer [3][gemeinsamen Mitteilung] werfen | |
Pro Asyl, AWO, Diakonie, Save the Children und weitere der Bundesregierung | |
vor, sich nicht an die UN-Kinderrechtskonvention zu halten, die eine | |
Diskriminierung von Kindern aufgrund von Herkunft und Aufenthaltsstatus | |
verbietet. „Schon jetzt haben geflüchtete Kinder schlechtere Startchancen. | |
Wir fordern Regierung und Parlament auf sicherzustellen, dass geflüchtete | |
Kinder in keiner Weise weiter benachteiligt werden“, heißt es bei den | |
Organisationen. | |
„Dass die eigentlich wichtige Kindergrundsicherung gerade geflüchtete | |
Kinder in Deutschland weiter benachteiligt, ist einfach nur bitter. Das | |
Ziel, allen in Armut lebenden Kindern zu helfen, wird so verfehlt“, sagt | |
Wiebke Judith von Pro Asyl. Eine solche Sozialpolitik sei auf Abschreckung | |
ausgerichtet, sagt sie. Das werde keine Familie davon abhalten, aus Not und | |
Lebensgefahr zu fliehen, dafür aber die Situation von tausenden hier | |
lebenden Kindern verschärfen. | |
Nach Angaben von Pro Asyl würden für Kinder unter bestimmten Umständen nach | |
der neuen Regelung sogar Sofortzuschläge von 20 Euro monatlich wegfallen. | |
„Dass Kinder sogar schlechter gestellt wären, als vor der Einführung der | |
Kindergrundsicherung, ist besonders absurd und ein sozialpolitischer | |
Skandal“, sagt Judith. | |
4 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/Graue… | |
[2] /Kinderarmut-in-Deutschland/!5925664 | |
[3] https://www.proasyl.de/pressemitteilung/alle-kinder-haben-dieselben-rechte-… | |
## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
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