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# taz.de -- Kindergrundsicherung und Armut: Der Wert von Kindern
> Die Koalition streitet, wie viel Geld sie für die Grundsicherung
> bereitstellt. Aber Kinderarmut wird sie mit ihrem Vorhaben sowieso nicht
> beseitigen.
Bild: Bundesfamilienministerin Lisa Paus zu Besuch in der Offenbacher Sprach-Ki…
Offenbach und Berlin taz | Familienministerin Lisa Paus kniet neben fünf
Kindern und einer Erzieherin vor einem Kitatisch. Mit Seife und Wasser
mischen Erzieherin und Kinder die Flüssigkeit für die Seifenblasen. Die
Kinder hängen sich über den Tisch, um der Erzieherin zuzuhören, während sie
einen Reim vorliest. Immer wieder hakt Paus genauer nach: „Was wird hier
reingemischt? Kommen daraus auch große Seifenblasen? Das hätte ich nicht
gedacht.“
Lisa Paus ist Mitte August mit ihrem Parteikollegen Tarek Al-Wazir
unterwegs, es ist Wahlkampf in Hessen, sie besuchen eine Sprachkita in
Offenbach. Die Familienministerin interessiert sich für die Sprachen in den
Kinderbüchern und staunt über Stifte, die wie Aufnahmegeräte funktionieren
– aber sie fragt meist die Erwachsenen, mit den Kindern scheint sie nicht
recht anzubandeln.
Selbst als sie mit den Kindern Seifenblasen pustet, bleibt sie bei der
Sache: „Nimm mal das hier“, sagt sie und reicht dem Kind neben sich ein
anderes Stäbchen zum Pusten. Die effiziente Finanzpolitikerin in der
Familienministerin, sie kommt immer wieder zum Vorschein.
Vielleicht ist Lisa Paus deshalb genau die Richtige für diesen Job.
Schließlich geht es den Grünen in der aktuellen Legislatur darum,
[1][Kinderarmut mittels Kindergrundsicherung zu beseitigen]. Das war ihr
Versprechen im Wahlkampf, jetzt ist vom „wichtigsten sozialpolitischen
Projekt“ die Rede. Nicht schlecht, wenn da eine sitzt, die gerne rechnet
und bei der Sache bleibt.
## Laut Linkspartei sind 26 Milliarden Euro nötig
Vergangene Woche, wenige Tage nach ihrem Besuch in der Sprachkita, [2][hat
Paus das sogenannte Wachstumschancengesetz], ein Vorhaben von Finanzminiser
Christian Lindner (FDP), blockiert, [3][um Druck aufzubauen in Sachen
Kindergrundsicherung]. Sie will Zusagen, es geht ums Geld, 2 bis 7
Milliarden Euro im nächsten Haushalt. Bis Redaktionsschluss war unklar, auf
welche Zahl sich die Koalition einigen wird. Doch egal, wie das Ergebnis
sein wird, es bleiben Fragen: Ist es realistisch, die Kinderarmut durch
eine Kindergrundsicherung von 2 bis 7 Milliarden Euro zu beseitigen?
In der Opposition ist man naturgemäß skeptisch: Während die Union die
Kinderinfrastruktur stärken, also etwa Schulen und Kitas besser ausstatten
und die Eltern der Kinder in Erwerbsarbeit bringen will, geht der
Linkspartei die Forderung von Lisa Paus nicht weit genug.
Nach einem im März vorgestellten Konzept müsste die Kindergrundsicherung
laut Linkspartei [4][26 Milliarden Euro jährlich kosten], um Kinderarmut
tatsächlich zu beseitigen. Vergleicht man das mit dem Vorschlag von Paus,
klingt das utopisch: Noch Anfang dieses Jahres forderte sie 12 Milliarden
Euro. Als wahrscheinlich gilt, dass sich die Koalition auf 3,5 Milliarden
einigen wird.
Dabei gibt es Berechnungen von verschiedenen Wissenschaftler_innen, die von
ähnlich hohen Summen wie die Linkspartei ausgehen. Die Grünen selbst hatten
vor der Wahl [5][das ifo Institut mit einer Studie zum Thema] beauftragt.
Das Ergebnis: Je nach Modell kostet die Kindergrundsicherung zwischen 17
und 25 Milliarden Euro.
Alle Modelle eint, dass sie verschiedene Leistungen bündeln wollen.Nach
derzeitigem Vorhaben des Familienministeriums bekommen alle Eltern einen
Grundbetrag und je nach Einkommen einen Zusatzbetrag. Wem wie viel
Zusatzbetrag zusteht, soll die Familienkasse anhand von Steuerdaten
überprüfen und mitteilen. Anhand eines vereinfachten Formulars soll der
Betrag dann beantragt werden können.
## Momentan herrscht Behördenchaos
Heute müssen alle Leistungen an ganz unterschiedlichen Stellen beantragt
werden. Der Zusatzbetrag soll das bündeln. Klar ist, dass dazu der
Kinderzuschlag, der Kinderfreibetrag und Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch gehören. Nicht einig ist man sich in der Koalition
darüber, ob das Bildungs- und Teilhabepaket in die Kindergrundsicherung
einfließen soll. Die FDP ist dagegen.
Eigentlich soll auch das Existenzminimum neu berechnet werden, wovon Kinder
in Familien profitieren würden, die Bürgergeld beziehen – doch das ist
Sache des Arbeitsministeriums von Hubertus Heil (SPD). Die SPD hatte
bereits angekündigt, [6][hierauf im Notfall zu verzichten], um die
Kindergrundsicherung jetzt beschließen zu können.
Dabei ist allein deshalb mit Mehrausgaben von circa 5 Milliarden Euro zu
rechnen, weil viele Leistungen im jetzigen System nicht beansprucht werden.
So schätzt es zumindest das Familienministerium selbst. [7][Zwar ist in
letzter Zeit die Zahl derjenigen gestiegen], die den Kinderzuschlag
bekommen, im Januar aber ging das Ministerium von 1,5 Millionen Kindern
aus, die zwar leistungsberechtigt sind, deren Eltern den Zuschlag aber
nicht beantragen.
Ein Problem in der Debatte über die Kindergrundsicherung ist, dass Paus
zwar Kosten von 12 Milliarden Euro ankündigte, aber öffentlich nie recht
begründen konnte, wie sie auf die Zahl kommt. Vom Finanzminister wurde
zunächst ein Platzhalter von 2 Milliarden Euro anberaumt. Bei der FDP war
man überzeugt, dass die Kindergrundsicherung vor allem ein
Digitalisierungsprojekt sei und die Summe dafür schon ausreichen werde. Ein
Klein-Klein, wenn man bedenkt, wie gering der Anteil im Gesamthaushalt ist;
vorgesehen sind [8][derzeit 445,7 Milliarden Euro].
## Über wen wird hier gesprochen?
Bei alldem gerät eines schnell aus dem Fokus: Worum geht es hier
eigentlich? Konkret geht es darum, dass Paul und Paula genug Geld haben, um
mit ihren Kindergartenfreund_innen den Ausflug ins Schwimmbad zu machen,
Mesut genug, um zum Kindergeburtstag der Freundin ein Geschenk
mitzubringen. Und darum, dass die Eltern von Leila, Kim und Victor nach der
Arbeit nicht aufwendige Formulare in Behördendeutsch ausfüllen, sondern ein
paar Klicks machen, um das Geld zu bekommen. Zeit, in der sie ihren Kindern
bei den Hausaufgaben helfen oder mit ihnen spielen könnten. Kurzum: Es geht
um Teilhabe, wie Expert_innen so schön sagen, die ihnen nach
UN-Kinderrechtskonvention zusteht.
Statistisch gesehen geht es um [9][2,9 Millionen Kinder, die laut
Bertelsmann Stiftung armutsgefährdet] sind, deren Eltern weniger als 60
Prozent des Medianeinkommens verdienen; vor allem Kinder, die zwei oder
mehr Geschwister haben, sowie Kinder von Alleinerziehenden.
Doch es gibt nicht nur moralische und rechtliche Gründe, die Kinderarmut
abschaffen zu wollen, [10][sondern auch kühle finanzielle]. Der Schaden,
der durch Kinderarmut entsteht, ist in jedem Fall höher als der Betrag, den
die Einführung einer Kindergrundsicherung kosten würde. Das ist ein
Ergebnis, zu dem das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem
[11][Gutachten] kam, das von der Diakonie beauftragt wurde.
Dabei wurden Bürokratiekosten für die Bearbeitung von zukünftigen
Sozialleistungsanträgen berücksichtigt, die [12][Kosten für den
Gesundheitssektor] und andere indirekte Maßnahmen, die oft mit Armut
zusammenhängen. Armut hat für Betroffene Auswirkungen auf das gesamte Leben
– so verschleppt sich Armut oft über Generationen hinweg, weil die
Wahrscheinlichkeit steigt, weniger zu verdienen, wenn die Eltern schon
Geringverdiener_innen waren. Diakonie und DIW stützen sich dabei auf eine
[13][OECD-Studie], wonach diese Folgekosten über 100 Milliarden Euro
betragen würden.
## Diakonie fordert 20 Milliarden Euro
Bestärkt diese Rechnung das Vorhaben von Lisa Paus? Zumindest lässt sich
die Familienministerin von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie beraten und
[14][griff auch die Ergebnisse des Gutachtens auf]. Lilie jedoch fordert
von der Familienministerin mehr als 7 Milliarden Euro – mindestens 20
Milliarden pro Jahr seien für die Kindergrundsicherung angemessen.
Das reiht sich ein in die anderen Forschungsergebnisse und wird auch den
drei Finanzpolitiker_innen Paus, Lindner und Scholz eigentlich klar sein.
Doch in der Koalition scheinen alle Regierungsmitglieder zu sehr mit ihren
eigenen Anliegen beschäftigt zu sein. Die Fernsicht fehlt, verdeckte Kosten
sind dabei leicht zu ignorieren.
Das [15][Bündnis Kindergrundsicherung] schlägt vor, zur Finanzierung eine
„moderate Vermögenssteuer“ einzuführen, die Erbschaftsteuer anzuheben, ei…
Börsenumsatzsteuer oder einen „Kinder-Soli“ auf große Vermögen einzufüh…
Zum Vergleich: Für das Ehegattensplitting entstehen jährlich Kosten von
etwa 20 Milliarden Euro.
Am Dienstag trifft sich das Kabinett zur Klausur auf Schloss Meseberg.
Davor soll es zu einer Einigung in Sachen Kindergrundsicherung kommen.
Selbst wenn sich Paus mit 3,5 Milliarden Euro für den nächsten Haushalt
durchsetzt – der große Aufschlag gegen Kinderarmut wird das nicht sein.
25 Aug 2023
## LINKS
[1] /Lisa-Paus-zur-Kindergrundsicherung/!5928142
[2] /Veto-gegen-Steuernachlaesse-fuer-Firmen/!5954248
[3] /Reaktionen-auf-das-Veto-von-Lisa-Paus/!5950281
[4] /Linken-Konzept-fuer-Kindergrundsicherung/!5918773
[5] https://www.ifo.de/DocDL/ifo_Forschungsberichte_124_Kindergrundsicherung.pdf
[6] /Geplante-Kindergrundsicherung/!5932902
[7] /Arme-Familien-in-Deutschland/!5955810
[8] https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanz…
[9] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2023/janua…
[10] /Kinderarmut-und-Kindergrundsicherung/!5954483
[11] https://www.diakonie.de/pressemeldungen/gutachten-zur-kindergrundsicherung…
[12] https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/Bundesgesundheitsblatt/Download…
[13] https://www.oecd.org/wise/The-economic-costs-of-childhood-socio-economic-d…
[14] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/paus-kindergrundsicherung-ko…
[15] https://kinderarmut-hat-folgen.de/wp-content/uploads/2023/04/Konzept-Kinde…
## AUTOREN
Nicole Opitz
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