| # taz.de -- Kinderarmut in Deutschland: Das Armutszeugnis | |
| > Mit der Kindergrundsicherung will die Ampelkoalition Kinderarmut | |
| > bekämpfen. Ein Treffen mit einer Mutter, die von den Plänen profitieren | |
| > würde. | |
| Bild: Reformstau: Im Innenhof der Arche Berlin-Hellersdorf stehen Bedürftige f… | |
| Tabea Ulbrich* muss draußen vor dem Tor warten – und das, obwohl sie 45 | |
| Minuten zu früh gekommen ist zur Lebensmittelspende der Arche | |
| Berlin-Hellersdorf. Eigentlich ist die Arche ein Kinder- und | |
| Jugendhilfswerk, das kostenloses Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und | |
| Ferienfreizeiten für Kinder aus armen Familien organisiert. Eigentlich, | |
| denn seit Monaten organisiert die Arche auch Lebensmittelspenden in | |
| Marzahn-Hellersdorf, einem Bezirk im Osten Berlins. Heute schließen die | |
| Mitarbeiter*innen der Arche um 10.13 Uhr das Tor, der Innenhof ist | |
| schon zu voll. | |
| Vom Tor windet sich die Schlange durch den Hof, an einer alten, grauen | |
| Schule und einem Spielplatz vorbei, bis zu einer Turnhalle. Darin stehen, | |
| von Fußballtor zu Fußballtor säuberlich aufgereiht, 1.000 Tragetaschen | |
| bepackt mit Lebensmitteln für je knapp 50 Euro: Kaffee, Basmati-Reis, | |
| Kakaopulver, Aufbackbrötchen, Mehl, Öl, Apfelmus und Hafersahne. Die | |
| Walkie-Talkies der Arche-Mitarbeiter*innen knattern. Eine halbe Stunde | |
| noch, dann geht die Verteilung los, aber schon jetzt warten zwischen 600 | |
| und 700 Menschen im Innenhof. Mit Trolleys, Rucksäcken und Koffern, viele | |
| sind mit ihren Kindern da. | |
| Am Tor geben Arche-Mitarbeiter*innen die Türsteher*innen, eine spricht auf | |
| Ukrainisch mit Menschen in der Schlange. Ulbrich muss auf der Straße | |
| warten, immerhin scheint die Sonne, sie trägt Winterjacke und Sonnenbrille. | |
| Hinter ihr in einem Kinderwagen heult und kreischt ein Mädchen mit rosa | |
| Stiefelchen. Die Mutter nestelt an einem Schnuller herum und redet auf die | |
| Tochter ein. „Schwierig, wenn man hier mit Kindern zwei Stunden anstehen | |
| muss“, sagt Ulbrich. Einmal habe sie ihren Sohn zu so einer Essenausgabe | |
| mitgenommen, er habe davor gewartet. Vor Scham. | |
| „Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen“ – so steht es im | |
| Koalitionsvertrag der Ampel. Dazu wollen SPD, Grüne und FDP eine | |
| [1][Kindergrundsicherung] auf den Weg bringen. Für Familienministerin Lisa | |
| Paus (Grüne) ist das „das zentrale sozialpolitische Projekt dieser | |
| Bundesregierung“. [2][Sie soll – so zumindest der Plan – die bisherigen | |
| Sozialleistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag und Co. bündeln und aus | |
| einem Garantiebetrag, in Höhe von 250 Euro, und einem Zusatzbetrag | |
| bestehen.] Den Zusatzbetrag sollen arme Familien erhalten. Wie hoch dieser | |
| Betrag sein wird, ist noch unklar. Beziehungsweise Streitpunkt. Denn die | |
| Ampel ringt um Geld. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte der Bild | |
| am Sonntag am Wochenende, das Wesentliche für die Kindergrundsicherung sei | |
| bereits getan, und verwies auf die Erhöhung des Kindergelds. Das | |
| Familienministerium rechnet hingegen mit rund zwölf Milliarden Euro | |
| Mehrkosten. Worüber streitet die Ampel und was würde sich für Betroffene | |
| wie Ulbrich ändern? | |
| ## Jedes fünfte Kind von Armut bedroht | |
| [3][Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist laut einer Studie der | |
| Bertelsmann Stiftung von Armut bedroht.] Das bedeutet, 2,88 Millionen | |
| Kinder leben in Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des | |
| mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Bei einem Paarhaushalt mit | |
| zwei Kindern unter 14 Jahren beträgt diese Schwelle 2.410 Euro – wer | |
| darunter liegt, gilt als von Armut bedroht. | |
| Silke Tophoven ist Soziologin an der Hochschule Düsseldorf. Sie sagt: | |
| „Kinderarmut ist Familienarmut.“ Am gefährdetsten seien Kinder dann, wenn | |
| ihre Eltern arbeitslos sind oder nur wenig verdienen. Laut Tophoven sind | |
| besonders alleinerziehende Mütter und ihre Kinder betroffen. „Armut“, sagt | |
| Tophoven, „ist sehr häufig weiblich.“ | |
| So wie bei Ulbrich. Sie ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern und | |
| bezieht Bürgergeld. Also 503 Euro pro Monat plus staatliche Hilfen für die | |
| Kinder. Der Unterhalt vom Vater ihrer Kinder gilt als Einkommen und wird | |
| mit den Hilfen verrechnet. Sie sei krankgeschrieben und könne nicht | |
| arbeiten, sagt sie. Für das Anstehen vor der Arche ist Ulbrich gerüstet: In | |
| ihrem Rucksack hat sie einen „Schnulzenroman“ und einen Roman von Jane | |
| Austen auf Englisch. Man müsse es sich schön machen, sagt sie. Hinter ihr | |
| brüllt und kreischt das Mädchen mit rosa Stiefeln noch immer. Um elf Uhr | |
| setzt sich die Schlange langsam in Bewegung, zwanzig Minuten später steht | |
| Ulbrich am Eingangstor. „Wir haben es fast auf den Hof geschafft!“ Am | |
| Eingang wird gedrängelt. „Hinten ist die Schlange“, sagt eine Frau. | |
| Immer wieder versuchen Menschen ohne Anstehen in den Hof zu kommen. Ulbrich | |
| ringt mit sich, soll sie etwas sagen? Dann spricht sie mit den | |
| Arche-Mitarbeiter*innen, man kennt sich. Die Drängler*innen werden ans | |
| Ende der Schlange geschickt. Um 11.25 Uhr bekommt Ulbrich ein | |
| Abrisskärtchen in die Hand gedrückt, wie im Kino. Damit hat sie Anspruch | |
| auf eine Tüte Lebensmittel. | |
| Wolfgang Büscher arbeitet seit über 20 Jahren als Sprecher für die Arche. | |
| Früher habe er gesagt, die drei wichtigsten Dinge, die die Arche den | |
| Kindern mitgeben möchte, seien „Bildung, Bildung und Bildung“. Aber in den | |
| letzten Jahren, sagt er, sei Hunger ein immer größeres Thema geworden. | |
| Essen werde zunehmend wichtiger für die Arche. | |
| Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine und den steigenden Preisen | |
| hätten immer mehr Schulen und Familien die Arche um Hilfe gebeten. Deshalb | |
| organisiert das Kinderhilfswerk Lebensmittelspenden, um arme Familien zu | |
| entlasten. Büscher ist kein Mann leiser Worte, er spricht vom | |
| „sozialpolitischen Müllhaufen“, auf den man Kinder werfen würde, und von | |
| „Eltern“, die „verloren“ seien. „Wenn wir jetzt nicht in die Kinder | |
| investieren, dann müssen wir das später in Transferleistung bezahlen“, sagt | |
| er. | |
| Was tut der Staat gegen Kinderarmut? „Eine ganze Menge“, sagt Soziologin | |
| Tophoven. Es gibt das Kindergeld, klar. Doch das wird im Fall von | |
| Bürgergeldempfänger*innen wie Ulbrich als Einkommen verrechnet – von | |
| einer Erhöhung des Kindergelds haben Familien wie die Ulbrichs also nichts. | |
| Das weiß wohl auch Christian Lindner. Stattdessen bekommen Kinder von | |
| Bürgergeldempfänger*innen auch Bürgergeld, zwischen 318 und 420 | |
| Euro, je nach Alter. Dann gibt es noch den Kinderzuschlag. Den bekommen | |
| Eltern, die arbeiten, aber deren Einkommen trotzdem nicht reicht. Und es | |
| gibt die sogenannten Leistungen für Bildung und Teilhabe, das ist Geld für | |
| Klassenfahrten, Bücher und Stifte für die Schule, Musikunterricht und | |
| Sportvereine. „Selbst für Menschen, die sich gut auskennen, ist es | |
| schwierig zu überblicken“, sagt Tophoven. | |
| Zwei Söhne von Ulbrich fechten, erzählt sie ein paar Tage früher in einem | |
| Büro der Arche. 23 Euro koste da der Mitgliedsbeitrag im Verein pro Monat – | |
| über die Leistung für Bildung und Teilhabe hat sie je Kind Anspruch auf 15 | |
| Euro im Monat, damit ihre Kinder Sport im Verein machen oder | |
| Musikunterricht nehmen können. Die Differenz von acht Euro zahlt Ulbrich | |
| selbst. Die Beantragung beim Jobcenter sei aufwändig, sagt sie, und laufe | |
| eigentlich so: Sie beantragt die Leistung für Bildung und Teilhabe für den | |
| gesamten Bewilligungszeitraum, also den Zeitraum, in dem sie und ihre | |
| Kinder Bürgergeld beziehen. Dafür muss sie einen Nachweis erbringen, dass | |
| ihre Söhne Mitglied im Verein sind. | |
| Der Fechtverein rechnet einmal im Quartal ab, also alle drei Monate 69 | |
| Euro. Das Geld wird von Ulbrichs Konto abgebucht. Aber auch die 45 Euro | |
| Zuschuss vom Staat würden direkt auf das Konto des Vereins überwiesen, sagt | |
| Ulbrich. Deshalb überweist der Verein dann wieder 45 Euro an Ulbrich. „Das | |
| ist natürlich auch kompliziert für die Ehrenamtlichen im Verein“, sagt sie. | |
| Zu kompliziert. Deshalb zahlt sie mittlerweile den Vereinsbeitrag und | |
| beantragt die 15 Euro Zuschuss für Trainingslager. Wie behält sie da den | |
| Überblick? „Mit ganz vielen Aktenordnern“, sagt sie. Für das Jobcenter, f… | |
| die Familienkasse, für das Jugendamt, für die Kinder. „Der Kontakt mit den | |
| Ämtern ist sehr kompliziert und sehr anstrengend“, sagt sie. | |
| Auch deshalb sagt Tophoven: „Es gibt eine hohe Zahl von Leistungen, die | |
| nicht in Anspruch genommen werden.“ Beispiel Kinderzuschlag: Der | |
| Kinderzuschlag kann zusätzlich zum Kindergeld beantragt werden, von Eltern, | |
| die arbeiten, aber deren Einkommen trotzdem gering ist. Er beträgt maximal | |
| 250 Euro im Monat – je nach Einkommen der Eltern. Der Zuschlag erreicht | |
| aber nach Schätzungen der Bundesregierung nur etwa ein Drittel der Kinder, | |
| die einen Anspruch darauf haben. Warum ist das so? | |
| Laut Tophoven kann das viele verschiedene Gründe haben. Unwissenheit, | |
| Stolz, Scham, Angst vor Stigmatisierung oder aufwändige Anträge beim Amt. | |
| Und Tophoven sagt auch: „Manche Betroffenen haben auch Angst vor Kontrolle | |
| durch die Behörden und Eingriffen in ihr Familienleben.“ Mit der | |
| Kindergrundsicherung will Paus – so zumindest der Plan – mehr Familien | |
| erreichen. Einerseits durch das Bündeln der Leistungen und andererseits | |
| durch die Vereinfachung der Anträge, zum Beispiel durch digitale Anträge. | |
| Für Tophoven wäre das „ein Novum“ und „richtig und wichtig“. | |
| Familienministerin Paus will dafür einen sogenannten | |
| Kindergrundsicherungs-Check einführen. Mit Hilfe von Steuerdaten soll | |
| ermittelt werden, ob Familien neben dem Anspruch auf den Garantiebetrag | |
| auch Anspruch auf den Zusatzbetrag haben. Wenn das der Fall ist, sollen die | |
| Familien von einer Kindergrundsicherungstelle darüber informiert werden. So | |
| müssten sich die Familien nicht mehr selbst mit Onlinerechnern und | |
| Informationsbroschüren rumschlagen, um rauszubekommen, auf welche | |
| Leistungen sie Anspruch haben, sondern der Staat würde auf die Familien | |
| zugehen. Via Online-Portal soll der Antrag dann ganz einfach möglich sein. | |
| So zumindest der Plan. Familien, die Bürgergeld beziehen, so wie Ulbrich | |
| und ihre Kinder, sollen den Zusatzbetrag automatisch erhalten. | |
| Ulbrichs Söhne fechten sehr erfolgreich. Mehrere Berliner Meisterschaften | |
| und eine Deutsche Meisterschaft haben sie schon erkämpft. Für Ulbrich geht | |
| es also nicht „nur“ um Vereinsbeiträge. Sondern um Turniere in ganz | |
| Deutschland und um teure Ausrüstung wie Floretts, die noch dazu leicht | |
| brechen. Dafür können ihre beiden Söhne zwar auch eine Sportschule | |
| besuchen. Nur: Obwohl das Fechten zum Unterricht zählt und ihre Söhne an | |
| Turnieren teilnehmen müssen, um an der Schule bleiben zu können, übernimmt | |
| das Amt die Kosten für Ausrüstung und Turniere nicht, sondern bezuschusst | |
| lediglich – denn die Turniere laufen über den Verein und nicht über die | |
| Schule. Und Ausrüstungsgegenstände und Fahrten mit Vereinen werden bei | |
| Bürgergeldempfänger*innen mit maximal 150 Euro pro Jahr vom | |
| Jobcenter bezuschusst. | |
| Und auch hier ist die Antragstellung aufwändig. Momentan brauche ein Sohn | |
| wieder Fechtkleidung, erzählt sie beim Anstehen vor der Arche. Einmal sei | |
| die Arche eingesprungen, einmal habe der Förderverein der Schule Geld | |
| zugeschossen, vielleicht hilft dieses Mal ja der Opa, hofft Ulbrich. Aber | |
| ihre Söhne vom Fechten abmelden, das kommt für sie nicht infrage. „Da spare | |
| ich lieber woanders. Warum sollte ich das ruinieren? Sie verzichten schon | |
| auf so viel.“ Dann blickt sie auf die Uhr. „Eineinhalb Stunden haben wir | |
| geschafft.“ Es ist Viertel vor zwölf, Ulbrich kann den Eingang zur | |
| Turnhalle sehen. Davor packen Menschen Lebensmittel in Rucksäcke und | |
| Koffer, Frauen schieben Kinderwagen an Ulbrich vorbei, darin liegen die | |
| bepackten Tüten, die Kinder werden auf dem Arm getragen. | |
| Hinter Ulbrich schreit das Mädchen mit den rosa Stiefeln noch immer, | |
| irgendwann kommt eine Arche-Mitarbeiterin und lotst Mutter und Tochter an | |
| den Wartenden vorbei. „Vielleicht Fieber“, sagt Ulbrich. An einem Stand | |
| schenken Arche-Mitarbeiter*innen Kaffee und Tee aus, für die Kinder gibt es | |
| Apfelschorle. Ulbrich trinkt einen heißen Pfefferminztee, ein paar | |
| Schlangenmeter weiter stapft ein Kind im Schneeanzug an ihr vorbei. | |
| „Manchmal vermisse ich das“, sagt sie. „In dem Alter war ich noch ein und | |
| alles für meine Kinder.“ | |
| Familienministerin Paus möchte die Leistungen für Kinder erhöhen. Zusammen | |
| sollen der Garantie- und Zusatzbetrag der geplanten Kindergrundsicherung | |
| das Existenzminimum des Kindes sichern. Und genau dieses Existenzminimum | |
| möchte Paus neu berechnen. Aktuell liegt es für Kinder bis sechs Jahre bei | |
| 341 Euro, für Kinder bis 14 Jahre bei 372 Euro und für Jugendliche bis 18 | |
| Jahre bei 450 Euro. Auch Tophoven meint, dass dieses Existenzminimum neu | |
| berechnet werden muss. „Das ist inzwischen eine abgedroschene Phrase, aber | |
| Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, sagt Tophoven. Man sollte nicht von | |
| einem Existenzminimum ausgehen, sondern für Kinder und Jugendliche | |
| „Teilhabe in der Mitte der Gesellschaft realisieren“. | |
| Für Christian Lindner ist eine Erhöhung der Bezüge dabei nicht zwangsweise | |
| die Lösung. Den Zeitungen der Funke Mediengruppe sagte er im März, nur auf | |
| Geldzahlungen zu setzen, wäre falsch. Er äußerte Bedenken, dass mehr Geld | |
| in manchen Fällen nicht bei den Kindern ankäme, sondern nur bei den Eltern. | |
| Expertin Tophoven widerspricht. „Die meisten Eltern sparen heute schon bei | |
| sich“, sagt Tophoven. Daher könne man davon ausgehen, dass mehr Geld auch | |
| den Kindern zugute käme. | |
| „Ich fahre nie in den Urlaub“, sagt Ulbrich. „Aber ich sorge dafür, dass | |
| die Kinder in den Urlaub fahren können.“ Entweder ins Trainingslager oder | |
| in eine niederländische Gastfamilie, die über das Jugendamt organisiert | |
| wurde, oder Jugendfreizeiten über die Jugendhilfe. „Wenn ich Glück habe, | |
| sind alle Kinder mal drei Tage gleichzeitig verreist“, sagt Ulbrich. Dann | |
| mache sie es sich auf ihrem Balkon gemütlich. „Ich säe Lavendel aus, es | |
| riecht gut und ich fühle mich wie in Frankreich.“ Laut Bertelsmann-Studie | |
| fahren Kinder aus armen Familien seltener in Urlaub, sind seltener in | |
| Sportvereinen, können seltener Hobbys nachgehen und können seltener etwas | |
| mit Freund*innen unternehmen, zum Beispiel ins Kino gehen. Sie laden | |
| seltener Freund*innen nach Hause ein und werden häufiger ausgegrenzt. | |
| Und auch bei Bildung und Gesundheit müssen Kinder aus armen Familien | |
| zurückstecken. So erzählt Ulbrich, wie einmal ihre Tochter krank geworden | |
| sei: über 40 Grad Fieber, Husten, Atemnot. Im Krankenhaus hätte man ihr | |
| rezeptfreie Medikamente verschrieben. Für rund 200 Euro auf einem grünen | |
| Zettel. Das bedeutet, die Anwendung wird für notwendig erachtet, aber nicht | |
| direkt übernommen. Die Rechnung konnte sie zwar bei der Krankenkasse | |
| einreichen, aber sie musste in Vorkasse gehen. „Was macht man, wenn man das | |
| Geld nicht auf dem Konto hat?“ Ulbrich lieh das Geld von ihrer Mutter. „Hat | |
| man solche Hilfe nicht, hat man ein Problem.“ | |
| Beiträge bündeln, Leistungen erhöhen, Anträge vereinfachen – das wäre f�… | |
| die Soziologin Tophoven „ein großer Wurf“. Aber ob der Diskussionen in der | |
| Ampel bleibt sie „noch skeptisch“, ob die Kindergrundsicherung kommt. Auch | |
| Ulbrich ist skeptisch. Sie würde sich wünschen, dass mehr mit Betroffenen | |
| gesprochen wird. Denn diejenigen, die über arme Menschen entscheiden | |
| würden, seien selbst nicht betroffen. Und sie fragt sich, warum die | |
| Behörden nicht besser zusammenarbeiten und Jobcenter, Familienkasse und | |
| Jugendamt nicht auf eine gemeinsame Akte zugreifen können – so wie das bei | |
| der Patientenakte geplant ist. Das Warten auf Antworten vom Amt sei | |
| besonders schlimm, auch weil man oft in Vorkasse gehen müsse. „Man sitzt | |
| wie auf Kohlen, weil man nicht weiß, ob man Geld bekommt.“ | |
| Um 12.15 Uhr bekommt Ulbrich eine Tüte Lebensmittel in die Hand gedrückt. | |
| Zwei Stunden anstehen, für Brot, Reis und Mehl. Dann muss sie los: Getränke | |
| für ihre erkältete Mutter einkaufen und zum Arzt mit ihrem Sohn. Am | |
| nächsten Morgen fährt sie nach Schwerin, ihr Sohn kämpft um die Deutsche | |
| Meisterschaft. 250 Euro würde das Wochenende kosten, sagt sie. Sie hofft, | |
| dass kein Florett bricht. | |
| *Name auf Wunsch der Betroffenen geändert | |
| 3 Apr 2023 | |
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