# taz.de -- Streit um Kindergrundsicherung: Kein Patt auf Kosten der Armen | |
> Die Ampelregierung muss auch Sozialpolitik können. Bei der | |
> Kindergrundsicherung sollte sie zügig einen machbaren Kompromiss finden. | |
Bild: Finanzminister Christian Lindner und Familienministerin Lisa Paus | |
Das Projekt „Elena“ ist noch in unguter Erinnerung. Mit „Elena“, dem | |
sogenannten elektronischen Entgeltnachweis, sollte zu Zeiten der | |
CDU/CSU-FDP-Bundesregierung die Bürokratie im Sozialsystem vermindert | |
werden. Die Arbeitgeber mussten Daten ihrer Beschäftigten zu Entgelten, | |
Arbeitszeiten und anderem an eine Speicherstelle melden. Damit sollten die | |
Behörden in die Lage versetzt werden, Anträge auf Wohn-, Eltern- und | |
Arbeitslosengeld zügiger digital zu bearbeiten. | |
„Elena“ scheiterte 2010 schon im ersten Jahr: Datenschützer und die | |
Kommunen hatten protestiert, auch die Grünen waren dagegen. Jetzt steckt | |
[1][Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne)] in einem Dilemma, das | |
Erinnerungen an „Elena“ weckt. Ihr Versprechen, die Sozialleistungen für | |
Kinder zu erhöhen, ist mit dem Versprechen verknüpft, die Zugangswege für | |
diese komplexen Sozialleistungen in einer neuen „Kindergrundsicherung“ zu | |
automatisieren und zu vereinfachen. So steht es in einem Entwurf zu den | |
Eckpunkten für die Kindergrundsicherung aus dem Hause Paus und im | |
Koalitionsvertrag der Ampel. | |
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will die von Paus geforderten | |
12 Milliarden Euro nicht bewilligen. Der Kampf um eine neue | |
[2][Kindergrundsicherung] wird also schwer werden nach einer Zeit der | |
expansiven Staatsausgaben für Corona- und Energiehilfen. Dabei ist es | |
jedoch legitim, nach Aufwand und Ertrag der einige Milliarden Euro teuren | |
und langwierigen Digitalisierungsstrategie zu fragen. | |
Das Kindergeld, der Kinderzuschlag für erwerbstätige Familien mit kleinen | |
Einkommen, der Kinderanteil im Bürgergeld für arme Familien: All diese | |
Leistungen sollen in der neuen Kindergrundsicherung „gebündelt“ werden, | |
heißt es im Eckpunkte-Entwurf und im Koalitionsvertrag. Das Versprechen | |
einer „Bündelung“ zweier so unterschiedlicher Leistungen ist aber | |
irreführend: Das Kindergeld ist nicht abhängig vom Einkommen der Eltern, | |
der „Kinderzuschlag“ oder die Kinderanteile im Bürgergeld sind es schon. | |
Das bisherige Kindergeld soll in der Kindergrundsicherung zum | |
„Garantiebetrag“ werden. Der Kinderanteil im Bürgergeld und der bisherige | |
Kinderzuschlag hingegen werden zum „Zusatzbetrag“. Daraus ergeben sich laut | |
Eckpunkte-Entwurf zwei Stufen im Antragsverfahren. In der ersten Stufe | |
beantragen alle Eltern den „Garantiebetrag“, das heutige Kindergeld. | |
Durch einen automatisierten „Kindergrundsicherungscheck“ soll die | |
Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit dann feststellen, ob ein | |
Anspruch auf den „Zusatzbetrag“, den heutigen Kinderzuschlag, | |
beziehungsweise das Bürgergeld bestehen könnte. Dabei soll die | |
Familienkasse Einkommensdaten von den Finanzämtern nutzen. Das erfordert | |
neue Schnittstellen, neue Datenschutzregelungen. Zum Vergleich: Die | |
Einrichtung des Datenaustauschs zwischen Rentenkasse und Finanzämtern, der | |
bei Einführung der Grundrente ab 2021 nötig wurde, dauerte rund ein Jahr. | |
Es wird noch komplexer: Unterschreitet das Einkommen eine bestimmte Grenze, | |
will man die Eltern zur Antragsstellung für den Zusatzbetrag „anregen“, | |
heißt es im Eckpunkte-Entwurf. Im Antrag sollen die Eltern dann möglichst | |
keine Einkommensnachsweise mehr beibringen müssen, die Familienkasse soll | |
vielmehr bereits vorliegende Daten über Arbeitseinkommen, gegebenenfalls | |
Unterhaltsleistungen, Elterngeld, Wohngeld, Arbeitslosengeld I bei diversen | |
Behörden automatisch abfragen. Antragssteller:innen sollen Daten und | |
Nachweise, die schon irgendwo bei einer Behörde lagern, nicht noch einmal | |
angeben müssen. Ein technisch und datenschutzrechtlich sehr ehrgeiziges | |
Ziel. | |
Vielleicht sollte man die aktuelle [3][Armutsbekämpfung] gar nicht zwingend | |
mit einer so tiefgehenden Verwaltungsreform verknüpfen? Oft wird ja | |
behauptet, dass die Mehrzahl der Berechtigten den Kinderzuschlag nicht | |
beantragen, weil er zu kompliziert sei. Doch das stimmt so nicht. Laut | |
Statistik der Bundesagentur für Arbeit hat sich der Anteil der Kinder, für | |
die Kinderzuschlag bezogen wird, innerhalb der vergangenen vier Jahre mehr | |
als verdreifacht auf nun rund 800.000 Kinder. Die Onlineportale der | |
Familienkasse haben schon vieles vereinfacht. | |
Zudem würde die Bürokratie auch bei einem automatisierten Datenabgleich | |
nicht ganz verschwinden: Antragssteller:innen müssen irgendwo ihre | |
Wohnkosten mitteilen. Viele Extraleistungen aus dem Bildungspaket müssten | |
weiterhin einzeln abgerechnet werden. Wenn Eltern für sich selbst | |
Bürgergeld brauchen, müssten sie beim Jobcenter weiterhin einen Antrag | |
stellen mit allem Drum und Dran. | |
Mehr Digitalisierung wäre zwar gut, die ganz große, teure Strukturreform | |
hingegen ist fragwürdig in Zeiten, die ohnehin härter werden für das | |
Soziale. Lindner warnt schon mal vor einem „Ausbau“ des Sozialstaates. Er | |
befeuert damit das Narrativ, nach dem eine höhere Grundsicherung für Kinder | |
die Eltern zur Faulheit verleiten könnte. Solche Narrative werden immer | |
dann populär, wenn staatliche Mittel knapp sind. Sie haben mit Tatsachen | |
wenig zu tun, wie man aus der Debatte über „faule Arbeitslose“ in Zeiten | |
der strukturellen Massenarbeitslosigkeit vor 20 Jahren weiß. | |
Eine linke Sozialpolitik muss hier gegenhalten. Lisa Paus spricht im | |
Eckpunkte-Entwurf davon, das Leistungsniveau zu erhöhen, und das muss | |
spürbar werden. Armut bekämpft man mit Geld und mit freien Zugängen. Kinder | |
in Grundsicherung sollten zum Beispiel unentgeltlich in Sport- und | |
Kulturvereinen aktiv werden können. | |
Vor allem aber: Auch ein Finanzminister kann sich nicht vor sozialen Fragen | |
drücken. Es bringt nichts, wenn Paus und Lindner in einem politischen Patt | |
verharren. Die Kindergrundsicherung könnte zu einem Lackmustest für die | |
sozialpolitische Kompetenz der Ampel werden. | |
21 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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