| # taz.de -- Wohnen in Berlin immer noch Luxus: Aufs Land ziehen ist keine Lösu… | |
| > Nur 1 Stunde und 40 Minuten mit dem ÖPNV entfernt von Berlin gibt es ganz | |
| > problemlos bezahlbaren Wohnraum!? Das ist nichts für unsere Kolumnistin. | |
| Bild: So sehen ungefähr die Neubauten von Wohnungen aus, die sehr teuer zu mie… | |
| Verehrte Leser*innen, ich weiß, diese Kolumne heißt „Die Fußgängerin“ u… | |
| Sie möchten gern darüber lesen, wie ich durch die Stadt flaniere und zum | |
| Nachdenken anregende Beobachtungen mache. Kommt noch, verspreche ich Ihnen! | |
| Das wird hier noch ganz charmant. | |
| Aber erst muss ich noch mal über Mieten schreiben. Und Ihnen davor zunächst | |
| erklären, warum ich eigentlich wollte, dass diese Kolumne [1][„The Walking | |
| Dead“] heißt: Das beschreibt viel treffender als „Fußgängerin“, wie ich | |
| mich oft fühle, wenn ich durch diese Stadt laufe. Als überflüssige Alte | |
| nämlich, die eigentlich nur noch jüngeren Menschen mit besseren | |
| Geschäftsideen einen tollen Job, eine schöne Wohnung, Platz auf dem Gehweg | |
| und im ÖPNV, kurz gesagt: Raum wegnimmt. | |
| Es war der Redakteur, der auf „Fußgängerin“ bestand, und ich kann mich ihm | |
| nicht widersetzen, denn er ist der klügste und liebenswürdigste und auch | |
| der einzige Stalinist, den ich kenne. Und Stalinist ist seine | |
| Selbstbezeichnung. | |
| Raum also: Mir wurde nach meiner letzten Kolumne vorgeschlagen, ich solle | |
| doch aufs Land ziehen, wenn ich mir in Berlin keine Wohnung mehr leisten | |
| kann. Nur etwa 1 Stunde und 40 Minuten mit dem ÖPNV entfernt würde ich ganz | |
| problemlos bezahlbaren Wohnraum finden. | |
| ## Nettoeinkommen bis 2.000 Euro | |
| Ich gehöre zu dem guten Drittel der Berliner Haushalte mit einem | |
| [2][Nettoeinkommen bis 2.000 Euro im Monat]. Knapp die Hälfte der fast 2 | |
| Millionen Haushalte hier hat bis 2.500 Euro netto. Das sind keineswegs nur | |
| 1-Personen-Haushalte, sondern auch welche mit Kindern. Und Achtung: Es geht | |
| um Einkommen; Kindergeld etc. ist da schon drin. | |
| Es gibt Menschen, die besitzen oder mieten in Berlin Wohnungen, weil sie | |
| hier ein paar Tage im Jahr arbeiten, oder um ihre Kinder und Enkel zu | |
| besuchen, um sich Premieren in den Opern und Theatern anzusehen oder | |
| einfach nur, um hier shoppen zu gehen. Vielleicht leben sie sonst auf dem | |
| Land. Sicher ist: Sie haben genug Geld für (Wohn-)Raum. | |
| Die deutsche Verfassung sieht ein Recht auf Wohnraum nicht vor. Allerdings | |
| wird aus dem Grundrecht auf Menschenwürde die Notwendigkeit der Sicherung | |
| des Existenzminimums der Bürger*innen abgeleitet und damit ein „Recht | |
| auf Unterbringung“ durch den Staat beziehungsweise das Land beziehungsweise | |
| die Kommunen. Unterbringung ist so etwas Ähnliches, aber nicht dasselbe wie | |
| Wohnen: Man kann sich dabei nämlich nicht aussuchen, wie, wo und mit wem | |
| man wohnt. | |
| Für mich wirft das viele Fragen auf – genauso wie der Ratschlag, ich solle | |
| doch aufs Land ziehen. Was ist eigentlich ein Existenzminimum und wer | |
| bestimmt es: der Staat? Der Markt? Derzeit läuft das so, dass der Markt die | |
| Preise bestimmt. | |
| ## Das Existenzminimum | |
| Der Staat legt das [3][Existenzminimum] der Bürger*innen fest. Geraten | |
| sie in Existenznot, zahlt er ihnen Unterstützung – etwa einen Mietzuschuss: | |
| das Wohngeld. Er tut das, weil für die „Unterbringung“ all derer, die sonst | |
| ihre Wohnungen verlieren würden, nicht genug bezahlbarer Wohnraum zur | |
| Verfügung steht. | |
| Das Wohngeld stützt also den Preisanstieg auf dem Wohnungsmarkt. Eine | |
| Beschlagnahmung von Wohnraum etwa, der leersteht, weil er teuer ist, für | |
| diese „Unterbringung“ findet nicht statt. Könnte man ja auch machen. | |
| Außerdem: Wenn in Berlin die Mieten weitersteigen, wird das Land dann bald | |
| die Hälfte der Haushalte mit Wohngeld bezuschussen? Oder wird es sie dann | |
| „unterbringen“? Wo denn bloß: Auf dem Land – ausbürgern aus Berlin also | |
| sozusagen? Und wer würde dann noch in der Stadt wohnen? | |
| Ich möchte weder Wohngeld noch aufs Land. Ich möchte nicht auf meine | |
| Freund*innen, mein selbstbestimmtes Umfeld, das Flanieren in der Stadt | |
| verzichten müssen – auf meine Menschenwürde. Meine Existenz. Nur, weil ich | |
| nicht reich genug bin. | |
| 27 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Serien-Tipps-fuers-neue-Jahr/!5906936 | |
| [2] /Armut-und-Wohlstand-in-Deutschland/!5882514 | |
| [3] /Kinderarmut-in-Deutschland/!5925664 | |
| ## AUTOREN | |
| Alke Wierth | |
| ## TAGS | |
| Mieten | |
| Mobilität | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| wochentaz | |
| Kolumne Die Fußgängerin | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| wochentaz | |
| Wohnungsmangel | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kinderarmut | |
| Schwerpunkt Armut | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Über Hitze, Klima und Klimakterium: Gelobt sei der Herbst | |
| Unsere Autorin ist leidenschaftliche Fußgängerin. Bei hohen Temperaturen | |
| ist das nicht schön. Nun gibt's Abkühlung. | |
| Von der Selbstverantwortung des Fußvolks: Der Gehweg als Bürger*innensteig | |
| Zu Fuß gehen war früher, also ganz früher, kein Vergnügen, sondern | |
| demütigend. Das soll heute anders sein!? Vom täglichen Kampf der | |
| Fußgänger*innen. | |
| Veranstaltungsreihe in Berlin: Hohe Mieten sind kein Naturgesetz | |
| Mehrere Veranstaltungen erinnern an vergessene Utopien des Wohnens. An | |
| diesem Freitag geht es etwa um sozialen Wohnungsbau in Schweden. | |
| Wohnen in Berlin als Luxusproblem: Ich habe als Mieterin versagt | |
| In Sachen Nachhaltigkeit hat Wohnen keine besonders gute Bilanz. Deswegen | |
| will unsere Kolumnistin darauf verzichten. Wenn auch nicht freiwillig. | |
| Kinderarmut in Deutschland: Das Armutszeugnis | |
| Mit der Kindergrundsicherung will die Ampelkoalition Kinderarmut bekämpfen. | |
| Ein Treffen mit einer Mutter, die von den Plänen profitieren würde. | |
| Armut und Wohlstand in Deutschland: Wer ist wirklich in Not? | |
| Ein Fünftel der Menschen verfügt über weniger als 1.360 Euro pro Monat, | |
| andere bekommen mehr als 3.100 Euro. Das wirft Verteilungsfragen auf. |