# taz.de -- Armut und Wohlstand in Deutschland: Wer ist wirklich in Not? | |
> Ein Fünftel der Menschen verfügt über weniger als 1.360 Euro pro Monat, | |
> andere bekommen mehr als 3.100 Euro. Das wirft Verteilungsfragen auf. | |
Bild: Der Griff zu Sonderangeboten, wie hier zum Brot vom Vortag, gehört für … | |
Die neuesten Zahlen kamen am Mittwoch vom [1][Statistischen Bundesamt]: Ein | |
Fünftel der Bevölkerung in Deutschland hat pro Jahr weniger als 16.300 Euro | |
netto zur Verfügung, pro Kopf gerechnet. Das sind im Monat rund 1.360 Euro. | |
Die finanzschwächsten 40 Prozent haben weniger als 1.840 Euro. Auch nicht | |
genug, um Geld beiseite zu legen, wenn es mal dicke kommt, die | |
Energiekosten steigen, die Miete auch, und die Preise in die Höhe klettern. | |
Wir müssen erst recht in der Krise über Verteilung reden. | |
Die Einkommenslagen der Armen und der unteren Mittelschicht stehen derzeit | |
im politischen Fokus. Es geht auch um Leute, die zu viel Einkommen haben, | |
um Hartz-IV-Leistungen zu beziehen. Aber eben auch zu wenig, um nicht in | |
Angst zu geraten, wenn unerwartete Kosten auftauchen. | |
Fast ein Drittel der Befragten gab an, plötzliche Ausgaben von um die 1.150 | |
Euro oder mehr nicht aus eigenen Finanzmitteln bestreiten zu können. 3,7 | |
Prozent lebten in Haushalten, die bei Rechnungen von Strom- oder | |
Gasanbietern im Zahlungsverzug waren. Vor allem Alleinlebende und | |
Alleinerziehende mussten mit wenig Geld klarkommen. Diese neuen Zahlen des | |
Statistischen Bundesamtes stammen aus Haushaltsbefragungen des Mikrozensus | |
von 2021 (EU-SILC), sie beziehen sich dabei auf den Erhebungszeitraum 2020. | |
Die aktuellen Entwicklungen bei den Energiekosten sind also noch gar nicht | |
berücksichtigt. | |
Wie kann man diese Milieus entlasten? Und vor allem: mit welchem Geld? Man | |
muss das ganze Bild betrachten: Ein Fünftel der Befragten hatte ein | |
Netto-Jahreseinkommen von 38.100 Euro und mehr, umgerechnet also mehr als | |
3.175 Euro im Monat, für einen Alleinstehenden gerechnet. | |
Dabei handelt es sich um das sogenannte bedarfsgewichtetete | |
Netto-Äquvalenzeinkommen. Das heißt, Haushaltseinkommen werden mit | |
unterschiedlichen Gewichtungen auf die Haushaltsmitglieder umgelegt. Ein | |
vierköpfiger Familienhaushalt mit einem Einkommen von mehr als 6.660 Euro | |
netto und mehr zählt nach dieser Rechnung zum reichsten Fünftel der | |
Gesellschaft, mit einem Einkommen von mehr als fast 5.000 Euro im Monat | |
gehört diese Familie zu den wohlhabendsten 40 Prozent. | |
## Viele sind gut geschützt | |
Es gibt also durchaus viele Leute, denen es materiell gut geht, ziemlich | |
gut sogar. In der derzeitigen Debatte um die Energiekostenkrise sollte man | |
sorgsamer umgehen mit Maximalbildern einer breiten Verelendung. Es ist | |
nicht so, dass Milieus „bis weit in die Mitte hinein“ hungern und frieren | |
müssen und sich nur noch durch Besuche von Wärmestuben oder bei den Tafeln | |
über die Krise retten können, auch wenn Äußerungen in Fernseh-Talkshows das | |
manchmal suggerieren. Große Teile der Mittel- und erst recht die | |
Oberschicht sind gut geschützt. | |
Womöglich droht die Gefahr, dass die finanzielle Möglichkeit, viel Geld für | |
Energiekosten aufwenden zu können, am Ende sogar zu einem sozialen | |
Distinktionsmerkmal werden könnte. Nach dem Motto: Ich heize viel, weil ich | |
es mir leisten kann. Sollen doch die Armen an Energiekosten sparen! | |
Die Frage, wer eigentlich Entlastung braucht und wer nicht, beschäftigte | |
vermutlich auch die Statistiker:innen in den Ministerien, die | |
schwitzend über den Konzepten für die Entlastungspakete saßen und | |
rätselten, wie man die bedürftigen ärmeren Milieus und die sogenannten | |
unteren Mittelschichten von den Wohlhabenderen abgrenzen könnte, ohne dass | |
Empörungswellen über das Land rollen. Einfach nur via Finanzämtern nach | |
Nettoeinkommen zu gehen, ist leider nicht so einfach: Selbstständige zum | |
Beispiel brauchen ein höheres Einkommen, weil sie damit ihre | |
Altersversorgung finanzieren, und gehören damit nicht gleich zu den ganz | |
Reichen. Und Wohnkosten spielen auch eine Rolle beim Lebensstandard. | |
Trotzdem sollte die Politik in Sachen Umverteilung auch innerhalb der | |
Mittel- und Oberschichtmilieus mutiger navigieren. Es ist eine Schande, | |
dass sich derzeit in der Frage der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung | |
nichts bewegt, obwohl die Konzepte auf dem Tisch liegen. Wann, wenn nicht | |
jetzt, wäre der Zeitpunkt gegeben für eine krisenbedingte Vermögensabgabe? | |
Über eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen mit gleichzeitiger | |
Deckelung hoher Renten könnte man zudem von Wohlhabenden höhere Beiträge | |
für Renten- und Krankenkassen nehmen, zum Beispiel. Aber die höheren | |
Mittel- und die Oberschichten sind auch Wählerpotential, da will die Ampel | |
niemanden verärgern. Also häuft man lieber Schulden für die Enkelgeneration | |
an, die geht ja noch nicht wählen. | |
5 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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