# taz.de -- Sozialpolitik in Berlin: Kurz vor dem Kollaps | |
> Statt Entlastung wegen des Fachkräftemangels erwartet die sozialen Berufe | |
> Kürzungen in Millionenhöhe. Der Protest ist groß. | |
Bild: Auch ohne Kürzungen steht die soziale Arbeit unter Druck, etwa durch den… | |
BERLIN taz | Eigentlich sei Jugendsozialarbeit in Neukölln wichtiger denn | |
je, berichtet Osman Tekin. „Die Pandemie hat viel verändert.“ Viele | |
Jugendliche fühlten sich in der Zeit nicht gehört, die Hemmschwelle für | |
Gewalt sei bei vielen gesunken, [1][das habe sich nicht nur in der | |
Silvesternacht gezeigt.] Seit 17 Jahren arbeitet der Sozialarbeiter in der | |
Jugendfreizeiteinrichtung Manege auf dem Neuköllner Rütlicampus. | |
Vor allem Kinder aus problematischen Familienverhältnissen fänden dort | |
sinngebende Freizeitbeschäftigungen und ein stabilisierendes soziales | |
Umfeld. Doch ob Tekin seine wichtige Arbeit auch nächstes Jahr ausführen | |
kann, ist ungewiss. | |
Angesichts der angespannten Haushaltslage drohen auch dem sozialen Bereich | |
[2][Kürzungen von Geldern in Millionenhöhe.] Während im Vorfeld der | |
Haushaltsverhandlungen noch keine Details bekannt sind, preschte Neuköllns | |
Bürgermeister Martin Hikel (SPD) bereits mit einer Liste vor, die deutliche | |
Kürzungen im sozialen Bereich ankündigte. Unter anderem will Hikel bis zu | |
drei Jugendfreizeiteinrichtungen schließen, sollte den Bezirken in den | |
Haushaltsverhandlungen nicht deutlich mehr Geld zugeschlagen werden. Dabei | |
fehlen schon jetzt Hunderte Fachkräfte in dem Bereich; viele Beschäftigten | |
können die Aufgaben schon jetzt kaum bewältigen. | |
Wie hoch die Kürzungen ausfallen werden, steht noch nicht fest. Den ersten | |
Entwurf für den Haushaltsplan 2024/2025 will der Senat erst kommenden | |
Dienstag vorstellen. Dass es zu drastischen Einsparungen kommen wird, gilt | |
jedoch als gesichert. Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe sprach bei einem | |
[3][Pressetermin vor zwei Wochen] von einem bis zu 30 Prozent niedrigeren | |
Budget ihrer Senatsverwaltung im Vergleich zu den Vorjahren. | |
Ebenfalls unwahrscheinlich ist, dass der CDU-Finanzsenator Stefan Evers den | |
Bezirken, die etliche soziale Angebote finanzieren, noch weiter | |
entgegenkommt. Diese hatten ein Haushaltsdefizit von insgesamt 250 | |
Millionen Euro gemeldet. Evers teilte am Freitag mit, weitere 100 Millionen | |
bereitstellen zu wollen, ausreichen wird die Summe wohl kaum. | |
„Alle freien Träger haben gerade Angst“, berichtet Tekin. Betroffen sei die | |
gesamte soziale Infrastruktur des Bezirks, zu der neben Jugendarbeit auch | |
Angebote wie die [4][Drogenberatung und Obdachlosenhilfe] gehöre. In der | |
Regel sei die Finanzierung für viele Projekte und die damit verbundenen | |
Stellen nur auf ein Jahr befristet, erklärt Tekin. Die Ungewissheit, ob und | |
wie es im nächsten Jahr für sie weitergeht, stellt für viele | |
Kolleg:innen eine zusätzliche Belastung dar. „Die Teammitglieder sind | |
alle unheimlich erschöpft“, sagt Tekin. | |
Die Kürzungen droht die schwelende Krise im sozialen Bereich weiter zu | |
eskalieren. Ob Kita-Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, | |
Hort-Betreuer:innen oder Streetworker:innen, sie alle schlagen seit Jahren | |
Alarm. Sie klagen unisono über steigende Arbeitsbelastungen, Personalmangel | |
und mangelnde Projektfinanzierungen. | |
Dass sich die Krise nicht nur auf die Jugendarbeit in Neukölln beschränkt, | |
wurde auch am Dienstagvormittag vor der Senatsverwaltung für Bildung, | |
Familie und Jugend am Alexanderplatz klar. Die Arbeitsgemeinschaft Weiße | |
Fahnen hatte zusammen mit der Bildungsgewerkschaft GEW und dem | |
Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) mobilisiert, um auf die [5][Notlage | |
in der Kinder- und Jugendhilfe aufmerksam zu machen.] | |
Das Personal in den Jugendämtern und Hilfseinrichtungen sei überlastet, | |
unterbesetzt und unterbezahlt, kritisieren die Organisator:innen der | |
Demo. Die Kolleg:innen vom Jugendamt seien selbst bei Notfällen manchmal | |
gar nicht mehr zu erreichen, berichten drei Mitarbeiterinnen eines | |
Familienzentrums. | |
Harith Krenitz von der Arbeitsgemeinschaft Weiße Fahnen kann die | |
Schilderungen bestätigen: Erst am vergangenen Freitag habe bei ihrer | |
Einrichtung eine überforderte Mutter um Hilfe für ihre vier Kinder gebeten. | |
„Wir haben unsere ganze Liste durchtelefoniert, es war nirgendwo ein Platz | |
für die Kinder zu finden“, erzählt sie. Die Kinder seien dann erst mal bei | |
der Mutter geblieben. Als später wenigstens ein einzelner Platz frei wurde, | |
habe man die Kinder trennen müssen, erzählt Krenitz. | |
Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) sprach nach der Demo mit den | |
Demonstrierenden und sagte zu, am für Anfang Oktober geplanten Kinder- und | |
Jugendhilfegipfel teilzunehmen. Während die Demonstrierenden die bis zu 100 | |
unbesetzten Stellen in den Jugendämtern mit schlechten Arbeitsbedingungen | |
erklären, sieht Liecke sie im Fachkräftemangel begründet. | |
Das beste Mittel gegen [6][Fachkräftemangel] sei eine angemessene | |
Bezahlung, findet die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Auf einer | |
Pressekonferenz am Dienstag kündigte Verdi einen Warnstreik für kommenden | |
Mittwoch in den Tarifverhandlungen mit der Arbeiterwohlfahrt Berlin an, | |
einem freien Träger, der zahlreiche Kitas betreibt. | |
Die rund 100.000 Beschäftigten der freien Träger würden immer noch deutlich | |
weniger verdienen als ihre nach dem Tarifvertrag der Länder (TVL) bezahlten | |
Kolleg:innen, kritisiert Funktionärin Jana Seppelt. Bis zu 600 Euro Brutto | |
verdienten manche Beschäftigte weniger – und das bei gleicher Arbeit. Eine | |
Summe, die viele Beschäftigte bitter nötig hätten. „Die Inflation der | |
letzten Jahre hat viele in Bedrängnis gebracht“, erklärt Seppelt. | |
Um den Abstand zu den TVL-Beschäftigten zu verringern, fordert Verdi 13,5 | |
Prozent mehr Gehalt. Nur so ließe sich die Spirale aus Personalmangel, sich | |
verschlechternden Arbeitsbedingungen und Kündigungen brechen. | |
Für die Lohnerhöhung müsste in erster Linie das Land Berlin aufkommen, | |
welche die freien Träger finanziert. Sich mit der angespannten | |
Haushaltslage rauszureden, will Seppelt allerdings nicht gelten lassen. Der | |
Senat sei dafür verantwortlich, ausreichend Geld für die Sozialsysteme der | |
Stadt bereitzustellen. „Wir werden die Haushaltsverhandlungen kritisch und | |
mit weiteren Aktionen begleiten.“ | |
4 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
Benjamin Probst | |
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