Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Versteckte Armut in Berlin: Angst vorm Amt
> Wer Sozialhilfe empfängt, wird oft stigmatisiert. Viele Menschen nehmen
> das Geld deshalb gar nicht erst in Anspruch.
Bild: Nicht sehr einladend: Jobcenter in Berlin-Mitte (Negativbild)
Berlin taz | Seit einem halben Jahr ist Ronny Marggraf jetzt schon
Bürgergeldempfänger, doch die Termine beim Amt fühlen sich für ihn immer
noch unangenehm an. „Es ist komisch, wenn man da hinkommt, mit denen redet
und von oben herab behandelt wird.“ Marggraf ist 41 Jahre alt und war fast
ein Jahr lang wohnungslos in Berlin, bevor er vor sechs Monaten in das
betreute Gruppenwohnprojekt „PlattenGruppe“ in Köpenick gezogen ist. Als
Wohnungsloser sei er „als Mensch anderer Klasse“ behandelt worden, sagt er,
„in jeder Hinsicht. Auch im Nachhinein.“
Mittlerweile hat Marggraf zwar eine Unterkunft und erhält Bürgergeld, doch
die Vorurteile sind geblieben. Die bekomme er jetzt vor allem bei Ämtern
und Behörden zu spüren: „Man wird abgestempelt und ist sofort in so einer
Schublade drin: ‚Sie sind faul und trinken den ganzen Tag.‘“ [1][Oft werde
einem das Gefühl vermittelt, „dass man das Geld von denen bekommt, die mit
einem reden – und nicht vom Staat“.]
Die Probleme, von denen Ronny Marggraf spricht, kennen viele Menschen in
Deutschland – und scheuen sich deshalb oft davor, Sozialhilfe überhaupt in
Anspruch zu nehmen. Einer Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge bezogen bis zu 56 Prozent der
Anspruchsberechtigten 2019 kein Hartz IV. Als Gründe wurden häufig Scham
und die Angst vor Stigmatisierung genannt. Die Gelder wurden laut DIW nicht
in Anspruch genommen, um von anderen nicht schlechter behandelt zu werden
und ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.
[2][Die Dunkelziffer der Menschen, die ihren Anspruch auf Grundsicherungs-
oder Sozialhilfeleistungen aus Scham] oder anderen Gründen nicht geltend
machen, wird verdeckte Armut genannt. Auch in Berlin ist verdeckte Armut
ein Thema – genaue Daten dazu, wie viele Menschen in der Stadt von ihr
betroffen sind, gibt es jedoch nicht. Die Zahl der armutsbetroffenen
Berliner*innen bezieht sich ausschließlich auf Menschen, die
Sozialleistungen beziehen. Das sind derzeit 19,3 Prozent.
## Viele scheuen sich davor Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen
Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg liegen zumindest einige
Hinweise auf ein höheres Ausmaß von verdeckter Altersarmut in Berlin und
Brandenburg vor: So hätten 2020 die Armutsquoten für Menschen ab 65 Jahren
in beiden Ländern über den Anteilen der Empfänger*innen von
Grundsicherung im Alter gelegen.
So lange Betroffene von verdeckter Armut in Berlin nicht statistisch
erfasst werden, können sie als Zielgruppe kaum berücksichtigt und erreicht
werden. Im Dezember vergangenen Jahres stellte die Grünen-Fraktion im
Abgeordnetenhaus deshalb einen Antrag auf eine wissenschaftliche Studie zu
Ausmaß und Ursachen verdeckter Armut in Berlin, der im März jedoch
abgelehnt wurde.
Steffen Mehnert arbeitet bei der Sozialberatung der Caritas in Neukölln.
Regelmäßig würden ihm Menschen in der Beratung von Stigmatisierung
berichten – die sie oft beim Jobcenter erleben, sagt er. Vor Kurzem sei
etwa eine junge Frau in die Beratung gekommen, die vom Voll- aufs
Teilzeitstudium gewechselt sei. „Da kam vom Jobcenter sofort der Vorwurf,
sie hätte ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeigeführt“, so Mehnert. Die
Frau habe ADHS und wollte den Wechsel auf Teilzeit, um im Studium wieder
hinterherzukommen und auch nebenher besser arbeiten zu können. „Aber da
wird direkt unterstellt: ‚Ihr nehmt euch da was, worauf ihr moralisch
keinen Anspruch habt.‘“ Oft koste es Menschen viel Überwindung, in die
Sozialberatung zu kommen.
Mehnert erzählt von einem Mann, der vor wenigen Wochen in die Beratung
gekommen sei und erzählt habe, wie schwer er sich damit getan habe, weil
das für ihn ein Eingeständnis gewesen sei, dass er selbst es ohne Hilfe
nicht hinbekommt. Mehnert fragt sich in solchen Fällen, warum von
Bürgergeldbeziehern eine höhere Moral erwartet wird als vom Rest der
Gesellschaft. „Das sind auch Durchschnittsleute, da ist man mal faul, da
ist man mal fleißig.“
## Stigmatisierung beim Jobcenter
Seiner Meinung nach ist es Aufgabe der Jobcenter, die Menschen zu stärken.
„Und die machen im Prinzip genau das Gegenteil: den Leuten ständig das
Gefühl geben, dass sie sich eine Leistung nehmen, die ihnen gar nicht
zusteht. Da ist eine Philosophie draus geworden, das ist absolut
kontraproduktiv.“
Auch Ronny Marggraf erzählt von Momenten, in denen er das Gefühl hatte,
dass man es [3][ihm beim Jobcenter unnötig schwer] macht. „Ich hatte alles
abgegeben, nur die Bankverbindung hat noch gefehlt. Da haben sie meinen
Antrag komplett abgelehnt – und das, obwohl es die Möglichkeit gibt, das
per Scheck rauszuschicken.“ Er habe versucht zu erklären, dass er die
Bankverbindung noch nicht abgeben könne, weil er noch kein neues Konto
habe. „Und das wird einem nicht geglaubt. Und dann wird direkt mit
Sanktionen gedroht – bei jeder Kleinigkeit.“
Um der Angst und dem Druck entgegenzuwirken, die das Jobcenter unter
anderem durch Sanktionen erzeugen kann, bieten Initiativen wie
„Sanktionsfrei“ in Berlin betroffenen
Sozialleistungsempfänger*innen juristische und finanzielle
Unterstützung an. Die Erwerbsloseninitiative „Basta“ bietet eine
mehrsprachige Beratung und Begleitung zu Jobcenter- und
Sozialgerichtsterminen an.
Allerdings wüssten nur die wenigsten Menschen von solchen Hilfsangeboten,
sagt Thomas de Vachroi. Er ist Armutsbeauftragter für den Evangelischen
Kirchenkreis Neukölln. Um verdeckter Armut entgegenzuwirken, sei die
Aufklärung über Hilfsangebote deshalb zentral: „Zum Ankommen gehört auch
ein Kiezspaziergang, dass man so etwas kennenlernen kann und weiß, wo man
Hilfe bekommt.“ Man dürfe nicht vergessen, dass Armut jede*n treffen kann.
„Innerhalb von zehn Jahren kann man komplett aus dem sozialen Gefüge
rutschen – wenn man den Job verliert, in einer Scheidung ist,
alleinerziehend ist oder wird.“
Die Stigmatisierung erst als wohnungsloser Mensch und dann als
Bürgergeldempfänger hat Ronny Marggraf sehr beschäftigt. „Weil ich
erschrocken war, dass das so klischeebehaftet ist und die Leute so drauf
anspringen.“ Nach und nach sei das Fell aber gewachsen und er lasse die
Dinge nun nicht mehr so nah an sich heran. „Aber das verändert einen schon,
man ist nicht mehr so zugänglich zu anderen Personen, schottet sich ab.“
Genau darin sieht er jedoch die Gefahr: „Wenn man keinen mehr an sich
ranlässt, sich nicht helfen lässt, dann bleibt man in diesem Teufelskreis.“
23 May 2024
## LINKS
[1] /Steigende-Armut-in-Berlin/!5918695
[2] /Kinderarmut-in-Berlin/!5943385
[3] /Soziologe-Christopher-Wimmer-ueber-Armut/!6009898
## AUTOREN
Clara Zink
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Jobcenter
Grundsicherung
Social-Auswahl
Die Linke Berlin
Obdachlosigkeit
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Armut
Schwerpunkt Armut
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gegen Armut und Ausgrenzung: Die linken Kümmerer
Ärger mit dem Amt, dem Vermieter oder Nachbarn? In der Sozialsprechstunde
der Neuköllner Linken gibt es praktische Hilfe und einen Fonds für
Notfälle.
Obdachlosigkeit bei Frauen: Eine Art von Heimat
Der „Unterschlupf“ ist eine Zuflucht für die, die keine Zuflucht haben. Nun
droht der Berliner Tagesstelle für wohnungslose Frauen die Schließung.
Soziologe Christopher Wimmer über Armut: „Die Politik bietet ihnen nichts an…
Immer wieder werde armen und marginalisierten Menschen vorgeworfen, selbst
schuld an ihrer Lage zu sein, kritisiert der Soziologe Christopher Wimmer.
Kinderarmut in Berlin: Ohne Geld an den Gärten der Welt
Jedes vierte Kind in Berlin ist von Armut betroffen. Was bedeutet das für
Familien, welche Lösungen braucht es? Ein Besuch der Arche in Hellersdorf.
Steigende Armut in Berlin: Immer weniger für immer mehr
Berlin hat die zweithöchste Armutsquote der Republik, die Inflation dürfte
die Lage verschlimmern. Senats-Maßnahmen konnten den Trend nicht umkehren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.