# taz.de -- Gegen Armut und Ausgrenzung: Die linken Kümmerer | |
> Ärger mit dem Amt, dem Vermieter oder Nachbarn? In der Sozialsprechstunde | |
> der Neuköllner Linken gibt es praktische Hilfe und einen Fonds für | |
> Notfälle. | |
Bild: Armut ist in Neukölln an vielen Stellen sichtbar, hier am Hermannplatz | |
Berlin taz | Ein Mann öffnet die Tür zur Geschäftsstelle der Neuköllner | |
Linkspartei und bleibt auf der Schwelle stehen. Er ist um die 40, von | |
magerer Gestalt, seine Kleidung ist verschlissen. Schüchtern blickt er sich | |
um, offenbar unsicher, ob er hier richtig ist. An einem großen Tisch sitzen | |
zwei bürgerlich gekleidete Menschen: [1][Sarah Nagel, Bezirksstadträtin in | |
Elternzeit], und Tony Pohl, Mitarbeiter der Linksfraktion in der | |
Bezirksverordnetenversammlung. „Sie kommen zur Sozialberatung?“, fragt Pohl | |
freundlich. „Setzen Sie sich, bitte.“ | |
Der Mann berichtet in stockendem Deutsch, was los ist: Seit August ist er | |
obdachlos, schläft auf der Straße, in seinem Wohnheim hat er Hausverbot | |
bekommen – unverschuldet, wie er beteuert. Schon vier Mal war er seither | |
beim Sozialamt: „Sie sagen, sie haben keinen Platz für mich.“ Deswegen hat | |
er dann auch seinen Ausbildungsplatz verloren, er wollte eine | |
Sachkundeprüfung als Sicherheitsdienstmitarbeiter machen, „aber daran kann | |
ich gerade gar nicht denken“. | |
Tony Pohl nickt und sagt: „Sie brauchen erst ein Zimmer, ohne kann man | |
nicht arbeiten.“ Routiniert stellt er ein paar Nachfragen, etwa ob der Mann | |
eine „Zuweisung“ des Bezirksamts habe. „Ja“, erwidert der, wühlt kurz … | |
seinen Unterlagen und hält Pohl ein Schreiben hin. Pohl überfliegt es und | |
weiß, was zu tun ist. „Sie sollten sich begleiten lassen zum Sozialamt. Die | |
sind verpflichtet, Sie unterzubringen.“ | |
Der Mann ist einverstanden, und so sucht Pohl in seinem Laptop nach einem | |
Parteifreund für die Amtsbegleitung in Marzahn-Hellersdorf, das in diesem | |
Fall zuständig ist. Er notiert Name und Telefonnummer des Mannes, | |
verspricht, sich bald zu melden – und gibt ihm zum Abschied noch einen | |
Hinweis: Notfalls könne er in „die Teupe“ gehen, eine Erstaufnahme für | |
Wohnungslose in Neukölln: „Die Notschlafstellen der Kältehilfe dort haben | |
schon auf.“ | |
## Vorbild KPÖ | |
Seit Mai bietet die Neuköllner Linke „Sozialsprechstunden“ an: mittwochs in | |
der Geschäftsstelle in der Wipperstraße, freitags im Büro der Neuköllner | |
Abgeordnetenhausmitglieder Ferat Koçak und Niklas Schrader. Alle können mit | |
ihren Problemen kommen, egal ob es um Ärger mit dem Jobcenter, dem | |
Sozialamt, dem Vermieter, in der Schule, bei der Arbeit oder mit der | |
Polizei geht. [2][Vorbild ist die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ), | |
die schon länger diese Art der direkten Hilfe betreibt.] Zwar bieten auch | |
die deutschen Genossen Beratungsangebote zu diversen Themen unter der | |
Rubrik „Die Linke hilft“ an. „Solche [3][Kümmererstrukturen sind ja linke | |
DNA], Teil unserer Traditionslinie“, sagt Sarah Nagel. | |
Das Neue an der Sozialberatung à la KPÖ: Es gibt zusätzlich einen | |
Sozialfonds, finanziert mit dem Geld von Amts- und Mandatsträgern. Auf | |
Beschluss der Vollversammlung des Neuköllner Linke-Bezirksverbands | |
verdienen die Abgeordneten Koçak und Schrader wie auch Stadträtin Nagel | |
„nur“ noch so viel wie ein Mitarbeiter der Geschäftsstelle in Vollzeit, der | |
Rest ihres Gehalts wird gespendet oder geht in den Fonds. | |
Damit könnte man zum Beispiel einem Jobcenter-Kunden zu einem neuen | |
Kühlschrank verhelfen, erklärt Pohl. „Das Jobcenter gibt dafür nur noch | |
Darlehen, die man abzahlen muss.“ Allerdings würde auch der Sozialfonds zum | |
Kühlschrank nur einen Teil beitragen können, denn die beschlossene | |
Obergrenze pro Fall liegt bei 200 Euro. | |
Bisher ist der Fonds kaum in Anspruch genommen worden, und wenn, nur für | |
Kleinigkeiten wie Kopierkosten. Eigentlich habe man das Gegenteil erwartet, | |
berichtet Nagel, und auch deshalb strenge Kriterien für die Vergabe | |
beschlossen. Dazu zählt neben der Obergrenze auch, dass die Ausgabe | |
„alternativlos“ sein muss. „In der Beratung stellen wir aber meistens fes… | |
dass es Alternativen gibt, weil die Menschen rechtliche Ansprüche haben“, | |
so Nagel. | |
Diese Erfahrung hat auch Ferat Koçak gemacht, der freitags im Wochenwechsel | |
mit Niklas Schrader in der Schierker Straße berät. Einmal, berichtet Koçak, | |
sei eine Familie gekommen, die einen zweiten Kinderwagen brauchte fürs | |
zweite Kind, den aber das Jobcenter nicht bezahlen wollte. „Wir hätten | |
ihnen den Kinderwagen gekauft, aber dann hat unser Brief das Amt doch | |
umgestimmt.“ | |
## Briefe schreiben | |
Überhaupt spielen Briefe eine wichtige Rolle in der Sozialberatung: Briefe | |
von Behörden, Vermietern oder Versicherungen, die kaum verständlich sind, | |
nicht einmal für Muttersprachler. Briefe, die Ratsuchende schreiben | |
müssen, ans Amt, an wen auch immer. Für viele ältere Menschen, nicht nur | |
Migranten, sei das eine Herausforderung, sagt Koçak. „Ich habe auch erst im | |
Zivildienst gelernt, wie man einen Brief schreibt, mit Datum, Betreff und | |
allem.“ | |
An dem Tag, an dem die taz zu Besuch ist, kommt eine Frau in Koçaks | |
Beratung, die sehr viele Briefe mitbringt – und einen ganzen Stapel von | |
Problemen. Sie redet ohne Punkt und Komma, alles geht durcheinander: Ärger | |
mit dem Vermieter, der sie vor Monaten aus ihrer Wohnung warf, Ärger mit | |
dem Jobcenter, das die Miete nicht mehr zahlt, Ärger mit der Polizei, die | |
sie aus der Wohnung wies. Koçak hört sich alles an, überhört die | |
rassistischen Tiraden mittendrin über „die Türken“, sortiert die vielen | |
Briefe und bringt Struktur in den Wust. | |
Für die Sache mit der Polizei empfiehlt er die Strafrechtsberatung in der | |
„Roten Lilli“, einem kommunistischen Stadtteilladen um die Ecke, und | |
schreibt die Adresse auf. In der Vermieterangelegenheit, findet er heraus, | |
hat der Mieterverein schon einen Brief aufgesetzt. Für das Jobcenter | |
formuliert Koçak ebenfalls einen Brief, liest ihn der Frau vor und druckt | |
ihn aus. Wenn das nicht helfe, könne sie auch gerne in die Rechtsberatung | |
der Linken kommen, ebenfalls am Mittwoch in der Geschäftsstelle. „Ich weiß | |
schon, warum ich Sie gewählt habe“, sagt die Frau und zieht zufrieden ab. | |
Etwas erschöpft, aber ebenfalls zufrieden stellt sich Koçak vor die Tür und | |
raucht eine Zigarette. „Die Leute sollen sich keine Gedanken machen müssen, | |
wo sie mit ihren Problemen hingehen können.“ Natürlich sei es Aufgabe der | |
Linken, politisch dafür zu kämpfen, dass „der Staat funktioniert“ und alle | |
zu ihrem Recht kommen, sagt Koçak. „Aber hier geht es darum, den Menschen | |
einen konkreten Weg aufzuzeigen, wie sie sich selbst helfen können.“ | |
Nicht allen in der Linken gefällt dieser Ansatz. Manche sähen diese Arbeit | |
nicht als politisch an, sagt Sarah Nagel, „denn es geht nicht in erster | |
Linie um die Änderung der Verhältnisse, sondern um konkrete Hilfe unter den | |
aktuellen Verhältnissen“. Für die „Kümmerer“ ist das kein Widerspruch.… | |
sehen sich durch die ersten Monate mit der neuen Sprechstunde bestätigt – | |
und wollen auf dem Parteitag im Oktober einen Antrag einbringen, das Ganze | |
bundesweit aufzuziehen. | |
Für Koçak, der gerade seine Bereitschaft erklärt hat, bei der nächsten | |
Bundestagswahl als Direktkandidat für Neukölln anzutreten, könnte dies der | |
erste Härtetest auf Bundesebene werden. Aber er ist überzeugt: „Die | |
Sozialberatung ist linke Politik, nahe an den Menschen.“ | |
9 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Linke-und-SPD-streiten-in-Neukoelln/!5809398 | |
[2] /Erfolgsrezept-fuer-linke-Parteien/!6033226 | |
[3] /Debattenaufschlag-zur-Zukunft-der-Linken/!6035526 | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
## TAGS | |
Die Linke Berlin | |
Schwerpunkt Armut | |
Die Linke | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Schwerpunkt Armut | |
Neukölln | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erfolgsrezept für linke Parteien: „Teil der Gesellschaft sein“ | |
Die Kommunistische Partei Österreichs gilt als spannendste Linkspartei | |
Europas. Georg Kurz will seine Erfahrungen nun in Die Linke einbringen. | |
Versteckte Armut in Berlin: Angst vorm Amt | |
Wer Sozialhilfe empfängt, wird oft stigmatisiert. Viele Menschen nehmen das | |
Geld deshalb gar nicht erst in Anspruch. | |
Drogenproblem in Neukölln: Drogenelend vor barocker Kulisse | |
Der Körnerkiez ist ein Hotspot der Drogenszene. Anwohner sind verärgert, | |
Sozialarbeiter:innen fordern mehr Anlaufstellen. |