# taz.de -- Arche-Gründer über Kinderarmut: „Nicht mehr genug Geld für Ess… | |
> Viele Kinder wurden in der Coronakrise alleingelassen, sagt Bernd | |
> Siggelkow. Der Rückstand werde erst sichtbar, wenn die Schule wieder | |
> losgeht. | |
Bild: Arche-Gründer Bernd Siggelkow fordert eine Grundsicherung für Kinder | |
taz: Herr Siggelkow, wie geht es den von der Arche betreuten Kindern? | |
Bernd Siggelkow: Die Kinder sind durch Corona noch abgehängter als zuvor. | |
[1][Homeschooling funktioniert nich]t für Familien, in denen den Eltern oft | |
die Bildung fehlt, um den Unterricht selbst zu übernehmen. Diese Woche ist | |
ein Kind zu mir gekommen und hat gesagt: „Ich will wieder in die Schule. | |
Meine Mama ist keine Lehrerin, die kann das nicht.“ Hinzu kommt, dass viele | |
Kinder auf engem Raum leben, ohne gutes WLAN und genügend Laptops. Selbst | |
an Grundsätzlichem wie einem großen Küchentisch mangelt es oft. Wenn die | |
Schule bald wieder losgeht, wird das Ausmaß des Rückstands sichtbar werden. | |
Können Lehrerinnen und Lehrer die Kinder nicht trotzdem begleiten, | |
beispielsweise durch Arbeitsblätter? | |
Das mag an manchen Schulen klappen. Aber viele unserer Kinder gehen auf | |
Brennpunktschulen. Hier gibt es selten einen gut ausgestatteten | |
Förderverein, der einspringen kann. Und auch viele Lehrerinnen und Lehrer | |
haben sich lange nicht gemeldet. Irgendwann kam dann zwar ein Wust von | |
Hausaufgaben. Den können die Schüler ohne Hilfe aber gar nicht bewältigen. | |
Während der Coronakrise mussten viele soziale Einrichtungen schließen. | |
Welche Folgen hatte das? | |
Die Chancen von Kindern hängen immer stark von der Bildung der Eltern ab. | |
Aber durch Corona hatten plötzlich fast alle Institutionen geschlossen, die | |
den Kindern sonst eine Perspektive geben. Schule, Jugendamt, Vereine – | |
alle hatten zu. Damit fehlten den Kindern auch Ansprechpartner, falls es zu | |
Hause mal Probleme gab. Aber auch die Familien als Ganzes hatten es schwer. | |
Inwiefern? | |
In vielen Familien hat sich die finanzielle Situation zugespitzt. Eltern | |
haben weniger verdient. Einige Familien hatten wegen geschlossener Tafeln | |
und gestiegener Preise plötzlich auch nicht mehr genug Geld für Essen. Wir | |
haben versucht die Familien zu unterstützen, indem wir Lebensmittel | |
vorbeigebracht und virtuelle Lerntreffs angeboten haben. Trotzdem hat man | |
gemerkt, dass immer mehr Familien die Decke auf den Kopf gefallen ist. | |
Hat sich das auch auf die Gesundheit der Kinder niedergeschlagen? | |
Wir haben beobachtet, dass einige Kinder zugenommen haben. Und [2][auch | |
psychisch ging es vielen nicht gut]. Die meisten Kinder, die in Armut | |
leben, leben in Familien mit vielen Kindern, mit Alleinerziehenden und in | |
Familien mit Migrationsgeschichte. In diesen Konstellationen sind die | |
psychischen Ressourcen, auf Dauer eng zusammenzuleben, oft begrenzt. | |
Was brauchen die Kinder derzeit am meisten? | |
Das, was sie immer brauchen: Bewegung, Auslastung und den Kontakt mit ihren | |
Freunden. Einen Großteil davon leisten die Schulen ja normalerweise. Zu | |
Hause bleibt dagegen meist nur der Fernseher. Als dann die Spielplätze über | |
sechs Wochen geschlossen wurden, haben wir kurzfristig unsere Ausstattung | |
an Fahrrädern und Inlinern an die Familien verliehen. | |
Die aktuelle [3][Studie der Bertelsmann-Stiftung] zeigt auch, dass | |
Kinderarmut ein strukturelles Problem ist. Wurde dieses Problem zu lange | |
ignoriert? | |
Die Studie ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich für Kinder | |
einsetzen. Ich arbeite seit 25 Jahren in dem Bereich. Uns ist viel | |
gelungen. Aber gleichzeitig haben wir im Westen jetzt die vierte Generation | |
von Sozialhilfeempfängern, im Osten die dritte. Armut wird von Generation | |
zu Generation weitervererbt. Das liegt nicht nur am Geld. Den Menschen | |
fehlt es auch an Perspektive und Würde. Wer vermittelt ihnen die, wenn sie | |
schon immer arm waren? Wir versuchen diese Lücke zu schließen, indem wir | |
die Kinder von der Kita bis zum Beruf begleiten und sie nicht von einer | |
Einrichtung in die nächste stecken. Den 1.630 Familen, die wir betreuen, | |
hilft das. Aber das Problem ist natürlich viel größer. | |
Könnte Corona ein Weckruf sein, Kinderarmut endlich anzugehen? | |
Seit 19 Jahren gibt es Studien, die die Kinderarmut in Deutschland belegen. | |
Wenn man trotzdem akzeptiert, dass die Armutszahlen weiter steigen, dann | |
hat man scheinbar gar kein Interesse an dem Thema. Die Politik muss jetzt | |
reagieren, mit einer Grundsicherung für Kinder oder einem Bildungsgeld, | |
sonst macht sie sich unglaubwürdig. | |
22 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Digitale-Schule-waehrend-Corona/!5691005 | |
[2] /Mit-der-Pandemie-leben/!5691674 | |
[3] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/… | |
## AUTOREN | |
Mitsuo Iwamoto | |
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