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# taz.de -- Corona an Brennpunktschulen: „Sie tauchen ab“
> Das prekäre Milieu ist von Corona am härtesten betroffen. Wie haben
> Kinder an Brennpunktschulen diese Zeit erlebt? Eine Sozialarbeiterin
> erzählt.
Bild: Wie geht es Jugendlichen zu Hause, wenn die Schulen geschlossen sind?
Es sind Ferien, und ich habe frei. Aber wenn ein Schüler oder eine
Schülerin um Hilfe fragt, bin ich auf dem Handy erreichbar. Es gibt
Familien, an die ich denken muss, für die ich mir wünsche, dass die Schule
bald wieder losgeht. Ich hoffe, dass die Kinder auch jetzt in den Ferien
versorgt sind.
Während des Lockdowns ging es für uns Schulsozialarbeiter darum, zu gucken:
Wie erreichen wir alle Schülerinnen und Schüler? Wie stellen wir sicher,
dass es ihnen gut geht? Viele waren gar nicht zu erreichen, weder per Handy
noch per Mail. Wir sind eine Brennpunktschule in Berlin und haben generell
mit schuldistanzierten Jugendlichen zu tun. Wenn sie eine Chance sehen,
tauchen sie ab. Das waren bei uns etwa 60 Schüler von 600, 10 Prozent also.
Wir haben uns wie Detektive auf die Suche gemacht, die besten Freunde
angeschrieben: Hast du was von dem gehört? Hast du eine aktuelle Nummer? Da
waren wir recht erfolgreich. Und bei den Härtefällen sind wir mit dem
Fahrrad vorbeigefahren. Das waren vor allem Kinder aus sehr großen
Familien, oft aus dem osteuropäischen Raum. Die Eltern waren arbeiten, und
die großen Geschwister mussten auf die kleinen aufpassen. In diesen
Familien gab es auch keine digitalen Endgeräte, wie das so schön heißt, da
gab es einfach nichts.
Für manche war selbst der Zugang zu Seife schwierig. Wir haben versucht,
den Kindern Lernzeiten in der Schule einzuräumen – nach Hygienekonzept –
und sie individuell zu betreuen. Der Bedarf war aber so groß, dass die
Kapazitäten nicht reichten. Wir hatten große Sorgen wegen des Lockdowns.
Die Schüler vertrauen uns viel an, und wir wissen, dass es zu Hause nicht
immer leicht ist. Plötzlich waren alle zu Hause, auf engstem Raum, mit den
vielen Ängsten und Frustrationen der Eltern.
## Drei Hausbesuche am Tag
Meistens sind wir zu zweit zu den Jugendlichen gefahren, wir haben draußen
mit ihnen oder den Eltern geredet. Klar, ich hatte auch Angst, mich selbst
anzustecken. Aber einmal musste ich eine Jugendliche umarmen, weil sie so
geweint hat. Es war mir menschlich nicht möglich, auf den Abstand zu
achten.
In Hochzeiten haben wir drei Hausbesuche pro Tag gemacht, und das über
mehrere Wochen. Es war selten so, dass eine Kontaktaufnahme verwehrt wurde.
Generell haben Jugendliche ein großes Interesse, wenn man ihnen zuhört. Sie
sagen dann: Krass, ich bin euch so wichtig, dass ihr extra vorbeikommt!
Viele Eltern waren mit ihrer eigenen Belastung so im Tunnel, dass sie nicht
mehr auf dem Schirm hatten, dass die Schulpflicht weiterbesteht. Es steckt
auch eine Scheu dahinter, nach Hilfe zu fragen. Diese Barriere muss man den
Leuten nehmen.
Es gab Jugendliche, die angerufen haben, weil sie von zu Hause weggerannt
sind. Wir haben dann mit ihnen geredet, geschaut: Kann man den Konflikt mit
einem Gespräch klären, oder muss das Kind anderweitig untergebracht werden?
Wenn ja, müssen wir zum Jugendnotdienst, zum Mädchennotdienst, mit dem
Jugendamt kooperieren, den Eltern signalisieren: Dein Kind ist in
Sicherheit. Das hat gut funktioniert.
Corona ist in manchen Fällen ein letzter Tropfen im überlaufenden Fass.
Eine Jugendliche zum Beispiel hat Eltern, die schon seit Monaten in einem
Scheidungsprozess sind. Mit dem Lockdown ist das völlig eskaliert. Sie
fragte sich dann: Bin ich daran schuld? Jugendliche sind in solchen
Situationen erst mal verloren. Wenn die Eltern nicht können, brauchen die
Kinder ein Netzwerk, das sie auffängt.
Instagram haben wir neu entdeckt in der Coronazeit, wir haben dort einen
Kummerkasten eingerichtet, Notfallnummern gespeichert und versucht, den
Schülern zu zeigen, dass wir an sie denken. Auf Instagram haben wir auch
gesehen, welche Themen sie beschäftigen, Black Lives Matter zum Beispiel.
Ich bin für einen Jahrgang zuständig, das sind 120 Kinder. Es sind nicht
ganz so viele, mit denen ich übers Handy kommuniziere, aber schon so 45.
Klar, mit geregelten Arbeitszeiten funktioniert das alles nicht. Notfälle
kommen am ehesten am Wochenende.
Mein Job ist anstrengend, aber die Lockdownphase war extrahart. Meine
Arbeit lebt davon, dass ich die Jugendlichen am Schultor begrüße und sehe,
ob sie gut geschlafen haben, wie es ihnen geht. Dieses Feedback erahnen zu
müssen, anhand von Nachrichten oder der Rückmeldung der Lehrer, ist zum
Verzweifeln. Für Lehrer mag alles in Ordnung scheinen, aber viele
Jugendliche öffnen sich ihnen gegenüber nicht.
Bei mir ist das anders, weil sie von mir nicht bewertet werden. Ich nehme
sie so, wie sie sind: ob cool oder uncool, traurig oder mit krimineller
Akte. Und das merken sie. Ich finde, man kann nicht sagen: Ich will was von
dir wissen, aber selber gebe ich nichts preis. Es ist wichtig für Schüler,
zu sehen, okay, das ist nicht nur ein Job, sondern auch ein Mensch, und der
lässt mich nicht allein. Ist ein schmaler Grat.
Wer viel macht, kann auch viel falsch machen. Es kommt schon mal vor, dass
ich eine Schülerin oder einen Schüler zu nah an mich ranlasse. Momente, in
denen ich denke: Okay, ich nehme dich jetzt einfach mit. Das ist Blödsinn,
aber man erwischt sich dabei. Wenn Jugendliche von der Polizei und dem
Jugendamt aus ihren Familien rausgeholt werden und ich dabei bin, wenn
Eltern weinen und schreien und Jugendliche auch – das nimmt mich mit, das
ist natürlich mehr als eine Aktennotiz, die ich abhefte.
[1][Das Milieu], aus dem meine Schüler kommen, war sicher am härtesten von
den Coronamaßnahmen betroffen. [2][Da gibt es kaum Lernmaterialien,] oft
keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen – wie auch, wenn man zu siebt auf 65
Quadratmetern wohnt? Es gibt Familien, die haben kein Internet, die haben
ein Handy, das sie sich teilen mit einem Prepaid-Guthaben von monatlich 15
Euro.
Die Senatsverwaltung hat darauf reagiert und iPads bereitgestellt, die an
diese Familien verliehen werden sollten, allerdings sagen einige Eltern
dann: Bei mir springen sechs Kinder herum, ich unterschreibe bestimmt
keinen Haftungsausschluss für ein Gerät, das 600 Euro kostet. Und: Den
Leuten das Produkt in die Hand zu geben heißt noch lange nicht, dass sie
damit umgehen können.
Was während des Lockdowns besonders auffällig war: die verschiedenen
Lebenswelten. Wir, das pädagogische Personal, leben relativ privilegiert.
Lehrer können sich ihre Einfamilienhäuser in Kleinmachnow leisten. Sie
schauen aus ihrer Perspektive auf die Kinder und erwarten gewisse
Leistungen. Wenn ich in eine Familie komme, wo ich sehe, da ist keine
Struktur, keine Hygiene, und dann von einem Lehrer höre: Der Schüler riecht
nicht gut, kannst du dem sagen, er soll sich waschen?, da denke ich mir:
Wie soll er das machen? Wir haben teilweise Schüler, die in
Obdachlosenunterkünften leben. Das heißt, meine Aufgabe ist auch, Lehrer
und Lehrerinnen zu sensibilisieren.
## Mütter in der Entzugsklinik
Es kann zum Beispiel passieren, dass ein Schüler einen Tadel nach Hause
bringt, weil er schon wieder sein Sportzeug vergessen hat – dabei besitzt
er schlicht und ergreifend keins und schämt sich dafür. Ich habe
Jugendliche erlebt, die heulend vor mir saßen und gesagt haben: Ich musste
gestern meine Mutter in die Entzugsklinik bringen, und ich bin jetzt allein
zu Hause. Deren Leistung sehe ich natürlich in einem ganz anderen Kontext.
Das Faszinierende an Jugendlichen ist ihre Resilienz. Manche schaffen es,
zu sagen: Ich weiß, hier läuft nicht alles gut, aber ich liebe meine
Eltern, und sie lieben mich auf ihre Weise auch. Diese Jugendlichen
entwickeln daraus Kräfte, wollen es später für sich anders machen.
Eine Schüler zum Beispiel hat eine psychisch kranke Mutter, die mehrmals
stationär untergebracht war. Der Vater war mit den Kindern und Haustieren
allein, eine Schwester war schon fremd untergebracht. Der Junge hat es
geschafft, die Schule als Ort zu nutzen, an dem er sich ausleben kann. Er
hat an mehr Arbeitsgemeinschaften teilgenommen, als er müsste, auch an
solchen, die ihn nicht interessierten.
Natürlich bleibt einem der Weg nicht verwehrt – aber das Bewusstsein dafür
zu entwickeln schafft nicht jeder. Dieser Junge hat einen der besten
Abschlüsse gemacht, und ich hätte mir gewünscht, dass er aufs Gymnasium
geht, aber er macht erst mal eine Ausbildung, damit er was in der Hand hat.
Da ist auch ein riesiges Verantwortungsbewusstsein. Der Junge könnte zum
Jugendamt gehen und sagen: ich halte es zu Hause nicht mehr aus, ich will
woanders wohnen – aber dann würde dort vielleicht alles zusammenbrechen.
Wir unterschätzen das. In der Schule wird immer appelliert, engagiert euch,
aber manche sind zu Hause so engagiert, dass sie gar keine Kraft mehr
haben. So was taucht im Lebenslauf natürlich nicht auf.
## Ich liebe meinen Job
Ich bin sehr gespannt, wie es läuft, [3][wenn die Schule wieder losgeht],
wenn die Urlauber zurückkommen, die zum Beispiel ihre Familie in der Türkei
besucht haben. Man soll sich laut Senatsverwaltung zwei Wochen vor
Schulbeginn in Quarantäne begeben, aber ob sich da jeder dran halten wird?
Der Weg zur Normalität wird steinig, die Langzeitfolgen von Corona werden
uns sehr beschäftigen. Einige Familien sind zerrüttet, dazu kommt die
wirtschaftliche Lage von einigen Eltern. Und da, wo Ängste bei den Eltern
sind, verlagern sie sich auf die Kinder. [4][Dann ist auch ganz schnell
Gewalt im Spiel]. Die hat auf jeden Fall zugenommen.
Über sexuelle Gewalt, die am häufigsten innerhalb der Familien stattfindet,
haben wir kein Feedback bekommen. Es dauert, ehe Jugendliche darüber
sprechen, sie öffnen sich meistens erst, wenn sie nicht mehr abhängig vom
Elternhaus sind. Zu wissen, dass manche Jungen und Mädchen ihren Peinigern
ausgeliefert waren, ist extrem belastend. Und dann gibt es noch passive
Formen der Gewalt, wenn Kinder miterleben müssen, wie ein Elternteil,
meistens die Mutter, geschlagen oder missbraucht wird. Das wird uns nach
der Schulöffnung mit Sicherheit in vielen Gesprächen beschäftigen.
Ich liebe meinen Job, habe ich das schon gesagt? Ich weiß nicht, ob ich das
in 20 Jahren noch machen will, aber solange ich die mentale Stärke und den
Idealismus habe, bleibe ich dabei und bin bereit, mich nicht immer komplett
abzugrenzen. Und Jugendliche sind so toll, wie sich die Persönlichkeiten
entfalten, das ist jedes Mal großartig! Mein Jahrgang, den ich von der
siebten Klasse an begleitet habe, hat dieses Jahr Abschluss gemacht,
Corona-Abschluss. Ich konnte die Schüler und Schülerinnen nicht umarmen zum
Abschied, das ist tragisch, ganz furchtbar.
26 Jul 2020
## LINKS
[1] /Arche-Gruender-ueber-Kinderarmut/!5695573
[2] /Digitale-Schule-waehrend-Corona/!5691005
[3] /Karliczek-ueber-Schule-in-Corona-Zeiten/!5696670
[4] /Soziale-Auswirkungen-von-Corona/!5693532
## AUTOREN
Viktoria Morasch
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