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# taz.de -- Zehn Jahre Schulstrukturreform: „Wir müssen einiges ändern“
> Nina Stahr, Co-Vorsitzende der Berliner Grünen, über bessere Schulen und
> Chancengleichheit, Prioritäten und die Verbeamtungsdebatte.
Bild: Nina Stahr (im grünen Kleid) auf einer Landesdelegiertenkonferenz der Gr…
taz: Frau Stahr, im März steht Ihnen der nächste Grünen-Parteitag ins Haus.
Bildung spielt keine Rolle. Hat das gerade keine Priorität bei den Berliner
Grünen?
Nina Stahr: Bildung hat für uns immer Priorität. Wir haben zuletzt 2018
einen umfassenden Leitantrag zum Thema beschlossen. Da haben wir uns
aufgestellt und die Grundlinien unserer Bildungspolitik festgezogen. Und
die gelten. Auf dem letzten Parteitag haben wir dann ganz bewusst das Thema
Kinderarmut in den Blick genommen. Denn es gibt ganz viele Stellschrauben,
die zum Bildungserfolg von Kindern beitragen, da reicht es nicht, nur auf
die Institutionen Kita und Schule zu gucken.
Dass man möglichst früh anfangen muss, dass man früh in die Familien gehen
muss, ist ja keine wirklich neue Erkenntnis.
Umso erstaunlicher, dass wir in den Koalitionsverhandlungen 2016 und bis
jetzt so um das Familienfördergesetz kämpfen mussten.
Bis jetzt gibt es immer noch keine Gesetzesvorlage.
Wir drängen darauf, dass die vorgelegt wird. Denn wir müssen die Prävention
und die Familien viel stärker in den Blick nehmen. Da haben wir Grünen bei
den letzten Haushaltsverhandlungen auch schon einiges erreicht. Das
Flexi-Budget zum Beispiel: Damit stellen wir den Bezirken Geld zur
Verfügung, das sie flexibel da einsetzen können, wo es vor Ort nötig ist.
Oder dass es zukünftig in allen Bezirken Familienservicebüros geben soll,
wo Familien gebündelt alle ihre Amtsgeschäfte an einem Ort erledigen können
und Unterstützung bekommen. Das sind alles kleine Puzzleteile. Aber in der
Summe erleichtern sie den Alltag vieler Familien und stärken die Kinder und
Jugendlichen.
Warum hängt das Familienfördergesetz, das familienfreundliche Projekte und
Initiativen stärker vernetzen und fördern will, in der Koalition fest?
Die Bildungsverwaltung von Frau Scheeres [Senatorin Sandra Scheeres, SPD;
Anm. d. Red.] muss das umsetzen. Es ist wohl eine Frage der
Prioritätensetzung. Denn wie Sie sagen: Dass man früh in die Familien gehen
muss, ist ja keine neue Erkenntnis. Und da wäre das Familienfördergesetz
ein wichtiger Schritt, weil es konkret die Verteilung von Ressourcen
festschreibt und damit die Bezirke finanziell überhaupt erst in die Lage
versetzt, hier tätig zu werden.
Zurück zu den Institutionen: Zehn Jahre Schulstrukturreform in Berlin –
2010 wurden Hauptschule und Realschule zur Integrierten Sekundarschule
zusammengefasst – sind doch eigentlich ein guter Zeitpunkt, um mal zu
überlegen: Reicht das, um dem Ziel von inklusiver Bildung, das auch die
Grünen formuliert haben, ein Stück näher zu kommen?
Mir reicht es dann, wenn jedes Kind in Berlin einen Schulabschluss bekommt.
Das ist ja nicht so. Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache gehen häufiger
ohne Abschluss von der Schule als Deutsch-Muttersprachler. Und die Schulen
ohne Oberstufe, also die ohne Abi-Option, sind quasi die alten Hauptschulen
und werden von bildungsinteressierten Eltern kaum nachgefragt.
Es ist ein riesiges Problem, dass so viele Kinder aus unserem
Bildungssystem rausfallen. Wir fragen uns als Grüne: Woran hakt es
eigentlich? Wir sind im Vergleich der Bundesländer das Land, das mit am
meisten pro Schülerin und Schüler ausgibt. Und dennoch haben wir diese
hohen Quoten von Schülerinnen und Schülern, die ohne Abschluss die Schulen
verlassen. Das zeigt, wir müssen einiges ändern.
Da ändert sich seit Jahren nichts, die Quote schwankt immer um die zehn
Prozent. Im letzten Schuljahr waren es immerhin nur acht Prozent.
Im internationalen Vergleich wird deutlich: Die Länder, die hier
erfolgreich sind, sind die ohne ein gegliedertes Schulsystem. Langes,
gemeinsames Lernen scheint ein guter Weg zu sein.
Deshalb hat man ja auch die Gemeinschaftsschule in Berlin inzwischen als
Regelschule im Schulgesetz verankert und ihnen damit etwa feste
Einschulungsbereiche im Grundschulbereich zugewiesen.
Das ist auch ein längst überfälliger Schritt gewesen. Aber die Schulform
ist nicht alles. Der Ort, an dem ich geboren bin, bestimmt viel stärker,
was später aus mir wird.
Die letzte Pisa-Studie im Dezember hat gezeigt: Herkunft wird eher
wichtiger, Herkunft trennt. Und ein separierendes Schulsystem unterstützt
dieses Trennende.
Es kommt aber doch nicht drauf an, ob eine Schule Gymnasium oder
Sekundarschule heißt, sondern darauf, was in den Schulen passiert. Unser
Ziel ist, dass alle Schulformen alle Abschlüsse anbieten und allen Kindern,
die zu ihnen kommen, die beste Bildung zukommen zu lassen. Es gibt
Gymnasien, die alle Kinder mitnehmen und es gibt übernachgefragte
Sekundarschulen, die sehr selektieren. Aber es stimmt: In der Breite müssen
sich vor allem die Gymnasien ändern.
Sie zielen auf das Probejahr, das die Grünen abschaffen wollen.
Ja, dieser Druck schadet den Kindern. Dieser Umbruch, wenn man gerade den
Wechsel von der Grundschule hinter sich hat, das wirkt im Zweifel jahrelang
negativ nach. Wir erwarten von den Gymnasien, dass sie umdenken und die
Schülerinnen und Schüler, die sie haben, alle zu einem Abschluss führen.
Allerdings heißt das auch, dass man die Gymnasien entsprechend ausstatten
muss, sich um diese Kinder zu kümmern, sie mitzunehmen.
Klar kann man die Schulen besser machen, die Lehrkräfte schulen, die
Sozialarbeit stärken. Aber noch einmal: Das System an sich verstärkt doch
eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit.
Die Grundschule ist ja unsere kleine Gemeinschaftsschule. Deshalb wollen
wir Grünen sie weiter personell und finanziell stärken. Unser Ziel ist,
dass die sechs Jahre Grundschulzeit auch tatsächlich verbindlich sind. Ich
erlebe im Bekanntenkreis viele Eltern, die ihr Kind nach der vierten Klasse
fürs Gymnasium anmelden, weil sie Angst haben, nach der sechsten Klasse
keinen Platz an der Wunschschule mehr zu bekommen. Das ist doch das
Problem: Wir haben zu wenige Plätze an Oberschulen, die bei den Eltern
beliebt sind. Wenn ich höre, dass Drittklässler weinend nach Hause kommen,
weil sie keine eins oder zwei in der Deutscharbeit haben, dann frage ich
mich schon: Muss dieser Druck sein?
Aber müsste man nicht die schwachen Schulen stärker machen, statt die
beliebten auszubauen?
Wir müssen alle Schulen so aufstellen, dass sie zu nachgefragten Schulen
werden.
Wie macht man das?
Man muss dafür sorgen, dass die besten Lehrerinnen und Lehrer an die
Schulen gehen, die vor den größten Herausforderungen stehen, um vom Label
Problemschule weg zu kommen.
Das ist schwierig. Sie könnten sie ja nicht mal mit kleineren Klassen oder
weniger Unterrichtsverpflichtung locken, dafür gibt es schlicht kein
Personal.
An der Rütli-Schule hat es funktioniert. Da hat man eine Schule gedreht –
und ich frage mich, warum man das nicht auch hinbekommen sollte, bevor es
Schlagzeilen gibt.
Mal angenommen, das Bildungsressort bei den Abgeordnetenhauswahlen 2021
würde an die Grünen fallen …
Politik lebt von Inhalten und nicht von Spekulationen. Ich möchte, dass
hier die grüne Vision von dem Aufstiegsversprechen, das bislang in Berlin
nicht umgesetzt ist, endlich eingelöst wird. Da müssen wir bei den Basics
anfangen: Wie kann man die LehrerInnen entlasten? Wir haben zum Beispiel
den Vorschlag gemacht, Klausuren von Lehramtsstudierenden korrigieren zu
lassen. Das wurde aber sofort abgeblockt. Oder wie oft ich mich als
Lehrerin geärgert habe, wenn die Technik schon wieder nicht funktioniert.
Das kostet so viel unnötige Zeit. Natürlich kann nicht jeder Studierende
Abiklausuren korrigieren, aber wir müssen doch mal kreativ nachdenken und
neue Lösungen suchen – denn die bisherigen haben ja offensichtlich nicht
funktioniert. Arbeitsbedingungen verbessern, multiprofessionelle Teams,
mehr Teamarbeit – wir haben zahlreiche Vorschläge gemacht.
Muss man die Verbeamtungsdebatte in Berlin noch mal führen? Die SPD möchte
das gerne, die Linke nicht. Die Grünen?
Es gibt keine validen Zahlen darüber, warum Lehramtsabsolventinnen und
-absolventen die Stadt verlassen. Die hätte ich erst mal gerne. Wenn ich
mich mit Lehrerinnen und Lehrern unterhalte, sind oft die wichtigeren
Faktoren die Arbeitsbedingungen. Regnet es rein im Klassenraum, fällt mir
das Fenster auf den Kopf, wenn ich es öffne, wie ist die Atmosphäre an der
Schule. Die Verbeamtungsdebatte kann man dann führen, wenn alle anderen
Sachen nicht gezogen haben.
Sollte Berlin nach der Abschaffung der Hauptschulen auch das Gymnasium
abschaffen? Quasi eine Schulstrukturreform 2.0?
Mit dem Ergebnis, dass dann viele ihr Kind auf einer freien Schule
anmelden? Damit verstärkt man das elitäre, und nicht die Berliner Mischung,
die man an den Schulen viel mehr bräuchte. Unser Ziel ist und bleibt das
lange gemeinsame Lernen. Wenn alle Schulen alle Abschlüsse anbieten und
alle Kinder mitnehmen und zu einem Abschluss führen, gehen wir doch
automatisch den Weg zur Gemeinschaftsschule. Meine Vision ist, dass es
irgendwann völlig egal ist, auf welcher Schule ich mein Kind anmelde, weil
mein Kind an jeder Schule zu einem guten Abschluss gelangt.
16 Feb 2020
## AUTOREN
Anna Klöpper
## TAGS
Schulbau
Sandra Scheeres
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Schwerpunkt Coronavirus
Sandra Scheeres
Grüne Berlin
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