# taz.de -- Ex-Schulsenator Zöllner im Interview: „Die Schulreform war kein … | |
> Die Hauptschule war „eine separierende Katastrophe“, sagt Ex-Schulsenator | |
> Jürgen Zöllner, der diese Schulform vor 10 Jahren in Berlin abgeschafft | |
> hat. | |
Bild: Original nur mit Fliege: Der ehemalige Bildungssenator Jürgen Zöllner, … | |
taz: Herr Zöllner, reizt es Sie manchmal, die Stelle als Bildungssenator in | |
Berlin wieder anzutreten? | |
Jürgen Zöllner: Nein. Wenn Schluss ist, ist Schluss. Deshalb äußere ich | |
mich auch nicht mehr politisch zu aktuellen Angelegenheiten, außer zum | |
Wissenschaftsbetrieb. | |
Würden Sie nicht manchmal noch gerne …? | |
Einmal hat’s kurz gezuckt: Unter der aktuellen Koalition auf Bundesebene | |
hätte die große Chance bestanden, eines der zentralen Probleme des | |
deutschen Bildungssystems zu lösen. | |
Sie meinen den Föderalismus? | |
Nein! Ich schätze [1][den Föderalismus] grundsätzlich. Positive | |
Veränderungen in der Bildungspolitik sind stets von einem Bundesland | |
ausgegangen. Die Ganztagsschule zum Beispiel starteten wir damals in | |
Rheinland-Pfalz. Das Problem ist aber, dass es zwar einen Wettbewerb gibt, | |
aber keine gemeinsame Messlatte, die auch kontrolliert wird. Das hätte man | |
bei der Grundgesetzänderung zur Regelung der Zusammenarbeit von Bund und | |
Ländern nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Bildung | |
anpacken sollen. Man hätte gemeinsame Bildungsstandards und deren Kontrolle | |
vereinbaren können, ohne die Bildungshoheit der Länder aufzuheben. So hätte | |
man beim Vergleich der Ergebnisse dann auch feststellen können, ob man mit | |
dem bayerischen Ansatz besser fährt, mit dem Berliner oder dem hessischen. | |
Berlin hat vor zehn Jahren – Sie waren damals Bildungssenator – mit der | |
Schulstrukturreform versucht, ein integratives Schulsystem zu schaffen, das | |
zu mehr Chancengleichheit, mehr höheren Schulabschlüssen und weniger | |
Abbrüchen führt. Zehn Jahre später wissen wir, dass diese Ziele verfehlt | |
wurden. War das damals alles Murks? | |
Nein, ich habe damals zwar auch Fehler gemacht. Aber die | |
Schulstrukturreform zählt gewiss nicht dazu. Als ich 2006 nach Berlin kam, | |
war mir schnell klar, dass dieses Schulsystem strukturell Schüler*innen | |
abhängt. | |
Warum? | |
Die Hauptschulen mit nur zehn Prozent der Schüler*innen waren eine | |
separierende Katastrophe. Ich habe aber nie geglaubt, dass die | |
Schulstrukturreform allein die Schule in Berlin besser macht. Sie war aber | |
die Voraussetzung dafür, dass man gute Bildungspolitik machen kann. | |
Pisa-Forscher Jürgen Baumert nannte sie das Fundament und eine | |
„Meisterleistung“. In diesem Sinn war die Reform eine der großen Sachen, | |
die in Berlin gelungen sind. | |
Und wie macht man die? | |
Der Erfolg von Schule ist abhängig von der Qualität des Unterrichts und der | |
Motivation der Lehrer*innen. Das ist der Kernpunkt, das wissen wir nicht | |
erst seit der Hattie-Studie (wegweisende Studie zu Bedingungen für | |
Lernerfolg von 2009, d. Red.). Schulstruktur allein sorgt nicht für | |
Chancengleichheit. Die Unterrichtsqualität entscheidet, und sie fußt auf | |
guter Lehrerausbildung, wirklicher Professionalität der Lehrkräfte und | |
breiter gesellschaftlicher Wertschätzung ihrer Arbeit. | |
Die Sekundarschulen ohne Oberstufen sind doch die neuen Hauptschulen. | |
Das Problem der Sekundarschulen ohne Oberstufe habe ich seinerzeit gesehen | |
und deshalb gesagt, dass diese Schulen verbindliche Vereinbarungen mit | |
berufsbildenden Schulen oder Gymnasien eingehen sollen, um auch eine | |
Oberstufe anbieten zu können. Ich weiß nicht, ob man das mit dem nötigen | |
Nachdruck verfolgt hat. Die Schulstruktur in Berlin ist aber heute kein | |
Thema, über das noch gestritten wird. | |
Wäre es besser gewesen, der Linken zu folgen und die Gymnasien gleich ganz | |
abzuschaffen? Mit der Option, alle Sekundarschulen mit Oberstufen | |
ausstatten zu können | |
Auf keinen Fall. Der Erhalt der Gymnasien ist konstitutiv, nicht zuletzt | |
auch für den Schulfrieden, wenn der Elternwille kein Lippenbekenntnis sein | |
soll. Es gibt Eltern, die ihre Kinder erfolgreicher in einer homogeneren | |
Lerngruppe sehen. | |
Aber es war das Ziel der Strukturreform, diese Homogenität aufzulösen. | |
Ich halte nichts von Zwangsbeglückung. Ich habe sozialdemokratische | |
Bildungspolitik stets so verstanden, dass es das Wichtigste ist, möglichst | |
alle optimal zu fördern. Die Sekundarschulen bekommen mehr Mittel, um | |
besondere Förderung anzubieten. Ich muss [2][den Lernschwächeren mehr | |
Hilfe] zukommen lassen, aber ich werde die Gesellschaft nur voranbringen, | |
wenn diejenigen, die besonders begabt sind, eben auch gefördert und nicht | |
gebremst werden. Und wenn das in einer homogenen Gruppe besser möglich ist, | |
dann muss es diese geben. | |
Ist es in homogenen Gruppen leichter möglich? | |
Wir haben kein separierendes Schulsystem, sondern ein Kernangebot: die | |
Grundschule als Primarschule und die Sekundarschule als weiterführende | |
Schule. Und dann gibt es zusätzlich das Gymnasium als zweite Säule, | |
teilweise grundständig (ab Klasse 5 statt ab Klasse 7, d. Red.) und mit | |
Schnellläufern. Dass es auch Sekundarschulen gibt, die Spitzenförderung | |
machen, ist ja kein Widerspruch, das ist doch optimal. Aber auch diese | |
differenzieren intern. Denn Ungleiches gleich zu behandeln ist nicht | |
Gerechtigkeit. Wir würden unsere Nationalmannschaften auch nicht so | |
zusammensetzen, dass sie die Qualifikation unserer gesamten Bevölkerung im | |
sportlichen Können widerspiegeln. | |
Warum werden dann die Bildungserfolge nicht besser? | |
Ich habe im Anschluss an die Strukturreform ein Qualitätspaket mit über 30 | |
Punkten erarbeiten lassen und auch begonnen, das umzusetzen. Da ging es | |
etwa um Anerkennungskultur, Transparenz, Unterstützung für Lehrkräfte und | |
Schulen. Ich habe zum Beispiel eine bessere Lehrkräfteausstattung für | |
Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern eingeführt, deren Familien Hartz | |
IV bekommen. Wir sehen aber, dass Schulen unter sehr ähnlichen | |
Voraussetzungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Hier müssen | |
wir die Ursachen transparent machen und den Schulen nachdrücklich helfen, | |
besser zu werden. | |
Helfen mehr Lehrkräfte? | |
Manchmal hilft das leider auch nicht. Man muss genau analysieren, was die | |
eine Schule anders macht als die andere. Hat die Schulaufsicht nicht | |
gesehen, dass der Schulleiter nicht führt oder das Kollegium kein Team ist, | |
dass Kollegen*innen nicht wissen wollen, was in der Parallelklasse besser | |
gemacht wird? Jeder und jede von diesen ist verantwortlich. | |
Der Fachkräftemangel ist eine Scheindebatte? | |
Die reine Ausstattungsdiskussion ist ein Trugschluss. Es gibt kein | |
Bundesland, das mehr Geld pro Schüler ausgibt als Berlin. Die Ausstattung | |
mancher Schulen in Berlin mit einer schwierigen Schülerschaft liegt bei 200 | |
Prozent: Sie haben doppelt so viele Lehrerstunden, wie sie laut | |
Stundentafel unterrichten müssen. Und trotzdem fällt immens Unterricht aus. | |
Wie kann das sein? Wovon ist man da überfordert? Fehlt es an Aus- und | |
Weiterbildung der Lehrkräfte, an Motivation oder an der Offenheit, sich | |
auch nur mal auszutauschen, warum es bei dem einen besser läuft als bei dem | |
anderen? Schule braucht motivierte pädagogische Profis, die | |
methodisch-didaktisch guten Unterricht geben – weil sie ein echtes | |
Interesse am Schulerfolg der ihnen anvertrauten Kinder haben. | |
Mittlerweile sind die Schulen froh, wenn sie überhaupt Lehrer bekommen. Auf | |
deren Qualifikation können sie gar nicht mehr schauen. | |
Das ist sicher ein Problem. Das explosionsartige Bevölkerungswachstum der | |
Stadt hat ja erst so um 2012 begonnen. Trotzdem haben wir vorher schon die | |
Zahl der Referendarstellen spürbar erhöht, weil ich gesehen habe, dass da | |
etwas kommt. Wir haben in den bayerischen Studienseminaren um | |
Absolvent*innen geworben. Jetzt ist der Lehrermangel ein bundesweites | |
Problem, da hilft das auch nicht mehr. Dazu kommt die Frage der | |
Verbeamtung, einer der großen Fehler, die ich gemacht habe. | |
Inwiefern? | |
Ich wollte es, und hätte gegenüber dem damaligen Finanzsenator Nußbaum und | |
Klaus Wowereit lauter und öffentlich darauf bestehen müssen, dass wir | |
Lehrkräfte wieder verbeamten. Dass Berlin das nicht tut, erschwert die | |
heutige Situation. | |
Was sagen Sie zu den Quereinsteigern? | |
Das ist zumindest berufswissenschaftlich nicht ideal, aber auch eine | |
Chance, denn viele bringen Erfahrungen aus anderen Lebenswelten in die | |
Schule ein. Wir sind heute [3][auf die Quereinsteiger angewiesen]. Alle, | |
die sich wirklich anstrengen, müssen das Gefühl haben, dass das auch | |
wertgeschätzt wird. Und die anderen müssen ertragen, dass nach einer | |
Ursache gesucht und dann unterstützt und entwickelt wird. | |
28 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Alke Wierth | |
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